Elf Monate Staatsterror in Colemêrg

In der nordkurdischen Provinz Colemêrg wurden in den vergangenen elf Monaten mindestens 48 Militäroperationen und 63 Dorfrazzien durchgeführt. 61 Fälle von Folter und Misshandlung durch die Sicherheitskräfte wurden registriert.

Die Provinz Colemêrg (tr. Hakkari) grenzt an die Medya-Verteidigungsgebiete und ist eine Hochburg des Widerstands gegen den türkischen Kolonialismus. Die Guerilla in den Bergen und der Widerstand in der Bevölkerung sind tief verankert. Die Demokratische Partei der Völker (HDP) ist trotz Zehntausender Soldaten und Paramilitärs, welche die Stimmabgabe manipulieren, in vielen Bereichen stärkste Partei. Doch die Region befindet sich in einem Belagerungszustand. Die gewählten Vertreter:innen können ihr Amt nicht ausüben und wurden durch Zwangsverwalter ersetzt. Die Region gilt als ein offenes Gefängnis. Die Straßen sind mit Kontrollpunkten des Geheimdiensts, der Militärpolizei und vieler Spezialeinheiten übersät, sodass die Reise von einem Ort zum anderen zu einer Tortur wird. Seit sieben Jahren ist jede Versammlung, jeder Stand, jedes Fest, das nicht von der Erdoğan-Partei AKP organisiert wird, verboten.

Klima des Staatsterrors

Der türkische Provinzgouverneur behauptet nun, ein Klima das „Friedens“ geschaffen zu haben. Die Bilanz der vergangenen elf Monate sieht allerdings anders aus. Fast jeden Tag werden Dörfer der Region umstellt und von Soldaten durchsucht. Ganze Landstriche werden zu „Sondersicherheitszonen“ erklärt und Betretungsverbote verhängt. Im Rahmen der Operationen wurden Dutzende Menschen festgenommen und viele von ihnen misshandelt.

Über 100 Festnahmen bei Dorfrazzien und Militäroperationen

In den vergangenen elf Monaten wurden mindestens 63 Dörfer in Colemêrg vom Militär gestürmt und durchsucht. Nach den offiziellen Angaben des Gouverneurs wurden 48 Militäroperationen in der Region durchgeführt. Bei den Dorfrazzien wurden mehr als 100 Personen festgenommen. Mindestens 61 Personen wurden bei Operationen, Dorfrazzien und Demonstrationen vom Militär angegriffen und misshandelt.

Ausgangssperren und Weideverbote

Die erste Operation begann bereits am 5. Januar 2022 im Dorf Talê direkt bei Colemêrg-Stadt. Die Dorfbewohner:innen durften ihre Häuser wegen der Operation zwei Tage lang nicht verlassen. Danach wurden die Operationen in den Bezirken Çelê (Çukurca), Şemzînan (Şemdinli), Gever (Yüksekova) und Rûbarok (Derecik) und deren Dörfern fortgesetzt. Die Operationen und Razzien waren nicht nur auf die Dörfer beschränkt. Gleichzeitig fanden auf Dutzenden von Almen und in Tälern das ganze Jahr über ununterbrochen Militäroperationen statt. Dies hat zur Folge, dass die Haupteinnahmequelle der Menschen in der Region, die Land- und Viehwirtschaft, nicht mehr auszuüben ist, dass Hirt:innen ihre Herden nicht mehr weiden lassen können und Futter für die Tiere zu teuer ist.

Weiler geräumt – Bewohner:innen erpresst

Während der Operationen wurden häufig Fälle von Folter und Misshandlung registriert. Es gab auch Fälle von Dorfräumungen und Versuche, die Bewohner:innen dazu zu zwingen, als Spitzel tätig zu werden. Am 21. April wurden im Rahmen einer Operation nach Gefechten in der Region Marînûs-Kato im Zentrum von Colemêrg alle jungen Menschen aus der Region entfernt und ein Lebensmittelembargo verhängt. Weil das Dorf Marînûs zum Sperrgebiet erklärt wurde, mussten auch die Bewohner:innen des Weilers Kûtos den Ort verlassen. Währenddessen wurde versucht, die eingeschlossenen Dorfbewohner:innen dazu zu zwingen, Spitzel zu werden.

Zivilist:innen als lebende Schutzschilde

Während einer Operation, die zwischen dem 26. und 30. Juni in den Dörfern Şîşemzîn, Xurekana Seyîda und Xurekana Temo sowie in der Region Astenga Reş bei Gever durchgeführt wurde, bombardierten Hubschrauber Gebiete, in denen Zivilist:innen Landwirtschaft betrieben. Am Tag des Beginns der Operation wurden etwa zwanzig Dorfbewohner:innen in das Einsatzgebiet gebracht. 13 der 20 Personen wurden später festgenommen. Anwält:innen der Juristenvereinigung ÖHD, die zur Polizeistation gingen, um mit den Festgenommenen zu sprechen, wurden geschlagen und über den Boden geschleift. Es stellte sich heraus, dass elf Personen, die später freigelassen wurden, mit weiteren Personen aus den Dörfern ins Operationsgebiet zurückgebracht wurden. So werden Zivilist:innen als lebende Schutzschilde des Militärs gegenüber der Guerilla eingesetzt. Die Brüder Behçet und Birhat Engüdar wurden in Haft gefoltert und konnten sich diese Verletzungen im Krankenhaus auch attestieren lassen.

Hirte gefoltert

Ali Rıza Fırat, ein Schafhirte aus dem Dorf Bilindbasan bei Gever, weidete seine Schafe im Juni und Juli auf der Qifarok-Hochebene. Dort wurde er von Soldaten schwer misshandelt, weil er sich einem Militärstützpunkt auf der gesperrten Ebene genähert habe. Während der Operation wurden unter anderem auch seine Lebensmittel und seine Ausstattung verbrannt.

Festnahmen nach Dorfrazzia

Bei einer Militäroperation, die am 27. Juli in der Umgebung des Dorfes Zêvkan in Gever durchgeführt wurde, wurden sechs Dorfbewohner festgenommen. Kemal, Halit, Şıvan, Murat, Nihat und Şükrü Polat wurden unter dem Vorwurf der „Unterstützung einer Terrorganisation“, gemeint ist die PKK, verhaftet, nachdem sie ins Visier des Gouverneurs von Hakkari geraten waren.

Folter nach Gefecht

Am 17. September kam es bei den Dörfern Memkava, Dara, Kaport und Nêbarê in Gever zu Gefechten zwischen Militär und Guerilla. Anschließend überfielen Soldaten das Dorf Memkava und nahmen zehn Mitglieder der Familie Özkaplan fest. Im Dorf Dara wurde Esat Çakmak von der Polizei verprügelt und festgenommen. Die Misshandlungen hörten auch während der Haft nicht auf. Während Çakmak im Anschluss verhaftet wurde, wurden die übrigen zehn Personen freigelassen.

In der Nacht des 2. Oktober wurde nach einer Explosion in der Nähe des 75. Polizeireviers im Kışla-Viertel von Gever das Viertel abgeriegelt. Die Polizei stürmte das Haus der Familie Adar und schlug die Familienmitglieder, darunter Kinder und ältere Menschen.

Nacktdurchsuchungen und Schläge

In Gever griff die Polizei am 9. Oktober eine Demonstration zum 24. Jahrestag des internationalen Komplotts gegen Abdullah Öcalan an. HDP-Abgeordnete und Journalist:innen wurden misshandelt. Dem HDP-Abgeordneten Habip Eksik wurde dabei von der Polizei vorsätzlich das Bein gebrochen. Sieben festgenommene kurdische Politikerinnen wurden nackt durchsucht.

In den Dörfern Şîvelan und Xana Mûsa in Colemêrg wurde versucht, Bewohner:innen zu zwingen, als Spitzel und Paramilitärs tätig zu werden. Dorfbewohner:innen, die dies ablehnten, berichteten, dass sie vom Kommandanten der Militärpolizei von Bagışlı bedroht wurden. Am 12. Oktober wurde eine Person namens Özcan Sivas bei einer Razzia festgenommen.

Straflosigkeit

Während einer am 25. Oktober eingeleiteten und bis zum 2. November andauernden Operation in der Umgebung des Dorfes Sorê wurde der 16-jährige Hirte M.A. von Soldaten geschlagen und festgehalten. Die Soldaten nahmen M.A. das Telefon ab zerrten ihn in ein Panzerfahrzeug und schlugen ihn.

Es wurde kein einziges Ermittlungsverfahren wegen der Misshandlungen und der Folter eingeleitet, die eingereichten Strafanzeigen führten zu keinem Ergebnis.