In Semsûr (türk. Adıyaman) sind am Donnerstag vier Delegierte der zivilgesellschaftlichen Organisation „Demokratischer Gesellschaftskongress“ (kurd. Kongreya Civaka Demokratîk - KCD, türk. Demokratik Toplum Kongresi - DTK), die der Mitgliedschaft in der PKK beschuldigt wurden, zu insgesamt über 25 Jahre Freiheitsstrafe verurteilt worden. Gleichzeitig wurde ihre Haftentlassung angeordnet.
Angeklagt in dem Verfahren vor dem 2. Schwurgerichtshof in Semsûr waren Abuzer Küçükkelepçe, der ehemalige Ko-Vorsitzende des Provinzverbands der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Rıza Açıkpayam, der früher im HDP-Vorstand auf Provinzebene saß, die Vorsteherin der Zweigstelle der Bildungsgewerkschaft Eğitim Sen Ayşegül Yücetaş, sowie Celal Demirci, Vorsitzender der Zweigstelle des Demokratisch-Alevitischen Vereins in Semsûr. Sie alle befanden sich seit dem 10. Juni im Gefängnis. Als Beweismittel wurden lediglich KCD-Versammlungen herangezogen, an denen die Oppositionellen teilgenommen haben sollen. Bis auf Küçükkelepçe, der zu sechs Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt wurde, erhielten die anderen drei Freiheitsstrafen in Höhe von jeweils sechs Jahren und drei Monaten.
Der Demokratische Gesellschaftskongress wird bereits seit Längerem in der Türkei kriminalisiert, weil es sich um ein vom kurdischen Vordenker Abdullah Öcalan für die gesellschaftliche Organisierung vorgeschlagenes Projekt handelt. Die Zentrale in Amed (Diyarbakir) wurde Ende Juni nach einer Razzia amtlich versiegelt, es droht ein Verbotsverfahren.
KCD-Verfahren in Amed
In einem ähnlichen Verfahren in Amed wird gegen 64 Personen ermittelt, die aufgrund ihrer Aktivitäten für den KCD der PKK-Mitgliedschaft bezichtigt werden. In der Anklageschrift werden Protokolle von Gesprächen Öcalans mit seinem Rechtsbeistand als Beweismittel herangezogen. Wie die Ausschnitte der Gespräche im Zeitraum zwischen dem 26. September 2007 und 18. Juli 2011 in die Akte gelangt sind, ist unklar. Es wird allerdings davon ausgegangen, dass das türkische Justizministerium die Generalstaatsanwaltschaft in Amed mit den „Beweismitteln“ versorgte.
Gesellschaftlicher Gegenentwurf zu staatlichen Strukturen
Der KCD fungiert als Dachverband politischer Parteien, zivilgesellschaftlichen Organisationen, religiösen Gemeinden sowie Frauen- und Jugendorganisationen. Er versteht sich als gesellschaftlicher Gegenentwurf zu staatlichen Strukturen, der – gestützt auf Räte- und Basisdemokratie –Konzepte zur Selbstorganisierung der Bevölkerung und Alternativen der kommunalen Selbstverwaltung erarbeitet. Der DTK besteht aus etwa 1000 Delegierten, von denen 60 Prozent durch die Bevölkerung direkt gewählt und 40 Prozent aus zivilgesellschaftlichen Organisationen benannt werden und ist in Kommissionen gegliedert. Sowohl innerhalb wie auch in den Stadtteilräten und Stadträten gibt es keine Frauenquote, sondern eine Geschlechterquote. Das bedeutet, dass der Anteil von Frauen beziehungsweise Männern 40 Prozent nicht unterschreiten darf.
Von Öcalan für demokratische Gesellschaftsorganisierung vorgeschlagen
Bereits im Jahr 2005 von Abdullah Öcalan als Projekt für die demokratische Organisierung der Gesellschaft vorgeschlagen, wurden zunächst große Diskussionsveranstaltungen durchgeführt, bis im Folgejahr die erste Vollversammlung organisiert wurde. Am 14. Juli 2011 fand in Amed ein Kongress mit über 800 Teilnehmenden aller ethnischen, politischen und religiösen Strukturen in Kurdistan statt. An die gemeinsame Erklärung der Versammlung anschließend wurde die Demokratische Autonomie ausgerufen. In dem veröffentlichten Modellentwurf werden acht Dimensionen aufgeführt: die politische, die juristische, die der Selbstverteidigung, die kulturelle, die soziale, die wirtschaftliche, die ökologische und die diplomatische. Die Satzung richtet sich nicht nach den Gesetzen der Türkei, sondern nimmt die demokratische Teilhabe der Bevölkerung als Grundlage.
Langjährige Zusammenarbeit der Regierung mit DTK beim Lösungsprozess
Obwohl der KCD als höchstes Gremium der Demokratischen Autonomie unmittelbar nach seinem Gründungskongress kriminalisiert und mit Ermittlungsverfahren überzogen wurde, arbeitete die türkische Regierung zwischen 2005 und 2014 intensiv mit dem Dachverband zusammen, um gemeinsam den damals möglichen Friedensprozess zu verhandeln. Der KCD wurde von der AKP sogar gebeten, an einer neuen Verfassung für die Türkei mitzuarbeiten. Der damalige Ko-Vorsitzende Hatip Dicle gehörte zudem zur sogenannten „Imrali-Delegation“, die im Rahmen des Lösungsprozesses eine Vermittlerrolle zwischen Abdullah Öcalan und der türkischen Regierung eingenommen hatte. Auch nachdem der damalige Ministerpräsident und heute Staatschef Recep Tayyip Erdoğan im Sommer 2015 die Friedensverhandlungen einseitig abbrach, wurde der KCD nicht verboten. Ein entsprechendes Verfahren scheint jedoch in Vorbereitung zu sein.
Angepeiltes Ziel: Zerschlagung der kurdischen Zivilgesellschaft
Anfang Mai bestätigte der türkische Berufungsgerichtshof die Haftstrafe gegen die kurdische Politikerin Selma Irmak von sieben Jahren und sechs Monaten wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ – gemeint ist der KCD. Die 49-jährige Politikerin war zwischen 2015 und 2016 Ko-Vorsitzende des Dachverbands, der nach Auffassung des Gerichts „deckungsgleich“ mit der als „Terrororganisation“ verfolgten Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) sei. Die Richter warfen Irmak, die zur Zeit ihres DTK-Vorsitzes auch Abgeordnete der HDP war vor, ihre Tätigkeit als Politikerin „missbraucht“ zu haben, weil sie das „Paradigma von Stadträten, einer Akademie für demokratische Politik, dem Demokratischen Gesellschaftskongress und der Kooperativbewegung“ verbreitet und damit eine „Terrororganisation“ unterstützt hätte. Völlig gleich entschied der Berufungsgerichtshof bereits im Februar im Fall von Aysel Tuğluk. Zudem wurden alle Aktivitäten aus den Jahren zwischen 2007 und 2014 des nach wie vor legalen KCD gerichtlich für illegal erklärt. Die Anwält*innen von Selma Irmak bereiten eine Klage vor dem Verfassungsgericht vor. Sollte der Staatsgerichtshof das Urteil nicht aufheben sondern bestätigen, würde der KCD als rechtswidrige Struktur anerkannt werden. Der Zerschlagung der kurdischen Zivilgesellschaft stünde somit nichts mehr im Wege.