Bochumer Rechtsanwältinnen auf Delegationsreise in Camp Mexmûr

Im März besuchten die Bochumer Rechtsanwältinnen Besra Güler und Heike Geisweid das seit mehr als neun Monaten einem Embargo unterliegende Flüchtlingscamp Mexmûr in Südkurdistan. Nun wurde ein 32-seitiger Bericht über die Delegationsreise veröffentlicht.

Seit Monaten ist die Weltöffentlichkeit mit der Corona-Krise beschäftigt. Wir möchten die Aufmerksamkeit auf die in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit kaum wahrgenommene Situation von ca. 13.000 kurdischen Flüchtlingen in dem Flüchtlingscamp Machmur (Mexmûr) im Nordirak lenken. Seit dem 17. Juli 2019 besteht gegenüber dem Flüchtlingscamp Machmur ein Embargo seitens der kurdischen Regionalregierung (KRG). Unsere Delegation (Rechtsanwältinnen Besra Güler und Heike Geisweid, die beide in der Bundesrepublik Deutschland im Migrationsrecht arbeiten und der Dolmetscher Faruk Celik) besuchte vom 5. März bis zum 10. März 2020 das Flüchtlingscamp und führte Gespräche mit verschiedenen Kommissionen und Räten der Selbstverwaltung des Camps.

Die Bewohner*innen des Camps haben in den vergangenen neun Monaten alle nur erdenklichem Wege bestritten und Gespräche geführt, um eine Aufhebung des Embargos zu erreichen, jedoch ohne Erfolg. In mehreren Erklärungen haben die Bewohner*innen die KRG aufgefordert, das Embargo aufzuheben. Auch an den UNHCR und die irakische Zentralregierung wurde appelliert, Einfluss auf die KRG auszuüben.

Keine medizinische Versorgung in Erbil (Hewlêr)

Aufgrund des Embargos können kranke Camp-Bewohner*innen nicht mehr nach Erbil zur medizinischen Behandlung gehen, zwei Frauen verloren ihre Kinder aufgrund der fehlenden medizinischen Versorgung. Bewohner*innen können außerhalb des Camps nicht mehr arbeiten und haben kein Einkommen. Viele Bewohnerinnen und Bewohner gingen zuvor einer Erwerbstätigkeit in Erbil nach oder betrieben dort Geschäfte. Das so erzielte Einkommen stellte das Überleben der Bewohner*innen bisher sicher. Im Camp selbst gibt es keine bezahlten Arbeitsmöglichkeiten. Die Bewohner*innen können ihren Lebensbedarf nicht mehr sicherstellen, Einkäufe erfolgten bisher über Erbil. Erforderliche Reparaturen an Brunnen können nicht durchgeführt werden, da diese im Gebiet der KRG liegen, so dass die Wasserversorgung des Camps gefährdet ist. Studierende, die die Universität in Erbil besuchen, können nicht mehr ohne Einschränkungen in ihrer Meinungs-, und Versammlungsfreiheit an den Vorlesungen teilnehmen.

Bedrohung durch Türkei und IS

Das Camp ist zudem existenziell durch Angriffe der Türkei aus der Luft und des IS bedroht. Am 18. Juli 2019 wurde das Camp von der türkischen Luftwaffe bombardiert, zwei Personen wurden verletzt. Am 2. Februar 2020 griff eine Gruppe des IS Bewohner des Camps an, die in unmittelbarer Nähe ihre Schafe gehütet hatten, drei Hirten wurden verletzt. Am 15. April 2020 erfolgte erneut ein Angriff der Türkei, drei Frauen wurden durch Drohnen getötet, mehrere Personen verletzt.

Das seitens der KRG ausgesprochene Embargo wurde zunächst als Reaktion auf die Tötung eines Agenten des türkischen Geheimdienst MIT am 17. Juli 2019 in einem Restaurant in Erbil begründet. Die Tat wurde Sympathisant*innen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und damit den Bewohner*innen des Camps zugerechnet. Zudem wird seitens der türkischen Regierung das Camp Machmur seit längerem als „Militärcamp“ und als Rückzugsraum der PKK bezeichnet und seine Schließung gefordert. Im Schulterschluss mit der türkischen Regierung reagierte die KRG nach der Tötung des MIT-Agenten umgehend. Am Tag nach dessen Tod erfolgten Angriffe der türkischen Luftwaffe auf das Camp, am Tag darauf schloss die KRG den Checkpoint nach Erbil für Bewohner*innen des Camps. Das Embargo beinhaltet nicht lediglich ein Einreiseverbot nach Erbil, sondern Einreiseverbote in das gesamte Gebiet der KRG, so dass das Camp faktisch eingeschlossen ist.

Keine militärischen Einrichtungen im Camp

Obwohl in der Zwischenzeit seitens des Gerichts in Erbil zwei Täter für die Tötung des MIT-Agenten zum Tode verurteilt wurden – die in keiner Beziehung zum Camp standen – beharrt die KRG auf dem Embargo, nunmehr beruhend auf dem Behauptungen der türkischen Regierung. Die Bewohner*innen bestreiten die Vorwürfe, ein „Militärcamp“ beziehungsweise Rückzugsort der PKK zu sein vehement. Die Delegation konnte sich einen Eindruck davon verschaffen, dass im Camp lediglich Zivilist*innen leben, es gibt keine militärischen Einrichtungen.

Die Auswirkungen des Embargos auf das Camp sind existenziell. 2000 Menschen haben ihre Arbeit in Erbil verloren. Sie arbeiteten auf dem Bau, im Einzelhandel und Reinigungssektor. Ihre Läden, Werkzeuge, Fahrzeuge und Waren sind beschlagnahmt worden. Damit ist ihr Einkommen seit neun Monaten weggefallen, erspartes Geld ist kaum vorhanden oder wurde bereits aufgebraucht. Von dem Erwirtschafteten wurde der Lebensunterhalt für die ca. 13.000 Bewohner*innen sichergestellt.

Embargo trifft besonders Kranke

Das Embargo betrifft insbesondere kranke Menschen, die auf eine ärztliche Behandlung außerhalb des Camps angewiesen sind. Patient*innen, die im Camp medizinisch nicht angemessen versorgt werden können, werden an Krankenhäuser in Erbil überwiesen. Im Camp selbst gibt es kein Krankenhaus, lediglich eine Krankenstation, die von der UNO errichtet wurde und an sie angebunden ist. Medizinische Eingriffe können hier nicht vorgenommen werden, es gibt kaum Apparaturen für Untersuchungen und Laborarbeiten, die Ausstattung mit Medikamenten ist katastrophal, ebenso der Zustand des Gebäudes.

Um diese Defizite wenigstens etwas auffangen zu können, errichteten die Camp-Bewohner*innen 2018 in Selbstverwaltung eine zusätzliche Krankenstation, wo jedoch auch keine operativen Eingriffe oder speziellen Untersuchungen durchgeführt werden können. Im Camp gibt es mehrere Schwerkranke, die eine dringende Behandlung benötigen, wie 16 Krebspatient*innen, 310 Bluthochdruckerkrankungen, 168 Diabetiker*innen, 143 Herzerkrankungen, 82 Nierenleiden, 60 Asthmapatient*innen, 20 Epileptiker*innen, elf an Tbc Erkrankte etc. Ihre Situation und die der Notfallpatient*innen verschlechtert sich durch das Embargo von Tag zu Tag. Diejenigen, die eine ärztliche Behandlung benötigen, sind gezwungen, sich neben einer Überweisung der Krankenstation ein zusätzliches Dokument vom Landrat des Kreises Machmur ausstellen zu lassen, aus dem hervorgeht, dass diese Person ein Krankenhaus in Erbil besuchen muss. Doch trotz Überweisungen und Dokumenten des Landrates wird vielen Menschen das Passieren des Checkpoints nach Erbil willkürlich von den Peschmerga verweigert.

Bildungsbereich stark betroffen

Auch der Bildungsbereich ist stark durch das Embargo betroffen. Die Arbeitslosigkeit der Eltern hat Einfluss auf die Schulbildung der Kinder. Eltern können das Schulmaterial nicht mehr finanzieren, zudem fehlt den Schüler*innen zunehmend die Motivation, die Schule zu besuchen. Das Camp erhält auch keine Lehrmittel mehr, da diese gesammelt an die Stadt Machmur geschickt werden, aber von der Verwaltung Machmur nicht an das Camp weitergeleitet werden. Es gibt zudem circa 100 Studierende aus Machmur, die an der Universität in Erbil eingeschrieben sind. Zu Beginn durfte keiner der Studierenden den Checkpoint passieren. Nur nach großen Anstrengung des Volksrates des Camps mit Unterstützung von Menschenrechtsorganisationen und Parteien, sowie dem Internationalen Roten Kreuz konnte erreicht werden, dass zumindest einige Studierende nach Erbil und damit zur Universität fahren durften. Hierzu mussten sie aber jeweils eine Erklärung unterschreiben, in der die Studierenden auf ihre Meinungs- und Versammlungsrechte verzichteten.

Eine weitere Schikane war die verspätete Zusendung von Immatrikulationsunterlagen. Die Briefe erreichten Machmur am 14.11.2019, die Einschreibungsfrist für die Universität endete aber bereits am 11.11.2019. Die Bewegungsfreiheit der Bewohner*innen ist auf das Gebiet der irakischen Zentralregierung beschränkt. Die Einreise in das Gebiet des KRG ist nicht erlaubt. Bis 2017 gehörte der Landkreis Machmur noch zum KRG-Gebiet, nach dem Unabhängigkeitsreferendum 2017 fiel das Gebiet Machmur wieder an die irakische Zentralregierung. Sämtliche wirtschaftlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen der Camp-Bewohner*innen liegen aber im kurdischen Gebiet.

Camp auf sich allein gestellt

Was die Bedürfnisse wie medizinische Versorgung, Nahrungsmittel, Bildung und Sicherheit betrifft, ist das Camp auf sich allein gestellt. Für ihre Forderung nach Aufhebung des Embargos haben die Bewohner*innen sich bislang im Irak kein Gehör verschaffen können. Sie können nicht aus dem Camp ausreisen und ihr Anliegen thematisieren. Sie finden im Nordirak keine Anwälten*innen, die sich bereit erklären, ihr Anliegen anzunehmen und ihre Recht als Flüchtlinge einzufordern.

Sie bitten um Berichterstattung in der Presse, in der europäischen Öffentlichkeit und die Inkenntnissetzung von politischen Entscheidungensträger*innen über die Situation des Flüchtlingscamps. Sie fordern die politischen Entscheidungsträger*innen auf, für die Aufhebung des Embargos auf die KRG Einfluss zu nehmen. Sie fordern Menschenrechtsorganisationen auf, sich für das Anliegen der Bewohner*innen einzusetzen und gegebenfalls nach Möglichkeit das Camp aufzusuchen und sich ein Bild von der Lage vor Ort zu machen.


*Heike Geisweid und Besra Güler sind Rechtsanwältinnen in Bochum und Mitglieder des Vereins für Demokratie und internationales Recht MAF-DAD e.V. mit Sitz in Köln