„Tausend Grüße an Imrali“

Trotz behördlichen Verboten, massiver Polizeipräsenz, Gewalt und Festnahmen haben sich tausende Menschen in Nordkurdistan und der Türkei an Protesten gegen das internationale Komplott beteiligt. „Tausend Grüße an Imrali“ war vielerorts zu hören.

Trotz behördlichen Verboten, massiver Polizeipräsenz und Gewalt haben sich tausende Menschen in zahlreichen Städten der Türkei am Sonntag an Protesten für die Abschaffung des Isolationsregimes auf der Gefängnisinsel Imrali und eine Lösung der kurdischen Frage beteiligt. Anlass war der 24. Jahrestag der erzwungenen Ausreise des PKK-Begründers Abdullah Öcalans aus Syrien – der Beginn des „internationalen Komplotts“.

Amed: Der Weg des Friedens führt über Imrali

In der nordkurdischen Großstadt Amed (tr. Diyarbakır) zog eine Demonstration lautstark durch die Einkaufsmeile Emek. Die Menschen drückten ihren Protest durch Klatschen und Pfeifen aus, besonders laut war der Jugendblock, aus dem immer wieder „Bijî Serok Apo”, „Jin, Jiyan, Azadî” und „Es lebe der Widerstand der Gefangenen“ zu hören war. Auf Höhe der Sakarya Caddesi kesselte die Polizei den Marsch ein und forderte die Beteiligten auf, sich aufzulösen. Andernfalls werde die Demonstration mit Gewalt auseinandergetrieben.


Die HDP-Abgeordnete Meral Danış Beştaş verurteilte die Drohungen und sagte: „Kriminelle Banden haben die Politik unterwandert, die Ressourcen des Landes werden geplündert, hinter Gefängnismauern herrscht absolute Gewalt und Isolation, aber Protest gegen das internationale Komplott ist verboten.“ Die DBP-Vorsitzende Saliha Aydeniz erklärte, der um die Demonstration gezogene Kessel sei ein Abbild der Schlinge, die die am Komplott beteiligten Mächte um den Hals des Landes gelegt hätten. „Es war ein Piratenakt, der weiterhin andauert, bestehende Probleme verschärft und neue Krisen verursacht. Wir verurteilen diese Verschwörung und alle Beteiligten und sagen: Abdullah Öcalan ist der Einzige, der eine Lösung für die Krisen hat und den Weg zum Frieden weisen kann. Der Weg des Friedens führt über Imrali. Wichtige Schritte können nur gegangen werden, wenn die Isolation aufgehoben wird“.

Istanbul: Marsch über die Istiklal Caddesi

In Istanbul gab es gleich zwei Aktionen – sowohl auf der europäischen als auch der asiatischen Seite der Bosporus-Metropole. Rund um den Taksim im zentralen Stadtteil Beyoğlu hatte die Polizei die Gegend um die zentrale Einkaufsstraße Istiklal großräumig abgesperrt, an den Seitenstraßen standen Bereitschaftspolizisten. Dennoch gelang es mehreren hundert Menschen, sich zu einer Demonstration zu vereinen. Unter Parolen wie „Nein zum Komplott“ und „Tausend Grüße an Imrali“ marschierten die Beteiligten über die Istiklal Caddesi und forderten lautstark die Aufhebung der Isolation von Öcalan ein. Unter ihnen waren auch mehrere Parlamentsabgeordnete der HDP, darunter Dilşat Canbaz. Die Politikerin sagte, dass die Isolationshaft auf Imrali symbolisch für das Schicksal aller Kurdinnen und Kurden stehe. „Der Umgang mit ihm gilt als Gradmesser für den Umgang mit der gesamten kurdischen Bevölkerung. Seine Freiheit bedeutet daher auch, einen friedlichen Weg zur Lösung der kurdischen Frage – der Mutter aller Probleme – zu finden und diesem Land und seinen Menschen eine lebenswerte und lebensfähige Zukunft zu ermöglichen.“

Die Polizei kesselte die Demonstration in der Folge ein und löste sie gewaltsam auf. Canbaz‘ Fraktionskollege Ömer Öcalan, ein Neffe von Abdullah Öcalan, protestierte dagegen und bezeichnete das Vorgehen als „Ausdruck des tief verankerten Faschismus“. Rassistisch motivierte Provokationen von umstehenden Nationalisten würden von der Polizei begrüßt, Appelle zum Frieden dagegen gewaltsam unterdrückt, sagte der Abgeordnete.

Die in Kadıköy geplante Demonstration konnte nicht stattfinden. Der als Startpunkt genannte Sitz des HDP-Kreisverbands wurde von der Polizei umstellt, die Menschenmenge regelrecht belagert. Verhandlungen der Parlamentsabgeordneten Musa Piroğlu und Zeynel Özen mit der Einsatzleitung brachten keine Ergebnisse, Durchlass in das Parteigebäude wurden den Beteiligten dennoch nicht gewährt. Am Ende wurde die Zusammenkunft unter Gewalteinsatz aufgelöst.

Landesweit mindestens 139 Festnahmen

In Qoser (Kızıltepe) bei Mêrdîn, Bazîd (Doğubayazıt), Riha (Urfa), Cizîr, Şirnex, Adana, Mersin, Izmir, Semsûr (Adıyaman), Dîlok (Antep), Colemêrg (Hakkari), Wan und weiteren Städten fanden ebenfalls Demonstrationen und Kundgebungen statt. Auch hier ging die Polizei vielerorts gewaltsam vor und löste die Veranstaltungen auf. Außerdem wurden zahlreiche Menschen festgenommen. Bisher konnten landesweit knapp 140 Festnahmen bestätigt werden. In Istanbul wurden unter anderem der Ko-Vorsitzende der HDP Kadıköy, Koray Türkay, die Journalistinnen Esra Solin Dal und Ömer İbrahimoğlu sowie die im Juristenverein ÖHD organisierten Anwält:innen Gürkan İstekli, Emrah Baran Korkmaz, Bülent Aşa und Elvan Polat in Gewahrsam genommen. In Amed nahm die Polizei unter anderem die die Ko-Vorsitzenden der Provinzverbände von HDP und DBP fest, auch Aktivist:innen zivilgesellschaftlicher Organisationen wie des Gefangenensolidaritätsvereins Mebya-Der wurden abgeführt. Die meisten Festnahmen fanden in Wan statt. Dort befinden sich 55 Personen in Polizeihaft.


Das Komplott und die Forderungen der kurdischen Gesellschaft

Am 9. Oktober 1998 musste der kurdische Vordenker Syrien auf Druck der NATO verlassen. Er gab sich für einen Friedensprozess auf eine monatelange Odyssee quer durch Europa, die am 15. Februar 1999 in seine Verschleppung aus der kenianischen Hauptstadt Nairobi in die Türkei mündete. An dem völkerrechtswidrigen Piratenakt waren viele Staaten und Geheimdienste beteiligt, darunter die USA, Israel und Griechenland. Öcalan befindet sich seitdem auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali, die meiste Zeit in absoluter Isolation.

Dabei ist Öcalan, Vordenker der kurdischen Befreiungsbewegung, der einzige Akteur mit einem Lösungsplan für die vielfältigen Krisen in der Türkei und eine Demokratisierung des Landes. Er versteht sich als Architekt für Freiheit und Frieden, sein Name steht hinter einer politischen und demokratischen Lösung der kurdischen Frage und der Idee einer gleichberechtigten Koexistenz aller Völker in der Region. Doch das türkische Regime hat kein Interesse an Frieden und Demokratie.

Für die kurdische Gesellschaft bedeutet die in Ankara herrschende Politik der Lösungsverweigerung eine Verschärfung der seit Gründung der Republik gültigen Kriegssituation in Kurdistan. Die ungelöste kurdische Frage wird als eine der Hauptursachen für die Systemkrise in der Türkei und die Institutionalisierung der Konfliktbereitschaft angesehen. Als Ausgangsbasis der Entwicklungen im Land gilt das eigens für Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali installierte Ausnahmezustandsregime, das sich wie ein Wundbrand auf alle Bereiche des Lebens auswirkt. Um eine demokratische Lösung der kurdischen Frage, die Wiederaufnahme eines Friedensprozesses und die Überwindung aller anderen Krisen im Land zu erreichen, muss die Isolation auf Imrali aufgehoben werden. Das sind die Hauptforderungen der Demonstrationen, zu denen die Parteien HDP und DBP zusammen mit der Frauenbewegung TJA und der kurdischen Gefangenensolidaritätsbewegung unter dem Schlagwort „Wir marschieren zur Freiheit und durchbrechen die Isolation“ aufgerufen hatte.