Die Broschüre „Selbstbestimmung statt Flucht. Demokratische Autonomie im Camp Mexmûr“ ist nun online bei Black Mosquito erhältlich. Die Broschüre ist das Ergebnis einer Delegationsreise aus Deutschland nach Südkurdistan (Nordirak) im Sommer 2018 und entstand in Kooperation mit den Kampagnen „Gemeinsam kämpfen“ und „TATORT Kurdistan“. Auf ca. 65 Seiten sind zahlreiche Interviews mit unterschiedlichen Strukturen der örtlichen Selbstverwaltungsstrukturen des Camps abgedruckt, unter anderem mit dem Frauenrat Iştar, dem Gesundheitsrat und der Ökonomiekommission. Alle Erlöse aus dem Verkauf gehen im Rahmen der Spendenkampagne „Ein Krankenwagen für Mexmûr“ an den Gesundheitsrat des Camps.
Im Folgenden möchten wir eine zweite Leseprobe aus der Broschüre veröffentlichen:
Die Stadtverwaltung von Mexmûr
Könnt ihr uns zu Beginn erst einmal ein paar grundlegende Informationen zu euren Arbeiten geben?
Kovorsitzende Leyla: Mein Name ist Leyla. Ich bin die Kovorsitzende der Stadtverwaltung. Der Freund Abdul Kerim ist der Kovorsitzende. Ich persönlich arbeite seit vier Monaten in der Stadtverwaltung und bin zum ersten Mal in dieser Position tätig. Vor vier Monaten fanden Wahlen statt, bei denen ich gewählt wurde. In den Jahren zuvor war ich eine Zeit lang Kovorsitzende des Volksrates oder habe in den Frauen- und Jugendstrukturen mitgearbeitet. Außerdem habe ich an archäologischen Forschungsarbeiten teilgenommen. Jetzt arbeite ich also seit vier Monaten hier in der Stadtverwaltung mit. Ich habe mich auch persönlich intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, wie unser System der kommunalen Selbstverwaltung im Rahmen des Demokratischen Konföderalismus umgesetzt werden kann und wodurch es sich auszeichnet. Ich habe mich relativ schnell in die Arbeiten in der Stadtverwaltung einfinden können, da ich schon auf vielfältige Erfahrungen in anderen Bereichen unseres Systems zurückgreifen konnte. Aber natürlich bedurfte es gewisser Anstrengungen mich in die neue Praxis einzufinden, insbesondere weil sich unser Selbstverständnis als Stadtverwaltung von den konventionellen Verwaltungen unterscheidet.
Die Geschichte unserer Stadtverwaltung reicht bis in das Jahr 1998 zurück. Damals ließen wir uns hier in Mexmûr nieder und es entstand das Bedürfnis nach einer Stadtverwaltung. Seither gibt es diese Institution. Früher wurde einmal im Jahr der Stadtverwaltungsrat und der bzw. die Stadtverwaltungsvorsitzende gewählt. Im Jahr 2014 wurde das Kovorsitzendensystem eingeführt. Seither finden alle zwei Jahre Wahlen statt, bei denen der Stadtverwaltungsrat und die beiden Kovorsitzenden gewählt werden. Der Stadtverwaltungsrat setzt sich aus den beiden Kovorsitzenden und sieben weiteren Personen zusammen. Unsere Arbeiten bestehen aus fünf Bereichen:
Strom, Wasser, Stadtreinigung, Sicherheit und Archivierung. Die Finanzen sind Teil der Arbeiten des Archivs. Es ist wichtig zu wissen, dass unsere Stadtverwaltung auf Grundlage eines Bedürfnisses entstanden ist. Wir haben schwere Zeiten durchleben müssen, um an den heutigen Punkt zu kommen. Wir hatten zu Beginn unserer Arbeiten nicht einmal ein Fahrzeug, mit dem wir den Müll einsammeln und abtransportieren konnten. Mit der Unterstützung von außen, durch Aufwendungen der Bevölkerung und auch durch Mittel der südkurdischen Regionalregierung finanzieren wir heute unsere Arbeiten als Stadtverwaltung. Abdul Kerim ist deutlich erfahrener als ich, was unsere Arbeiten angeht. Er arbeitet seit sieben Jahren in der Stadtverwaltung mit und war vier Mal Vorsitzender bzw. Kovorsitzender.
Ko-Vorsitzender Abdul Kerim: Wir leben heute hier im Mexmûr-Camp, weil wir aufgrund der Unterdrückung des türkischen Staates 1994 aus Nordkurdistan (Südosttürkei) fliehen mussten. Während unserer Flucht durch Südkurdistan (Nordirak) mussten wir acht Mal den Ort wechseln. Seit 1998 sind wir nun hier in Mexmûr. Wir haben alles hinter uns gelassen und leben hier als Geflüchtete.
Für all das, was wir erleben mussten, gibt es nur einen Grund: Wir sind Kurden. Deshalb hat der türkische Staat alle Methoden der Folter gegen uns angewendet. Er hat uns alles verboten. Doch auch wir sind Menschen. Wir Kurdinnen und Kurden leben seit 1000 Jahren in dieser Region. Wir sind aufgrund der Unterdrückung und Folter aus unseren Dörfern geflüchtet. Als wir hier in Mexmûr ankamen, war dieses Camp eine Wüste. Saddam Hussein, der uns damals diesen Ort zugewiesen hatte, war genau wie der türkische Staat. Es gab keinen Unterschied zwischen ihnen. Wir wurden an einen Ort in der Wüste gebracht, an dem es viele Skorpione gab. Wir hatten damals rein gar nichts. Doch wir hatten den Glauben an uns selbst. Und wir wussten, dass es hier auch ein Leben geben kann und wir weiter leben müssen.
Wir haben aus der Wüste ein kleines Dorf und später aus dem Dorf eine kleine Stadt gemacht. Zu Beginn hatten wir fast zwei Jahre lang keinen Strom. Alles, was ihr hier seht, haben wir selbst aufgebaut. Zuerst lebten wir in Zelten. Die Häuser haben wir dann später aus eigener Kraft gebaut. Unsere erste Schule bestand aus einem einfachen, kleinen Zelt. Dort unterrichteten die Lehrerinnen und Lehrer unsere Kinder. Im Jahr 2001 wurde uns eine einzige Stromleitung zugesprochen und verlegt. Sie sollte für die Schule dienen. Wir haben dann aus eigener Kraft mithilfe von Holzleisten unter einfachsten Bedingungen Strom an die anderen Zelte weitergeleitetet. Da die Stromleitungen aus Holz waren, gingen sie unter der Erde nach einer bestimmten Zeit kaputt. 2005 haben wir dann die Enden der Holzleisten mit einem Metallstück verbunden, damit das Holz unter der Erde nicht kaputt geht. Von Seiten der irakischen Regierung erhielten wir damals keine Unterstützung. Als Saddam 2003 gestürzt wurde, entstand die Autonome Region Kurdistan. Wir haben an diese neue Verwaltung Unterstützungsanträge gestellt und sie haben uns daraufhin u.a. Stromleitungen aus Metall geliefert. Diese Unterstützung dauert in sehr begrenztem Maße bis heute an.
Könnt ihr etwas genauer auf die Wasser- und Stromversorgung im Camp eingehen?
Abdul Kerim: Wasser wurde zu Beginn mithilfe von Wassertankern in unser Camp gebracht. Jedem Stadtteil stand die Wassermenge eines Wassertankers zur Verfügung. Wir richteten in jedem Stadtteil Komitees ein, die für Verteilung des Wassers zuständig waren. Die Frauen stellten sich damals an und jede von ihnen musste ihren Wasserbehälter nach Hause transportieren. Auf diese Art organisierten wir die Wasserversorgung im Camp von 1998 bis 2005. Danach wurden Wassertanks und ein Wasserleitungssystem aufgebaut. Hier im Camp wurde das Wassersystem von zwei bis drei Familien aufgebaut. Sie haben aus eigener Kraft 20 - 30 Meter tief gegraben und Brunnen gebaut. Das Wasser aus den Brunnen wurde für die Pflanzen, die Bäume und für die Versorgung der Tiere verwendet. Es war kein Trinkwasser. Für die Trinkwasserversorgung wurden von der UN in der Umgebung von Mexmûr drei Brunnen gegraben, aus denen das Trinkwasser ins Camp transportiert wurde. Das war aber nicht ausreichend. Das Wasserproblem im Mexmûr-Camp dauert leider bis heute an. Wir müssen immer wieder Anträge an die Stadt Mexmûr stellen, um genug Wasser zu bekommen. Das Problem mit der Stromversorgung wurde auch noch nicht gelöst. Wir erhalten von der Stadt Mexmûr jeden Tag von 17 bis 6 Uhr morgens Strom. Das erfolgt aber nicht zuverlässig. Den Rest des Tages versorgt sich das Camp mithilfe von Stromgeneratoren, die aber immer wieder nicht funktionieren und deren Kapazität zudem nicht ausreicht. Strom und Wasser stehen unter der Kontrolle der Stadtverwaltung der Stadt Mexmûr. Sie liefert Strom und Wasser an unser Camp Mexmûr und trifft auch die entsprechenden Entscheidungen. Die dortige Direktion verwaltet das Wasser und den Strom. Das Wasserproblem betrifft den gesamten Irak. Das ist eine Folge des jahrelangen Krieges in dem Land. Als Geflüchtete sind wir noch stärker davon betroffen. Der Strom aus der Stadt Mexmûr wird ca. sieben bis acht Stunden am Tag abgestellt und auch das Wasser fließt nur drei bis vier Stunden täglich. Einige Stadtteile in unserem Camp haben zur Zeit gar kein Wasser. In Bezug auf Wasser und Strom können wir die Bedürfnisse der Bevölkerung derzeit nicht vollständig befriedigen.
Wird die Stadtverwaltung in der Stadt Mexmûr von der KDP oder der irakischen Regierung kontrolliert? Wie kommt es dazu, dass die Strom- und Wasserversorgung immer wieder unterbrochen wird?
Abdul Kerim: Die Stadtverwaltung in der Stadt Mexmûr wird von der KDP kontrolliert. Über ganz Mexmûr treffen der Oberkreisdirektor und der Gouverneur die Entscheidungen, obwohl es hier auch eine Kommunalverwaltung für Wasser und Strom gibt. Sie hat aber praktisch kein Mitspracherecht. Im Irak und in der Autonomen Region Kurdistan läuft das System anders als bei uns. Dort werden Entscheidungen von oben herab getroffen. Es gibt z.B. in den einzelnen Stadtteilen einen Beamten, der für Wasser zuständig ist. Er trifft nicht allein die Entscheidung darüber, wie viele Stunden Wasser in einen Stadtteil geliefert wird, sondern muss zuerst die Zustimmung des Oberkreisdirektors erhalten. Erst dann kann er zwei oder drei Stunden mehr Wasser liefern. Das System bei uns funktioniert ganz anders. Wir haben eine Kovorsitzende und einen Kovorsitzenden, unsere Volksräte, Frauenräte und Jugendräte. Alle haben ihren eigenen Verantwortungsbereich. Wir treffen unsere Entscheidungen im Rahmen dieses Systems basisdemokratisch. Regelmäßig geben alle Strukturen des Selbstverwaltungssystems ihre Berichte an den Volksrat weiter. Im Camp Mexmûr ist jeder Bereich autonom organisiert und trifft auch seine eigenen Entscheidungen.
Aber in der Autonomen Region Kurdistan und im Irak funktioniert das nicht so. Dort funktioniert alles nur mit Zustimmung der höheren Ebenen, wie dem Oberkreisdirektor oder dem Gouverneur. Die Entscheidungen der Stadt Mexmûr trifft der Gouverneur. In den einzelnen Bereich wie der Wasserversorgung haben die unteren Verwaltungsebenen keinerlei Befugnis eigene Entscheidungen zu treffen. Sie dürfen nicht einmal die Entscheidung fällen, statt drei in Zukunft fünf Stunden Strom oder Wasser zu liefern. Die Entscheidung werden also nicht in Absprache mit der Basis getroffen, sondern nur von oben herab...
Fortsetzung in der Broschüre „Selbstbestimmung statt Flucht. Demokratische Autonomie im Camp Mexmûr“