Freibrief für Erdoğans Agenten
Seit Jahrzehnten agiert der türkische Geheimdienst illegal in Deutschland – die Bundesregierung schweigt dazu.
Seit Jahrzehnten agiert der türkische Geheimdienst illegal in Deutschland – die Bundesregierung schweigt dazu.
Gleich zwei Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche Spione des türkischen Geheimdienstes MIT wurden vor kurzer Zeit in Deutschland ergebnislos eingestellt.
So verkündete die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, dass sie ihre Ermittlungen gegen 19 Imame des Moscheedachverbandes DITIB eingestellt habe. Diese Angestellten der türkischen Religionsbehörden DIYANET standen im Verdacht, Kritiker des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in Deutschland ausgespäht zu haben. Gegen fünf Imame seien die Ermittlungen mangels hinreichendem Tatverdacht eingestellt wurden, ließ die Bundesanwaltschaft verlauten. Gegen sieben weitere könne aufgrund von „Verfahrenshindernissen“ nicht weiter ermittelt werden, die Religionsbeamten hätten Deutschland verlassen und hielten sich an einem „unbekannten Ort“ auf. Allerdings waren die Ermittlungen durch die Bundesanwaltschaft erst zu einem Zeitpunkt eingeleitet worden, nachdem DIYANET seine durch Presseberichte gewarnten Imame abgezogen hatte. An dieser Stelle drängt sich der Eindruck von Strafvereitelung im Zusammenwirken deutscher und türkischer Behörden regelrecht auf.
Verfahren gegen Mustafa K. in Hamburg eingestellt
Ebenfalls eingestellt wurde ein von der Staatsanwaltshaft Hamburg gegen Mustafa K. geführtes Ermittlungsverfahren wegen „geheimdienstlicher Agententätigkeit“. Die Vorsitzende der Hamburger Linksfraktion Cansu Özdemir hatte den in Hamburg wohnhaften Gemüsehändler Mustafa K. angezeigt, der sie und weitere kurdische Politikerinnen observiert hatte. In einer Tonaufnahme, die Özdemir zugespielt wurde, hatte Mustafa K., der jahrelang in einem kurdischen Kulturverein am Steindamm ein- und ausging, mit einem mutmaßlichen Führungsoffizier des türkischen Geheimdienstes MIT über Anschlagpläne auf eine kurdische Exilpolitikerin gesprochen. Die Generalbundesanwaltschaft hatte die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen Mustafa K. von Anfang an abgelehnt, da der Tonmitschnitt ohne dessen Wissen angefertigt und von daher nicht strafprozessual verwertbar sei.
Mildes Urteil gegen MIT-Spion Mehmet Fatih S.
Immerhin angeklagt und auch verurteilt wegen Spionage wurde dagegen vom Oberlandesgericht Hamburg im Oktober 2017 der türkische Agent Mehmet Fatih S.. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Mehmet Fatih S. im Auftrag des türkischen Geheimdienstes kurdische Verbandsvertreter, darunter den in Bremen lebenden Ko-Vorsitzenden des kurdischen Dachverbandes KCDK-E Yüksel Koç ausgespäht und dafür einen Agentenlohn kassiert hatte. Nicht zur Anklage kam dagegen der von Mehmet Fatih S.‘ ehemaliger Lebensgefährtin erhobene und viel gravierendere Vorwurf, wonach Mehmet Fatih S. an einen Mordkomplott des Geheimdienstes auf Yüksel Koç beteiligt war. Verurteilt wurde Mehmet Fatih S. so nur zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren. Mehmet Fatih S. sei nicht vorbestraft und er sei nicht sehr professionell vorgegangen, begründete die Richterin das milde Urteil. Die Strafe sei zur Bewährung ausgesetzt, da zu erwarten sei, dass dies dem Verurteilten als Warnung diene und er keine weiteren Straftaten begehen werde.
Für andere türkische Agenten muss ein solches mildes Urteil dagegen geradezu als Freibrief erscheinen, ihre Tätigkeit fortzusetzen. Werden sie überführt, können sie dies als Beleg ihres Dilettantismus anführen und deswegen mildernde Umstände vor Gericht einfordern.
Verfahren gegen Agententrio eingestellt
Dass es im Falle von Mehmet Fatih S. überhaupt zu einer Verurteilung kam, kann angesichts der sonst in solchen Fällen üblichen Verfahrenseinstellungen schon als kleine Sensation gelten. So war ein anderer spektakulärer Prozess gegen eine Zelle des türkischen Geheimdienstes im Mai 2015 gegen Zahlung von 70.000 Euro an die Staatskasse ohne Verurteilung der drei Angeklagten eingestellt worden. Angeklagt waren der vom Gericht als reisender Führungsoffizier des türkischen Geheimdienstes eingestufte ehemalige Erdoğan-Berater Muhammed Taha Gergerlioğlu und zwei seiner Mitarbeiter, die unter anderem kurdische, alevitische und ezidische Oppositionelle in Deutschland ausgespäht und deren Daten an den Geheimdienst weitergeleitet haben sollen.
Die Verhaftung des Agententrios im Dezember 2014 konnte als Warnung an Ankara gesehen werden, nachdem die türkische Polizei kurz davor die Redaktion der oppositionellen Zeitung Zaman in Istanbul gestürmt und mehrere ihrer Mitarbeiter verhaftet hatte. Denn die Gülen-Bewegung, die hinter der Zaman stand, genießt den besonderen Schutz westlicher Regierungen und Geheimdienste.
Im Frühjahr 2016 dagegen beherrschte der Flüchtlingsdeal mit der Türkei die deutsch-türkische Agenda. Die offiziell aus „prozessökonomischen Gründen“ aufgrund langer Verfahrensdauer erfolgte Einstellung des Spionageprozesses vor dem Oberlandesgericht Koblenz dürfte ein Zugeständnis an Erdogan in diesem Rahmen gewesen sein.
Deutsch-türkische Zusammenarbeit hat Tradition
Abgesehen von kleineren Verwarnungen hat die Bundesregierung kein Interesse daran, gegen die Strukturen des türkischen Geheimdienstes in Deutschland ernsthaft vorzugehen. Schließlich waren Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst jahrzehntelang die engsten Partnerdienste des türkischen Geheimdienstes. Nur die US-Geheimdienste hatten traditionell eine noch innigere Beziehung zu ihren Partnern am Bosporus.
Die bereits kurz nach Gründung der Bundesrepublik in den 50er Jahre in der Türkei eröffnete Residentur des Bundesnachrichtendienstes gehörte zu den ersten BND-Auslandsvertretungen überhaupt. 1978 baute ein ranghoher BND-Mitarbeiter das Informations- und Dokumentationssystem des MIT auf. „So lautete lange Jahre der Deal:“, hieß es im Handelsblatt vom 3. Februar 2016, „Der Westen nutzt die Türkei als Lauschstation Richtung Sowjetunion und schaut dafür nicht so genau hin, wenn die Türken in Europa aktiv waren.“ Die Sowjetunion gibt es zwar nicht mehr, doch die Türkei hat von ihrer geopolitischen Bedeutung für den Westen nichts eingebüßt.
Mord und Verschleppung in Deutschland
So ermordete der MIT mit Hilfe von Grauen Wölfen und Islamisten 1980 in Berlin den türkischen Kommunisten und Gewerkschafter Celalettin Kesim, doch die deutschen Ermittler gingen der Spur nach Ankara nicht weiter nach. 1986 verschleppte der türkische Geheimdienst vier Mitglieder der linksradikalen Organisation Dev Sol, die in Deutschland Asyl beantragt hatten, aus Stuttgart nach Ankara, wo sie zu langen Haftstrafen verurteilt wurden. Bis heute behauptet die Bundesregierung auf Nachfrage der Linksfraktion, nichts über diese Verschleppungen zu wissen.
„Angelegenheiten der inneren Sicherheit“
Dass DITIB-Moscheen dem MIT zuarbeiten, ist keineswegs eine neue Erkenntnis. Bereits am 18. April 1994 hatte das Nachrichtenmagazin Focus darüber berichtet. „Horchposten sind hier die zirka 700 staatlichen Moscheen in Deutschland. Nach FOCUS-Recherchen sind die über die Konsulate bezahlten Imame als geistliche Oberhäupter verpflichtet, alle vier Monate einen detaillierten Bericht über das Innenleben der türkischen Gemeinden zu schreiben. Bei ‚Angelegenheiten der inneren Sicherheit‘, so schreibt es die Operation mit dem Decknamen ‚Wohlstand‘ vor, ist das jeweilige Konsulat umgehend zu verständigen.“ Damals befand sich nach FOCUS-Erkenntnissen die Deutschland-Zentrale des MIT in der DITIB-Moschee in Köln-Ehrenfeld.
Agentennetzwerk und nationalistische Schlägertruppe
Das Agentennetzwerk des MIT wird mittlerweile auf rund 6000 Mitarbeiter und Informanten geschätzt. Agenten und Zuträger des Geheimdienstes sind in Moscheevereinen und türkischen Gemeinden ebenso aktiv, wie in türkischen Banken und Reisebüros, wo sie an Reise- und Kontodaten von Oppositionellen kommen können. Zudem nimmt der Geheimdienst auch nach Ansicht deutscher Ermittler Einfluss auf die rockerähnliche Gruppierung Osmanen Germania, die so offensichtlich zu einer nationalistischen Schlägertruppe zur Einschüchterung von Oppositionellen umgebaut werden soll.
Infiltrierung deutscher Behörden
Bereits früher hatte der MIT von deutschen Behörden genutzte Dolmetscher als Quellen zu rekrutieren versucht. Mittlerweile gibt es Hinweise, wonach türkische Agenten die Polizei, den Verfassungsschutz und das Bundesamt für Migranten und Flüchtlinge (BAMF) direkt zu infiltrieren suchten. Schlagzeilen machte vorübergehend der Fall einer hochrangigen türkischstämmigen Beamtin der hessischen Polizei mit engsten Kontakten zum türkischen Konsulat. Der Verfassungsschutz entlastete allerdings im Juli 2017 die Beamtin vom Vorwurf, eine Agentin des MIT zu sein. Die Kontakte zu türkischen Institutionen habe sie aus dienstlichen Gründen gepflegt.
Viele linksradikale und kurdische Kritiker der türkischen Regierung in Deutschland kann ein solcher Persilschein für diese Polizistin nicht beruhigen, werden sie doch von türkischen und deutschen Behörden gleichermaßen verfolgt und als terroristisch eingestuft. Solange es gegen die kurdische Freiheitsbewegung oder radikale Linke aus der Türkei geht, drücken deutsche Behörden gerne beide Augen zu, wenn türkische Agenten Exilpolitikern auf den Zahn fühlen oder diese direkt bedrohen.
Prozess gegen zehn Kommunist*innen in München
Eine Ausnahme stellt hier lediglich die über gute Beziehungen zur Bundesregierung verfügende Gülen-Bewegung da. Als der türkische Geheimdienstchef Hakan Fidan im Februar 2017 dem BND-Chef Bruno Kahl eine Liste mit Namen von in Deutschland lebenden Gülen-Anhängern und Institutionen gab, protestierte die Bundesregierung entschieden gegen diese Spionage auf deutschem Boden. Dass kurz davor ebenso durch türkische Spionage in Deutschland zustande gekommene Erkenntnisse gegen Anhänger der maoistischen TKP/ML als Beweis in einen Terrorismusprozess gegen zehn Kommunisten in München einfließen durften, offenbart die Doppelmoral der Bundesregierung.
Der Mord an Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez
Auch andere EU-Staaten sind darum bemüht, illegale Aktionen des MIT in ihren Ländern nicht an die große Glocke zu hängen, um es nicht zu Spannungen mit Ankara kommen zu lassen. So stellte zwar die im Falle der Ermordung von PKK-Mitbegründerin Sakine Cansız und ihren Genossinnen Fidan Doğan und Leyla Şaylemez ermittelnde Pariser Staatsanwaltschaft in ihrer Anklageschrift fest, dass der türkische Geheimdienst in diese Morde im Januar 2013 verwickelt sei. Doch der Prozessbeginn gegen den Mörder Ömer Güney wurde so lange verschleppt, bis der unter einer schweren Erkrankung leidende mutmaßliche Agent in Untersuchungshaft verstarb.
Der Bundesregierung liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass der MIT seine Spionagearbeit in Deutschland nach dem gescheiterten Putsch vom Juli 2016 ausgeweitet und intensiviert hat. Gegner der türkischen Regierungspartei AKP und von Erdoğan in Deutschland sollen bekämpft und es soll für den nationalistisch-islamistischen Kurs in der Türkei geworben werden, heißt es in der Antwort auf eine parlamentarische Frage der Linksfraktion.
„Wichtiger Partner bei der Terrorbekämpfung"
Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen hatte im Juli 2017 erklärt, dass man die Türkei „spätestens“ seit dem Putschversuch im Sommer vorigen Jahres „nicht nur als Partner, sondern mit Blick auf Einfluss-Operationen in Deutschland auch als Gegner“ betrachte. Doch gleichzeitig nannte Maaßen den türkischen Geheimdienst einen „wichtigen Partner“ bei der Terrorbekämpfung. Eingedenk der von Journalisten wie Can Dündar enthüllten Tatsache, dass der MIT terroristische Organisationen wie den Islamischen Staat oder Al Qaida in Syrien jahrelang mit Waffen und Logistik unterstützt hat, mutet diese Aussage hochgradig lächerlich an.
Beschränkung auf Linksradikale und Kurden
Da die Bundesregierung die in der Türkei als Fethullah-Terrororganisation (FETÖ) scharf verfolgte Gülen-Bewegung nicht als terroristisch einschätzt und die türkische Regierung ihre schützende Hand über islamistische Terroristen hält, muss sich diese Kooperation bei der Terrorbekämpfung in der Praxis auf linksradikale und kurdische Vereinigungen beschränken, die in beiden Ländern als Staatsfeinde gelten.
Rücksichtnahme oder Angst?
Allerdings könnte die weiterhin gepflegte Rücksichtnahme der deutschen Behörden auf die illegalen Aktivitäten des MIT gerade auch mit dessen Nähe zu dschihadistischen Terrororganisationen zu erklären sein. Erdogans im März 2017 geäußerte Drohung, kein Europäer werde mehr sicher auf der Straße gehen können, dürfte nach einer Vielzahl von Anschlägen in Europa bei der Bundesregierung angekommen sein.