Durch die Corona-Infektionen in Südkurdistan herrscht Beunruhigung im Flüchtlingslager Mexmûr. Nicht zuletzt, seitdem vor drei Wochen das erste Opfer im Autonomiegebiet an den Folgen der neuartigen Lungenkrankheit Covid-19 gestorben ist. Sollte das Virus das Camp im Südwesten von Hewlêr (Erbil) erreichen, sind ihm tausende Menschen schutzlos ausgeliefert. Denn aufgrund eines umfassenden Embargos werden die rund zwölftausend Bewohner*innen seit vergangenem Juli von der Außenwelt abgeschottet. Die medizinische Versorgung kann bereits länger nicht mehr gewährleistet werden, mittlerweile herrscht auch Lebensmittel- und Trinkwasserknappheit. Geeignete Präventions- und Schutzmaßnahmen, um eine Einschleppung des Erregers zu verhindern, werden nur in mäßigem Umfang durchgeführt, da es an Schutzausrüstung, Reinigungs- und Desinfektionsmitteln fehlt. Lieferungen von Menschenrechtsorganisationen – humanitäre Hilfsmittel und lebensrettendes medizinisches Material – um die Engpässe im Gesundheitssystem von Mexmûr während der Covid-19-Pandemie zu bekämpfen, werden nicht durchgelassen. Ebenso darf niemand das Camp verlassen.
Offiziell unter UN-Schutz
Zwar steht Mexmûr offiziell unter dem Schutz und der Kontrolle des UNHCR. Die Aufhebung der durch die südkurdische Regierungspartei PDK nach dem tödlichen Angriff auf einen leitenden Funktionär des türkischen Geheimdienst MIT am 17. Juli 2019 in Hewlêr verhängte Blockade wurde bislang aber nicht erwirkt. Die Bewohner*innen sind einer Kollektivbestrafung ausgesetzt, obwohl keine Belege und Beweise über eine Beteiligung eines oder mehrerer Menschen aus Mexmûr an der Tötung des türkischen Diplomaten vorliegen.
In Mexmûr leben Menschen, die in den 1990er Jahren aufgrund der Repression des türkischen Staates gezwungen waren, ihre Dörfer in der Botan-Region in Nordkurdistan zu verlassen. Nach einer mehrjährigen Odyssee und Aufenthalten in verschiedenen Camps haben sie sich 1998 am Rand der Wüste niedergelassen. Heute ist Mexmûr eine Kleinstadt, die trotz Armut, stetiger Bedrohung und Angriffen ein Ort des Friedens und der kollektiven Selbstbestimmung ist.
Wir konnten mit Neda Muhammed Ahmed aus dem Komitee für Außenbeziehungen in Mexmûr über die derzeitige Lage vor Ort sprechen. Ahmed warnt: „Wenn sich das Coronavirus hier ausbreitet, droht eine humanitäre Katastrophe.“ In dem Camp leben viele ältere Menschen über 60 Jahre und chronisch Kranke. Sie gehören damit zur Corona-Risikogruppe.
Neda Muhammed Ahmed
Psychischen Folgen der Sanktionen verschlimmern sich
„Seit neun Monaten bemühen wir uns intensiv um eine Aufhebung des Embargos – bisher jedoch ohne Erfolg. Wir haben zahlreiche diplomatische Gespräche mit Vertretern politischer Parteien und Zivilgesellschaftsorganisationen geführt. Zweimal trafen wir sogar den Gouverneur von Hewlêr. Aber beide Male gelang es uns weder, die juristischen Hintergründe zu der Blockade Mexmûrs zu erfahren, noch konnten wir erwirken, dass sie aufgehoben wird“, erklärt Ahmed und kommt auf einen wichtigen Punkt zu sprechen. Die sozialen und psychischen Folgen der Sanktionen waren bereits vor dem Ausbruch der Corona-Epidemie verheerend für die Menschen in Mexmûr, sagt sie. Mit der Ausbreitung des Virus seien die Auswirkungen des Embargos nun noch weitreichender.
„Die Bewohnerinnen und Bewohner sind zutiefst verunsichert. Ihnen wurde von den Vereinten Nationen bereits in den 90ern der Flüchtlingsstatus zugesprochen, allerdings leistet der UNHCR dem Lager seit Jahren keine Hilfe mehr. Wir haben humanitäre Hilfseinrichtungen kontaktiert und um Reinigungsmittel sowie Medikamente gebeten, die Lieferungen werden uns jedoch nicht übergeben. Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften, die sich ein Bild von unserer Situation machen wollen, wird der Zutritt ins Camp verwehrt. Alle nationalen und internationalen Einrichtungen, mit denen wir in Kontakt stehen, sogar die UNO, sind sich einig darüber, dass das uns auferlegte Embargo unrechtmäßig ist. Auch Human Rights Watch bezeichnet es als willkürlich und forderte die Autonomieregierung auf, die bestehenden Beschränkungen aufzuheben. Dennoch passiert nichts“, kritisiert Ahmed.
Dr. Ünver: Medikamentenvorräte aufgebraucht
Der Arzt Muhammed Ünver macht darauf aufmerksam, dass selbst dem medizinischen Personal untersagt wird, das Camp zu verlassen oder zu betreten. „Die Medikamentenvorräte des Krankenhauses sind schon länger aufgebraucht, neue dürfen aber nicht beschafft werden. Wir versuchen uns mit beschränkten Mitteln von dem von Covid-19 ausgehenden Risiko zu schützen. Wir haben einen Krisenrat einberufen, in dem alle Einrichtungen und Institutionen von Mexmûr an den Entscheidungen beteiligt sind. Als eine von vielen Maßnahmen wurden bereits vor Wochen die Schulen, Moscheen, Kaffeehäuser, Spielhallen und ähnliche öffentlich zugängliche Gebäude geschlossen. Wir haben eine provisorische Quarantänestation eingerichtet, in der wir Personen, die mit einer Sondergenehmigung das Camp verlassen und/oder betreten dürfen, für 14 Tage untergebracht werden. Im Moment werden dort etwa 70 Personen isoliert, Symptome zeigten sie bisher nicht.“
Muhammed Ünver
Ünver kritisiert, dass die in der Autonomieregion Kurdistan gegen die Ausbreitung der Corona-Pandemie getroffenen Maßnahmen das Camp Mexmûr außer Betracht lassen. „Wir werden einfach nicht berücksichtigt, als existierten wir überhaupt nicht. Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie bekommt das Embargo eine neue Dimension. Es mangelt an allen notwendigen Mitteln, vor allem lebenserhaltenden Medizinprodukten und Desinfektionsmitteln. Wir kommen schon an kommerzielle Reinigungsmittel nicht mehr ran.“
Appell an PDK-Regierung und humanitäre Einrichtungen
Der Mediziner fordert die unverzügliche Aufhebung der Blockade über Mexmûr und Medikamentenlieferungen. Es drohe ein unkontrollierbarer Ausbruch des Coronavirus Sars-CoV-2 mit dramatischen Folgen, der ohne Hilfe nicht zu bewältigen sei. „Deshalb muss das Embargo beendet werden. Wir rufen internationale Hilfsorganisationen und alle, die sich für Menschenrechte einsetzen auf, Camp Mexmûr humanitäre und medizinische Hilfsmittel zu liefern. Ohne Unterstützung, die wir jetzt benötigen, werden wir gegen das Coronavirus nicht ankommen.“