Tatverdächtiger im Mord an Helin Şen bleibt frei

Im Oktober 2015 wurde die zwölfjährige Helin Hasret Şen in Sûr aus einem Polizeipanzer heraus erschossen. In Amed ist heute der Prozess gegen den Tatverdächtigen fortgesetzt worden. Der Polizist bleibt auf freiem Fuß.

Vor dem zweiten Schwurgerichtshof in der nordkurdischen Provinz Amed (Diyarbakir) ist am Dienstag der Prozess gegen den Hauptverdächtigen im Mordfall an Helin Hasret Şen fortgesetzt worden. Das zwölfjährige Mädchen wurde am 11. Oktober 2015 in Sûr, der historischen Altstadt von Amed, aus einem Polizeipanzer heraus erschossen, als es Brot kaufen wollte. Der tatverdächtige Polizist Abdullah E. wurde wegen fahrlässiger Tötung angeklagt, befindet sich jedoch nach wie vor im Dienst.

Rückblick: Einen Monat nach den Parlamentswahlen im Juni 2015 verkündete Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan das Ende des Friedensprozesses der türkischen Regierung und der PKK. Prompt ging die AKP wieder zur Strategie des Terrors gegen die kurdische Bevölkerung über. Es folgte eine über mehrere Monate andauernde Militärbelagerung in Städten wie Amed (Diyarbakir), Şirnex (Şırnak), Cizîr (Cizre) und Nisêbîn (Nusaybin), der Hunderte Menschen zum Opfer fielen. Fast fünf Jahre danach ist die genaue Zahl noch immer nicht bekannt.

Über Sûr ließ die türkische Regierung am 16. Oktober 2015 eine erste Ausgangssperre verhängen, der sechs weitere folgen sollten. Offiziell, um „Antiterroraktionen” gegen die bewaffnete kurdische Jugendbewegung durchzuführen. Seit dem 11. Dezember 2015 ist eine Rund-um-die-Uhr-Ausgangssperre in Sûr in Kraft, die bis heute teilweise andauert und damit die längste Ausgangssperre in der Geschichte der Türkei bildet. Innerhalb dieser Zeit wurde fast die Hälfte des Altstadtbezirks zerstört. Neben dem Verschwinden des historischen und kulturellen Erbes von Sûr mussten vor allem Frauen und Kinder die Opferlast tragen.

Als Helin Şen mit einem Kopfschuss getötet wurde, fanden in Sûr keine Kämpfe statt. Die Jugendbewegung hatte sich bereits aus dem Stadtteil zurückgezogen, und sogar Polizeiberichte vom 11. Und 12. Oktober 2015 bestätigen, dass an beiden Tagen weder Kampfhandlungen noch Polizeieinsätze stattfanden. Und damit auch nicht gerechtfertigt sei, warum die Einheit von Abdullah E. nach Sûr ausrückte. Hinzugerufen wurde sie jedenfalls nicht.

Helins Mutter Nazmiye Şen war dabei, als ihre Tochter getötet wurde. Fast die gesamte Straße wurde Zeuge des Vorfalls. Nachdem Helin gemeinsam mit ihrer Mutter, einem Großonkel und ihren Geschwistern am zweiten Tag, seit dem keine Schüsse mehr zu hören waren, das Haus verließ, um Lebensmittel zu besorgen, seien Panzer in das Viertel eingedrungen, hätten beliebig geschossen, und die Scharfschützen hätten auf die Menschen gezielt, die auf die Straße gingen. Daraufhin zogen sich die Anwohner*innen wieder zurück in ihre Häuser. Weitere zwei Tage später ohne Auseinandersetzungen, die Bäckerei in der Straße hatte inzwischen geöffnet, damit sich die Menschen wenigstens mit Brot versorgen können, gingen die Bewohner*innen von Sûr wieder nach draußen. Am frühen Nachmittag bildete sich vor der Bäckerei eine lange Schlange von bis zu hundert Frauen und Kindern. Helin Şen ging an der Wand entlang in Richtung Bäckerei, als sie durch Schüsse, die von einem gepanzerten Polizeifahrzeug abgefeuert wurden, am Kopf getroffen wurde. Der Inhaber der Bäckerei gab gegenüber Journalisten an: „Plötzlich fielen Schüsse und ich sah, wie ein kleines Mädchen zu Boden stürzte.“ Der Panzer stand auf der rund hundert Meter entfernten Wegkreuzung. Als sich Frauen aus der Schlange Helin nähern wollten, schossen Polizisten auch auf sie. „Niemand durfte das Mädchen bergen.“

Nazmiye Şen hatte sich auf den Boden geworfen, als die Schüsse fielen. Als sie sich umblickte, sah sie ihre Tochter wenige Meter entfernt zusammengesunken in einer Blutlache liegen. Erst eine halbe Stunde später konnte sie gemeinsam mit anderen Frauen die Leiche des zierlichen Mädchens evakuieren.

Beim zweiten Verhandlungstag im Prozess gegen den mutmaßlichen Schützen verstrickte sich dieser wie bereits bei der Verfahrenseröffnung in Widersprüche. Zunächst behauptete Abdullah E., wegen einer Bombendrohung in das Viertel von Helin Şen gefahren zu sein. Irgendwann sei dann ein Sprengsatz explodiert, just in dem Moment, als sei Kollege eine WC-Pause einlegte. Der Detonation sollen dann drei Schüsse auf den Panzer gefolgt sein. Gesehen habe er niemanden, und deshalb habe er „in den toten Winkel“ geschossen. Die Kamera des Panzers sei schlecht gewesen, trotzdem, so der Polizist, habe er in den elf Jahren, seit er Sicherheitsbediensteter ist, „noch nie auf das falsche Ziel geschossen“. Er sei ein „grandioser Schütze“, für Helins Tod komme er „auf gar keinen Fall“ in Frage.

Nazmiye Şen sagte aus: „Eine Explosion hat es an dem Tag nicht gegeben. Sonst wäre ich wohl kaum mit meinen Kindern aus dem Haus gegangen. Wir alle haben nur drei Schüsse gehört. Und zwar die, die aus dem Panzer heraus abgefeuert wurden.“

Der Prozess wird am 4. Juni fortgesetzt.