Sûr wurde zerstört, weil sich der Widerstand nicht brechen ließ

Vor drei Jahren begann mit der Ausrufung einer Ausgangssperre die Zerstörung der Altstadt Sûr in Amed. Remziye Tosun lebte mit ihren Kindern drei Monate lang unter der Belagerung türkischer Sicherheitskräfte. Heute ist sie Abgeordnete der HDP.

Remziye Tosun hat während der Ausgangssperre vor drei Jahren in Sûr ausgeharrt, der historischen Altstadt von Amed (Diyarbakir). Als sie den Bezirk verließ, wurde sie festgenommen und kam für 15 Monate mit ihrer einjährigen Tochter ins Gefängnis. Heute ist sie Abgeordnete der Demokratischen Partei der Völker (HDP) im türkischen Parlament. Von den Kämpfen in Sûr hat sie der Tageszeitung Yeni Özgür Politika erzählt.

Was können Sie uns drei Jahre später über Sûr erzählen? Wie haben Sie unter den damaligen Bedingungen dort überlebt?

Zunächst möchte ich festhalten, dass die vor drei Jahren begonnene Zerstörung von Sûr immer noch fortgesetzt wird. Ich habe zwanzig Jahre dort gelebt. Als vor drei Jahren eine Ausgangssperre ausgerufen wurde, sollten alle ihre Häuser verlassen. Wir wussten jedoch, wenn wir gehen, wird es keine Rückkehr mehr geben. Sûr hat eine fünftausendjährige Geschichte und stand unter dem Schutz der UNESCO. Trotzdem sind Panzer in den Bezirk eingedrungen. Bereits zu dem Zeitpunkt ahnten wir, dass unsere Häuser und die gesamte Geschichte des Viertels dem Erdboden gleichgemacht werden. Wir haben unsere Häuser nicht verlassen. Es ging ja nicht um die Wohnung, sondern um unsere Geschichte und unsere Kultur. Für mich ging es auch um zwanzig Jahre meines Lebens, die ich nicht hinter mir lassen wollte. Deshalb bin ich geblieben.

Die Umstände damals waren schlimm. Gegen uns wurde ein Angriffskonzept angewendet, das den Tod von Menschen billigend in Kauf nahm. Zusammen mit meinen Kindern habe ich unter der Bombardierung versucht zu überleben. Eigentlich hatte ich mein eigenes Leben nach einem bestimmten Punkt schon aufgegeben, aber ich musste für meine Kinder weiterleben. Wenn meine Kinder weiterleben, werden sie es sein, die in der Zukunft gegen Angriffe auf unsere Kultur und unsere Identität Widerstand leisten. So haben wir monatelang dort ausgeharrt. Für meine Kinder war der Widerstand sehr lehrreich. Alle Kurden sind irgendwann in der Geschichte einmal Angriffen des Staates ausgesetzt gewesen. In den 1990er Jahren wurden die Dörfer zerstört. Meine Kinder haben den Staat sehr früh kennengelernt. In Sûr mussten sie hungern, es war kalt. Für eine Mutter ist es grausam, wenn sie ihren Kindern nichts zu essen geben kann und um ihr Leben fürchtet. Gerade deshalb habe ich um unser Überleben gekämpft.

Was haben Sie während der Ausgangssperre in Sûr erlebt?

Ich habe vor allem den Widerstand erlebt. Ich habe gesehen, wie sich das kurdische Volk gegen die eigene Vernichtung wehrt. Und ich habe die Grausamkeit des Staates erlebt. Die staatlichen Angriffe richteten sich nicht nur gegen Menschen, sondern auch gegen eine fünftausendjährige Geschichte. Viele Menschen mussten die Häuser, in denen sie geboren wurden und aufgewachsen sind, verlassen. Die gesamte historische Struktur von Sûr ist zerstört worden. Gewissermaßen ist das gesellschaftliche Gedächtnis vernichtet worden. Eigentlich sollte der ganze Bezirk dem Erdboden gleichgemacht werden, aber weil wir dort ausgeharrt haben, konnten wir es verhindern. Ein großer Teil von Sûr ist zerstört, aber der Widerstand des kurdischen Volkes konnte nicht ausgelöscht werden. So gesehen hat der Staat sein Ziel nicht erreicht.

Während Sie noch dort waren, hat der damalige Ministerpräsident Propaganda gemacht, dass keine Zivilisten mehr in Sûr seien, und damit die Vorbereitungen für ein Massaker getroffen. Wie haben Sie das erlebt?

Als meine zweijährige Tochter mit sieben weiteren Kindern die Altstadt verlassen hat, wurde sie als Terroristin deklariert. Das hat uns nicht überrascht. Derselbe Ministerpräsident hatte auch ein 35 Tage altes Baby in Cizîr zum Terroristen erklärt. Alle, die ihre Häuser in Sûr nicht verlassen haben und ihre Geschichte, ihre Kultur und ihr Umfeld schützen wollten, wurden als Terroristen bezeichnet. Danach wurden die Angriffe noch heftiger. Was bedeutet Terror? Ist es kein Terror, wenn ein Staat seine eigenen Bürger bombardiert und sie aus ihrer Heimat vertreibt? Wer hat denn die Panzer in Sûr auffahren lassen?

In der zerstörten Altstadt sind jetzt Häuser gebaut worden, die mit der ursprünglichen Architektur von Amed nichts zu tun haben. Wer bekommt diese Häuser?

Sûr ist immer noch eine Verbotszone. Vor drei Jahren wurden die Häuser mit Panzern eingerissen, im vergangenen Jahr sind die Viertel Alipaşa und Lalebey mit Baumaschinen niedergerissen worden. Damit hat sich deutlich gezeigt, was diejenigen bezwecken, die uns als Terroristen deklarieren. Die neuen Häuser bekommen natürlich ihre eigenen Anhänger. Eine Geschichte ist zerstört worden, Sûr ist unter Beton begraben worden und jetzt leben AKP-Anhänger dort.

Angeblich bekommen die Menschen, deren Häuser zerstört worden sind, staatliche Unterstützung. Was sagen Sie dazu?

Es stimmt, dass es eine Zeitlang Mietzuschüsse gab. An vielen Orten mussten jedoch fünf Familien unter einem Dach leben, weil Unterstützung nur diejenigen bekommen haben, die einen Grundbucheintrag hatten. Aber selbst diese Menschen wurden bedroht, die Zuschüsse wurden eingestellt. Die Mietzuschüsse waren lediglich ein politischer Schachzug, es ging nur um die Spitze des Eisbergs.

Welche Verbrechen sind bei der Zerstörung von Sûr verübt worden? Gibt es Pläne, diese Verbrechen weltweit bekannt zu machen?

Was in Sûr stattgefunden hat, war ein Krieg. Der Staat hat ein Verbrechen an der Menschheit begangen, und dieses Verbrechen geschah vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Als Augenzeugen werden wir natürlich weiter überall davon berichten. Eines Tages wird der Staat dafür bezahlen müssen.

Eine letzte Frage: Sie tragen das klassische weiße Kopftuch kurdischer Mütter. Wie reagieren die Menschen darauf? Löst es kein Erstaunen aus?

Ich habe es noch nie abgelegt, ich bin ja eine Mutter. Das weiße Kopftuch ist ein Friedenssymbol. Wenn in diesem Land eines Tages Frieden einkehrt, werde ich es abnehmen und wegwerfen.