Erdoğans Spitzelnetz
Eine ZDF-Dokumentation deckt die Machenschaften des türkischen Geheimdienstes in Deutschland auf. Politische Hintergründe kommen dabei allerdings zu kurz, findet der Historiker und Journalist Nick Brauns.
Eine ZDF-Dokumentation deckt die Machenschaften des türkischen Geheimdienstes in Deutschland auf. Politische Hintergründe kommen dabei allerdings zu kurz, findet der Historiker und Journalist Nick Brauns.
„Etwa drei Millionen sogenannte Deutschtürken leben in Deutschland. Darunter auch Kritiker des türkischen Präsidenten Erdoğan. Viele von ihnen fühlen sich bedroht.“ So beginnt die von den Reporterinnen Susana Santina und Simone Müller erstellte ZDFzoom-Dokumentation „Im Dienste Erdoğans“ über die Machenschaften des türkischen Geheimdienstes MIT in Deutschland. Der zur späten Stunde im ZDF gezeigte und weiterhin in der Mediathek abrufbare Film zeigt die Arbeitsweise des türkischen Geheimdienstes und seines Spitzelnetzwerke auf. Zu kurz kommen dabei allerdings die politischen Hintergründe, warum deutsche Behörden den MIT dabei weitgehend gewähren lassen.
Die hauptamtlichen Mitarbeiter des MIT sind häufig als Diplomaten oder Mitarbeiter diplomatischer Einrichtungen getarnt an der Botschaft oder den 13 Konsulaten angestellt. Als Mitarbeiter von „Legalresidenturen“ – so der Fachbegriff für die in Botschaften oder Konsulate eingebetteten inoffiziellen Geheimdienstabteilungen – genießen sie diplomatische Immunität und können nicht strafrechtlich wegen Agententätigkeit verfolgt werden.
Neben den einigen hauptamtlichen Mitarbeitern, die häufig an diplomatische Vertretungen der Türkei angebunden sind, gibt es in Deutschland ein Netzwerk von 8000 Spitzeln des MIT. Diese im Vergleich zu anderen Ländern „gigantische“ Zahl nennt der in Weilheim lebende renommierte Geheimdienstexperte Erich Schmidt-Eenboom. Laut der Dokumentation trifft sich Schmidt-Eenboom regelmäßig mit Mitarbeitern des deutschen Inlandsgeheimdienstes, der ebenfalls von einer so hohen Zahl türkischer Geheimdienstzuträger ausgehe.
Eine zentrale Rolle spielen hier die fast 1000 Moscheen des Islamverbandes DITIB, der direkt dem türkischen Religionsamt Diyanet untersteht. So leiten Imame Informationen über Oppositionelle, etwa über Anhänger der Gülen-Bewegung, an die Konsulate weiter. Bekannt ist das auch den deutschen Behörden. Doch ein 2017 deswegen gegen mehrere Imame eingeleitetes Ermittlungsverfahren wurde eingestellt, nachdem die durch Presseartikel vorgewarnte türkische Regierung die betroffenen Religionsbeamten außer Landes bringen ließ.
Dass DITIB-Moscheen dem MIT zuarbeiten, ist keineswegs eine neue Erkenntnis. Bereits am 18. April 1994 hatte das Nachrichtenmagazin Focus darüber berichtet. „Horchposten sind hier die zirka 700 staatlichen Moscheen in Deutschland. Nach FOCUS-Recherchen sind die über die Konsulate bezahlten Imame als geistliche Oberhäupter verpflichtet, alle vier Monate einen detaillierten Bericht über das Innenleben der türkischen Gemeinden zu schreiben. Bei ‚Angelegenheiten der inneren Sicherheit‘, so schreibt es die Operation mit dem Decknamen ‚Wohlstand‘ vor, ist das jeweilige Konsulat umgehend zu verständigen.“ Damals befand sich nach FOCUS-Erkenntnissen die Deutschland-Zentrale des MIT in der DITIB-Moschee in Köln-Ehrenfeld.
Neben Moscheen finden sich Zuträger des MIT unter anderem in Reisebüros und türkischen Banken in Deutschland. „Als Mitarbeiter getarnte Spione schnüffeln dann nicht selten Geldströme und Reisebewegungen aus“, weiß Schmidt-Eenboom. Dies ist spätestens seit Ende 2014 bekannt, als die deutsche Polizei ein türkisches Agententrio festnahm. Der Prozess gegen den ehemaligen Erdogan-Berater Muhammed Taha Gergerlioğlu und zwei von ihm geführte Agenten, die kurdische, alevitische und ezidische Aktivisten ausgespäht hatten, wurde zwar im Mai 2015 gegen Zahlung von 70.000 Euro an die Staatskasse ohne Verurteilung der drei Angeklagten eingestellt. Aber der Anklageschrift war zu entnehmen, wie einer der Agenten als Mitarbeiter eines Reisebüros in Deutschland Reisepläne von Oppositionellen an den MIT weitergab, so dass die Betroffenen bei ihrer Einreise in die Türkei festgenommen werden konnten.
Aufgrund seiner Spielsucht habe er Schulden gehabt, beichtete ein früherer Spitzel anonym gegenüber dem ZDF. Der MIT bot ihm Geld für Informationen aus oppositionellen Vereinen, in denen er verkehrte. Andere MIT-Zuträger stehen gar nicht auf der Gehaltsliste des türkischen Geheimdienstes. „Sie fühlen sich in ihrer tiefen Verehrung des türkischen Präsidenten dazu berufen, ihre Mitbürger in Deutschland zu bespitzeln und zu verraten“, heißt es in der Sendung.
Das Auswärtige Amt warnt in den Reise- und Sicherheitshinweisen Türkeireisende zwar ausdrücklich vor dem Risiko von Festnahmen, Einreiseverweigerungen und Ausreisesperren im Zusammenhang mit Aktivitäten in sozialen Netzwerken und weist dabei auch auf die Möglichkeit anonymer Denunziation hin. Denunziationen sind von Deutschland aus schon per Mobiltelefon über eine kostenlose Polizei-App namens EGM Mobile möglich. Dass eine Anzeige etwa wegen Erdoğan-kritischer Facebookpostings gegen sie vorliegt, erfahren die Betroffenen häufig erst, wenn sie bei der Einreise in die Türkei am Flughafen festgenommen werden. Nur wer Glück hat, wird vorher bei einem Besuch im türkischen Konsulat etwa wegen einer Ausweisverlängerung auf ein Ermittlungsverfahren oder einen offenen Haftbefehl in der Türkei hingewiesen. Die Betroffenen trauen sich aus Angst vor einer Verhaftung oder einem Ausreiseverbot dann nicht mehr, in die Türkei zu reisen.
Opfer einer Denunziation durch einen Geheimdienstzuträger wurde auch der Vorsitzende der alevitischen Union Europas Turgut Öker, der derzeit aufgrund laufender Strafverfahren die Türkei nicht verlassen darf. Der Spitzel aus Nordrhein-Westfahlen, der sich gegenüber dem ZDF seiner Tat brüstet, da Öker ein „Terrorist“ sei, hatte über die Handy-App fälschlich behauptet, dass Öker die PKK unterstütze und auf einer Kundgebung eine türkische Fahne verbrannt habe. Ökers Anwalt Mahmut Erden aus Hamburg hat den MIT-Zuträger im Gegenzug wegen Spionagetätigkeit angezeigt. Auch die Bundestagsabgeordnete der Linken, Sevim Dagdelen, betont, dass Spitzeltätigkeit für den türkischen Geheimdienst eine Straftat darstelle. In der Tat droht nach Paragraph 99 des Strafgesetzbuches jedem bis zu fünf Jahren – in schweren Fällen sogar zehn Jahre – Haft, der „für den Geheimdienst einer fremden Macht eine geheimdienstliche Tätigkeit gegen die Bundesrepublik Deutschland ausübt“. Doch die Agentenführer agieren häufig unter dem Schutz diplomatischer Immunität. Und der Nachweis, dass eine Denunziation, die über die EGM Mobile App erfolgte, zur Einleitung eines Strafverfahrens in der Türkei geführt hat, ist ohne Kenntnis der Akten nicht möglich. Zudem kann eine solche Denunziation auch anonym erfolgen.
Ein im Herbst 2018 eingeleiteter Prüfvorgang des Generalbundesanwaltes zur Feststellung, ob im Zusammenhang mit der EGM Mobile App der Anfangsverdacht auf eine Straftat vorliege, verlief im Sande. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags vertrat bereits im September 2018 die Auffassung, dass die Nutzung der App EGM Mobile unter den Straftatbestand der „Politischen Verdächtigung” fallen könnte. Dort heißt es: „Wer einen anderen durch eine Anzeige oder eine Verdächtigung der Gefahr aussetzt, aus politischen Gründen verfolgt zu werden (…), wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.” Die Weiterverbreitung der App an sich kann nach Auffassung des Wissenschaftlichen Dienstes nur schwerlich verhindert werden, da Telemedienanbieter erst einmal nicht für den strafrechtlichen Missbrauch ihrer Programme verantwortlich seien.
Mit dem türkischen Geheimdienst verbunden sind gewalttätige Gruppierungen, wie die im Jahr 2018 vom Bundesinnenministerium verbundenen Osmanen Germania. Auch von Mordanschlägen gegen Oppositionelle im Ausland berichtet die ZDF-Dokumentation. Erwähnt wird hier die Ermordung der kurdischen Revolutionärinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez im Januar 2013 in Paris. Dass der türkische Geheimdienst hinter dem Anschlag stecke, sei der französischen Anklageschrift gegen den vor Prozessbeginn im Gefängnis verstorbenen Mörder Ömer Güney zu entnehmen, erklärt Schmidt-Eenboom. Verwiesen wird in der Dokumentation auch auf die diesbezüglichen Aussagen von zwei MIT-Agenten, die – so heißt es – „von kurdischen Spezialeinheiten in der kurdischen Autonomieregion im Irak festgenommen wurden“. Tatsächlich wurden die beiden Agenten von einem Kommando der PKK gefangenen genommen. Ihre von der Nachrichtenagentur Firat News verbreiteten Aussagen hält Schmidt-Eenboom aufgrund ihres Detailwissens etwa über Befehlshierarchien beim Geheimdienst für glaubwürdig.
Der im Berliner Exil lebende Journalist Hayko Bağdat berichtet zwar, von Mordplänen gegen sich erfahren zu haben. Nicht in der Dokumentation erwähnt aber bekannt wurden zudem Anschlagspläne gegen den in Bremen lebenden Co-Vorsitzenden des kurdischen Dachverbandes KCDE-K, Yüksel Koç, durch den wegen Agententätigkeit vom Hamburger Oberlandesgericht im Jahr 2017 zu einer Bewährungsstrafe verurteilten MIT-Mitarbeiter Mehmet Fatih S. Doch in Deutschland hält sich der türkische Geheimdienst nach Schmidt-Eenbooms Einschätzung mit politischen Morden zurück, weil die Bundesregierung Ankara gegenüber deutlich gemacht habe, dass es sich dabei um eine rote Linie handele, die nicht überschritten werden dürfe.
Dies scheint aber die einzige rote Linie für den türkischen Geheimdienst zu sein. Gleichzeitig gibt es seit Jahrzehnten eine äußerst enge Kooperation zwischen deutschen und türkischen Nachrichtendiensten, die vor dem Hintergrund des Aufkommens des dschihadistischen Terrorismus insbesondere in den letzten beiden Jahrzehnten noch einmal an Bedeutung gewonnen hat. Der Widerspruch, dass der MIT etwa in Syrien und Libyen bis heute genau jene islamistischen Kampfgruppen aus dem Umfeld der Al Qaida und des Islamischen Staates mit Waffen und Logistik unterstützt, die in Deutschland als terroristisch verfolgt werden, ist natürlich auch den deutschen Behörden bekannt. Dies aber versetzt den MIT in eine Position der Stärke, kann er doch die deutschen Partnerdienste mit seiner Nähe zu den islamistischen Terroristen, deren Bewegungen er zumindest teilweise kontrolliert, regelrecht erpressen. So ist der Eifer der deutschen Behörden, gegen die auch nach deutschen Gesetzen verbotene türkische Agententätigkeit vorzugehen, gering. Im Vordergrund stehen symbolische Verwarnungen der türkischen Spione.
Im letzten Verfassungsschutzbericht des Bundes wurden die Aktivitäten des eigentlich befreundeten türkischen Geheimdienstes im Kapitel über „Spionage und sonstige nachrichtendienstliche Aktivitäten“ abgehandelt, das sich sonst als mit gegnerischen Diensten wie dem chinesischen, russischen und iranischen befasst. Erwähnt werden neben Aufklärungstätigkeit gegen „Vereinigungen und Einzelpersonen, die in tatsächlicher oder mutmaßlicher Opposition zur gegenwärtigen türkischen Regierung stehen“ auch „Einflussnahmeversuche auf türkeistämmige Gemeinschaften in Deutschland und den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsfindungsprozess in der deutschen Gesellschaft insgesamt“. Im Fokus des MIT ständen Organisationen, die ein der Türkei als „extremistisch oder terroristisch eingestuft“ werden. Dies seien insbesondere die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) und die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) sowie die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen.
Bis auf die Gülen-Bewegung, deren nach Deutschland geflohene Anhänger im Gegenzug für die Weitergabe von Informationen aus ihrer langjährigen Unterwanderung des türkischen Staates den Schutz der deutschen Behörden genießen, gelten diese Organisationen auch aus Sicht der Bundesregierung als linksextremistisch und terroristisch. Neben der traditionellen, geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen geschuldeten Rücksichtnahme auf die Regierung in Ankara dürfte dies der Hauptgrund sein, warum die Bundesregierung das gigantische Spionagenetzwerk des MIT in Deutschland bei seiner Ausforschung und Einschüchterung von Exiloppositionellen gewähren lässt.
*Der Autor, Historiker und Journalist Dr. Nikolaus „Nick“ Brauns lebt in Berlin. Er veröffentlichte Bücher und Artikel zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Deutschland sowie zur Geschichte und Politik der Türkei, der Kurden und des Nahen und Mittleren Ostens, unter anderem bei junge Welt und Yeni Özgür Politika. Mehrmals war er als Mitglied diverser Delegationen in den Regionen unterwegs und berichtete ausführlich über seine Eindrücke. Mit Brigitte Kiechle schrieb Brauns das Buch „PKK – Perspektiven des kurdischen Freiheitskampfes: zwischen Selbstbestimmung, EU und Islam“, mit Murat Çakır verfasste er das Werk „Partisanen einer neuen Welt – Eine Geschichte der Linken und Arbeiterbewegung der Türkei“. Der hier veröffentlichte Artikel erschien zuerst am 12. Juni 2020 bei der Tageszeitung Yeni Özgür Politika