KCD-Prozess: Öcalan-Gesprächsprotokolle als Beweismittel

In der Anklageschrift gegen 45 Beschuldigte im KCD-Prozess werden Protokolle von Anwaltsgesprächen mit Abdullah Öcalan als Beweismittel herangezogen. Zur Akte gelangt sind die Protokolle mutmaßlich über das türkische Justizministerium.

In der Anklageschrift im Verfahren gegen 45 Personen, die wegen Teilnahme an Aktivitäten des Demokratischen Gesellschaftskongresses (kurd. Kongreya Civaka Demokratîk - KCD, türk. Demokratik Toplum Kongresi - DTK) der Mitgliedschaft in der PKK beschuldigt werden, gibt es eine Veränderung. Die Generalstaatsanwaltschaft Diyarbakir (kurd. Amed) hat die am 9. Oktober 2018 aufgenommenen Ermittlungen abgeschlossen und die Anklageschrift gegen 45 von 64 festgenommenen Personen fertiggestellt.

Gesprächsprotokolle von Öcalan als Beweismittel

Darin wird das KCD-Schema anders als in früheren Anschuldigungen dargestellt. Als Beweismittel werden Protokolle von Gesprächen herangezogen, die Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali mit seinen Anwält*innen geführt hat. Während bei anderen aufgeführten „Beweisen“ die Quelle genannt wird, steht in der Anklageschrift nichts darüber, von wem und wie die Protokolle in die Akte gelangt sind.  

In der Anklageschrift wird der Eindruck erweckt, dass die Protokolle mit Aussagen von Öcalan zum KCD Abschriften von Tonaufnahmen sind. Es ist anzunehmen, dass sie der Staatsanwaltschaft vom Justizministerium als verantwortlicher Stelle für das Inselgefängnis Imrali übergeben worden sind.  

Die Generalstaatsanwaltschaft geht davon aus, dass der KCD auf Befehl Abdullah Öcalans gegründet worden ist. Als Beleg werden Ausschnitte aus vierzig Gesprächen zwischen Öcalan und seinen Anwält*innen im Zeitraum vom 26. September 2007 bis 18. Juli 2011 herangezogen. In diesen Gesprächen legt der kurdische Vordenker seine Ansichten zum KCD dar.

Der KCD wurde am 30. Oktober 2007 gegründet. In der Anklageschrift finden sich Hinweise darauf, dass der KCD als Vertretung für Verhandlungen über eine Lösung der kurdischen Frage mit einer breitgefächerten kurdischen Beteiligung die Zustimmung des Staates gefunden hat. Abdullah Öcalan antwortete am 27. September 2010 in einem Gespräch auf die Kritik seiner Anwältin Aysel Tuğluk, die zum damaligen Zeitpunkt zugleich Ko-Vorsitzende des KCD war. Tuğluk bemängelte, dass sich der DTK zu einer rein formellen politischen Organisation entwickelt hat, und Öcalan antwortete: „Es geht um die demokratische Zivilgesellschaft. Ich sage es noch einmal, der Staat weiß davon, es geht um eine Lösung mit einem neuen Geist. Bürokratie ist ein bisschen so. Keine Organisation, die sich selbst betrügt, sondern etwas, das eine Funktion hat.“

Dass der KCD mit Wissen des Staates agierte, wird auch dadurch bestätigt, dass 2012 der damalige Parlamentspräsident Cemil Çiçek Delegierte der Organisation zum Empfang zur Parlamentseröffnung einlud.

Aus der Anklageschrift geht außerdem hervor, dass die Vorbereitungen auf die sogenannten KCK-Operationen gegen die kurdische Politik bereits liefen, als mit Öcalan gesprochen wurde und Schritte für eine Lösung der kurdischen Frage gesetzt werden sollten. Am 14. April 2009 fand die erste dieser Operationen gegen 152 kurdische Oppositionelle statt. In der Anklageschrift wird als Anfangsdatum 2007 genannt. Zwischen 2007 und 2010 haben laut Anklageschrift 93 KCK-Operationen stattgefunden, bei denen 1094 Verdächtige gefasst und 625 davon verhaftet wurden.

Hintergrund: Was ist der Demokratische Gesellschaftskongress?

Der Demokratische Gesellschaftskongress fungiert als Dachverband politischer Parteien, zivilgesellschaftlicher Organisationen, religiöser Gemeinden sowie Frauen- und Jugendorganisationen. Er versteht sich als gesellschaftlicher Gegenentwurf zu staatlichen Strukturen, der – gestützt auf Räte- und Basisdemokratie –Konzepte zur Selbstorganisierung der Bevölkerung und Alternativen der kommunalen Selbstverwaltung erarbeitet. Der KCD besteht aus etwa 1000 Delegierten, von denen 60 Prozent durch die Bevölkerung direkt gewählt und 40 Prozent aus zivilgesellschaftlichen Organisationen benannt werden, und ist in Kommissionen gegliedert. Sowohl innerhalb des Dachverbands wie auch in den Stadtteilräten und Stadträten gibt es keine Frauenquote, sondern eine Geschlechterquote. Das bedeutet, dass der Anteil von Frauen beziehungsweise Männern 40 Prozent nicht unterschreiten darf.

Von Öcalan für demokratische Gesellschaftsorganisierung vorgeschlagen

Bereits im Jahr 2005 von Abdullah Öcalan als Projekt für die demokratische Organisierung der Gesellschaft vorgeschlagen, wurden zunächst große Diskussionsveranstaltungen durchgeführt, bis im Folgejahr die erste Vollversammlung organisiert wurde. Am 14. Juli 2011 fand in Amed ein Kongress mit über 800 Teilnehmenden aller ethnischen, politischen und religiösen Strukturen in Kurdistan statt. An die gemeinsame Erklärung der Versammlung anschließend wurde die Demokratische Autonomie ausgerufen. In dem veröffentlichten Modellentwurf werden acht Dimensionen aufgeführt: die politische, die juristische, die der Selbstverteidigung, die kulturelle, die soziale, die wirtschaftliche, die ökologische und die diplomatische. Die Satzung richtet sich nicht nach den Gesetzen der Türkei, sondern nimmt die demokratische Teilhabe der Bevölkerung als Grundlage.

Langjährige Zusammenarbeit der Regierung mit KCD beim Lösungsprozess

Obwohl der KCD als höchstes Gremium der Demokratischen Autonomie unmittelbar nach seinem Gründungskongress kriminalisiert und mit Ermittlungsverfahren überzogen wurde, arbeitete die türkische Regierung zwischen 2005 und 2014 intensiv mit dem Dachverband zusammen, um gemeinsam den damals möglichen Friedensprozess zu verhandeln. Der KCD wurde von der AKP sogar gebeten, an einer neuen Verfassung für die Türkei mitzuarbeiten. Der damalige Ko-Vorsitzende Hatip Dicle gehörte zudem zur sogenannten „Imrali-Delegation“, die im Rahmen des Lösungsprozesses eine Vermittlerrolle zwischen Abdullah Öcalan und der türkischen Regierung eingenommen hatte. Auch nachdem der damalige Ministerpräsident und heutige Staatschef Recep Tayyip Erdoğan im Sommer 2015 die Friedensverhandlungen einseitig abbrach, wurde der KCD nicht verboten. Ein entsprechendes Verfahren scheint nun jedoch in Vorbereitung zu sein.