Das südkurdische Flüchtlingslager Mexmûr, in dem 12.000 Menschen leben, unterliegt seit 18 Monaten einem inoffiziellem Embargo – trotz grassierendem Coronavirus. Es gibt zwar Gesundheitsbedienstete, aber keine Hilfsmittel. Angefangen bei Einmalhandschuhen bis hin zu Atemschutzmasken, Sauerstoffgeräten und Medikamente fehlt es an allem. Kranke dürfen das Lager zur medizinischen Behandlung nicht verlassen und solche, die sich bereits außerhalb des Camps aufhalten, können nicht zurück.
Mindestens 93 Menschen im Mexmûr haben sich bereits mit dem Coronavirus infiziert, sechs Menschen sind an dieser Infektion gestorben. Es gibt fast tausend Patienten mit chronischen Erkrankungen, die kontinuierlich Medikamente einnehmen müssen. Zu den 26 Krebskranken und 60 Asthmapatienten kommen 35 gelähmte und bettlägerige Patienten hinzu, die Pflege benötigen, sowie 23 Einwohner mit Autismus und Downsyndrom. Weder die südkurdische PDK, noch die irakische Zentralregierung oder die Vereinten Nationen haben bisher eine offizielle Begründung für das Embargo gegen Mexmûr geliefert. Ismail Ayaz, Sprecher des Gesundheitskomitees im dem Camp, stellt eine düstere Prognose auf: „Für uns ist das Embargo gefährlicher als die Pandemie“.
Ismail Ayaz
Die weltweite Ausbreitung von Covid-19 wurde am 11. März 2020 von der WHO zu einer Pandemie erklärt. Der erste Infektionsfall in Südkurdistan war bereits drei Tage zuvor bekannt. So dauerte es nicht mehr lange, bis das Virus seinen Weg ins Flüchtlingslager Mexmûr fand. Im Rahmen ihrer eigenen Mittel haben die Bewohner recht früh Vorsichtsmaßnahmen getroffen und das Camp unter Quarantäne gestellt. „Zunächst wurde der Ein- und Austritt aus dem Lager für 45 Tage verboten. Dann wurde diese Frist um weitere vier Monate verlängert. Zwar haben wir in Zusammenarbeit mit den Bediensteten aus der Gesundheitsversorgung harte Maßnahmen gegen die Pandemie ergriffen und einen regelrechten Kampf gegen das Virus geführt”, sagt Ayaz. Aber ohne medizinische Ausrüstung sei das Gesundheitskomitee schnell an seine Grenzen gestoßen.
Lager steht unter Quarantäne
„Wir waren inmitten der Widrigkeiten durch das Fehlen jeglicher Möglichkeiten und dem Embargo mit der Pandemie konfrontiert. Die Kombination aus Corona und den Bedingungen der Blockade hat die Last auf uns sehr erhöht. Leider haben wir keine medizinischen Möglichkeiten, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern.” Ayaz bemängelt, dass weder die Regierungen in Hewlêr und Bagdad noch die UN bisher ihrer Verantwortung für das Flüchtlingslager Mexmûr nachgekommen sind. „Die Menschen in Mexmûr sind seit 27 Jahren als Flüchtlinge hier. Trotzdem wird ihre Existenz vollständig ignoriert“, sagt Ayaz. Die einzige Forderung, die die Bevölkerung des Camps stellt, sei die moralische und ethische Verantwortung der zuständigen Regierungen und Organisationen.
Gesundheitsbedienstete mit Corona infiziert
Laut Ayaz sei auch ein erheblicher Teil der Beschäftigten aus dem Gesundheitswesen in Mexmûr am Coronavirus erkrankt. „Bei einigen unter ihnen war der Verlauf sehr ernst. Sie wurden medizinisch behandelt und es geht ihnen wieder gut.” Aufgrund der bisherigen Pandemie-Erfahrungen sei daher beschlossen worden, die Quarantäne für das gesamte Lager um sechs Monate zu verlängern. „Alle unsere Kollegen im Gesundheitsbereich haben in diesen Tagen große Verantwortung gezeigt. Sie gaben in Zeiten, in denen jeder aus Angst vor Corona lieber die Flucht ergreifen und sich in Sicherheit bringen würde, ihr Bestes, und brachten sogar ihr eigenes Leben in Gefahr. Sie haben rund um die Uhr mit Herz und Seele gegen die Pandemie gekämpft.”
Wir kämpfen hier mit unserer Mittellosigkeit
Ayaz fasst die Bedürfnisse im Hinblick auf die Gesundheitsversorgung im Flüchtlingslager Mexmûr wie folgt zusammen: „Unsere Möglichkeiten sind nahe dem Nullpunkt. Wir kämpfen mit unserer Mittellosigkeit. Die Möglichkeiten der Gesundheitsbediensteten, sich zu schützen, sind nahezu erschöpft. Wir brauchen Handschuhe, Mund-Nasen-Masken, Desinfektionsmittel, Medikamente, medizinischen Alkohol, medizinische Brillen, Schutzanzüge und Hygieneartikel. Wir brauchen vor allem auch Medikamente und technische Ausrüstung, die in der Behandlung von Covid-19 zum Einsatz kommen.”
Wir benötigen alles und haben nichts
Ayaz berichtet, dass ein Gesundheitszentrum für Coronapatienten im Camp eröffnet wurde. Allerdings gäbe es dort nicht einmal eine Sauerstoffflasche oder ein Beatmungsgerät. Alles, was für die Versorgung eines Infizierten in einem Krankenhaus notwendig wäre, fehlt und wird bitter benötigt. „Aber wir stehen eben unter einem Embargo und haben daher keinen Zugang zu Gesundheitsgütern und medizinischen Geräten. Es gibt für uns nicht einmal einen Ansprechpartner für Probleme dieser Art.”
Ein Arzt für 12.000 Menschen
Zwar gibt es in Mexmûr ein von der Regierung betriebenes Krankenhaus, von einem typischen Ablauf könne aber nicht die Rede sein. „Vier Tage die Woche ist dort ein einziger Arzt tätig, allerdings nicht immer. Es liegt in der Initiative des Arztes, wie oft er kommt. Einige Wochen kommt er nur an zwei Tagen, andere wiederum an drei Tagen. So ist das bei staatlichen Krankenhäusern eben”, sagt Ayaz. Auch die dortige Belegschaft sei nicht daran interessiert, Verantwortung zu übernehmen.
Die UN und die Regierung sind untätig
Ein Appell des Camps an den Gesundheitsminister der südkurdischen Autonomieregion sei im Sande verlaufen, fügt Ayaz an. „Es liegt in der Pflicht des Gesundheitsministeriums und der Vereinten Nationen, sich mit der medizinischen Versorgung der Geflüchteten in Mexmûr zu befassen. Obwohl wir beide Seiten informiert und sie eingeladen haben, sich hier bei uns vor Ort selbst ein Bild zu machen, sind sie ihrer Verantwortung uns gegenüber nicht nachgekommen. Deshalb konnten wir unseren Mitarbeitern im Gesundheitswesen und den Menschen im Lager keine zufriedenstellenden Bedingungen bieten und sie auch nicht angemessen gegen die Pandemie schützen. Aus diesem Grund leidet das Gesundheitspersonal Mexmûrs unter schwerer Erschöpfung.”
Seit 18 Monaten unter Embargo
Vom Embargo ist vor allem der Gesundheitsbereich in Mexmûr negativ betroffen. Dabei kennen die Bewohner nicht einmal den Grund für die Blockade. Weder die Autonomieregion noch die Vereinten Nationen oder die Europäische Union, niemand kläre die Menschen über die Gründe auf. „Wir haben wiederholt nach dem Grund für das Embargo gefragt, eine Antwort erhalten haben wir aber nicht. Hier werden den Menschen sämtliche Rechte vorenthalten. Das einzige, was ihnen bleibt: Sie werden krank, die Krankheit verschlechtert sich und sie sterben.”
Keine Erlaubnis zur medizinischen Behandlung außerhalb
Wegen des Embargos könne man weder die notwendigen Medikamente und Geräte ins Lager bringen noch die Patienten zur Behandlung in andere Städte schicken, führt Ayaz weiter aus. Es gäbe nicht einmal einen Krankenwagen zum Transport. „Zum Beispiel haben wir eine schwangere Frau für die Geburt ihres Kindes ins Krankenhaus verlegen wollen. Die südkurdischen Behörden aber schickten die Mutter auf halbem Weg wieder zurück. „Das war Willkür. Die Mutter und ihr Baby starben unterwegs auf dem Transport. Wenn sie jemanden vom IS gefangennehmen, brüsten sie sich im Fernsehen ob der humanen Behandlung und der medizinischen Behandlung gegenüber diesen, aber sie lassen eine Schwangere, die seit 27 Jahren Flüchtling ist, auf dem Weg zur Behandlung elend sterben.” Ihr sei gesagt worden: „Du kommst aus Mexmîr, für dich gibt es keinen Weg, eine medizinische Versorgung zu bekommen." Das Baby starb noch im Mutterleib. Das Manko der fehlenden Mittel zeige sich genau hieran.
Auch dutzende Kinder seien auf dem Weg zur Behandlung in Mexmûr ums Leben gekommen. Viele Menschen erkrankten inzwischen an Corona. „Aber sie kamen mit den Maßnahmen, die wir hier selbst ergriffen haben und mit der Hilfe, die wir im Rahmen unserer Gesundheitsversorgung leisten konnten, darüber hinweg. Daher können wir sagen: das Embargo ist für uns gefährlicher als die Corona-Pandemie."
Es gibt viele chronisch Erkrankte im Lager
Es gibt viele Patienten mit chronischen Erkrankungen in Mexmûr, die ständig medikamentöser Behandlung bedürfen. Ihre Zahl liegt bei etwa tausend. „Wir haben 26 Krebspatienten und 60 Asthmapatienten. Wir haben 35 Patienten mit Lähmungen, die bettlägerig und pflegebedürftig sind. In unserem Zentrum für Menschen mit Downsyndrom und Autismus bekommen 23 unserer Mitmenschen Hilfe. All die Aufgezählten haben Atteste, die die Diagnosen, ihren Zustand und den Medikamentebedarf belegen. So wie es natürlich Medikamente gegen die Pandemie bedarf, so braucht es aber auch Medikamente für die chronisch Kranken. Bis heute haben wir von keinem Staat und keiner Regierung in dieser Hinsicht Unterstützung erhalten, noch hat man sich überhaupt mal bei uns erkundigt. Leider verfügen wir über keine Mittel, um sie zu behandeln. Das ist für uns nur schwer zu ertragen. Wir verfügen über ausreichend Gesundheitspersonal, um die Menschen hier zu versorgen, aber uns fehlen die Mittel dazu. So hoffen wird denn, dass man uns hört und hilft. Schon aus rein humanitären Gründen bestünde Pflicht und Verantwortung dazu”, sagt Ismail Ayaz.