Die Gesellschaften gegen den „kulturellen Genozid” verteidigen

Die kurdische Freiheitsbewegung steht neben dem Kampf für eine Lösung der kurdischen Frage auch vor der Herausforderung, unter der Bedrohung durch den „kulturellen Genozid” die kurdische Gesellschaft zu verteidigen.

„Die Kurden im Klammergriff des kulturellen Genozids verteidigen”*, so lautet der Titel der letzten, im Jahr 2010 veröffentlichten Verteidigungsschrift des Gründers der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) und Vordenkers der kurdischen Freiheitsbewegung, Abdullah Öcalan. Diese Worte gewinnen seit dem Abbruch der sogenannten Friedensverhandlungen in den Jahren 2013 bis 2015, die zwischen der türkischen Regierung und der PKK geführt und einseitig von der türkischen Seite abgebrochen wurden, besonders an Bedeutung.

Es war der erfolgreiche Widerstand gegen den „Islamischen Staat” (IS) in Kobanê (Nordsyrien/Rojava) und der Aufbau eines alternativen Gesellschaftssystems – orientiert am Konzept des „demokratischen Konföderalismus” – in Rojava, Nordkurdistan, Mexmûr und in der Şengal-Region, kurz: die Revolution in Kurdistan, welche ein positiver Bezugspunkt für demokratische, widerständige, ökologische und feministische Menschen und Bewegungen weltweit wurde. Heute sind all diese genannten Regionen einem regelrechten Vernichtungsfeldzug des türkischen Staates ausgesetzt, der einen „Krieg niederer Intensität” in ganz Kurdistan führt und in den letzten fünf Jahren den Konflikt immer wieder mit großangelegten Militäroperationen gegen die Autonomieverwaltung in Nord- und Ostsyrien sowie die Medya-Verteidigungsgebiete in Südkurdistan eskalierte.

Mako Qoçgirî schilderte in der letzten Ausgabe des Kurdistan Reports die historischen und geopolitischen Hintergründe der türkischen Staatspolitik sowie die neue „ganzheitliche Kurdistanstrategie” Ankaras seit dem Jahr 2014/2015. Diese Strategie basiert im Kern darauf, die Mittel der „soft power” aufzugeben, die vergeblich eingesetzt wurden, um die kurdische Bevölkerung als eigenständiges politisches Subjekt zu einem Objekt der eigenen neoosmanischen Politik zu machen und stattdessen mit dem Çökertme Planı (zu Deutsch etwa „In die Knie zwingen-Plan”) den Widerstand der kurdischen Bevölkerung militärisch zu brechen.

Der türkische Staat als Regime des kulturellen Genozids”

In diesem Sinne steht die kurdische Freiheitsbewegung neben dem Kampf für eine Lösung der kurdischen Frage auch vor der Herausforderung, unter der Bedrohung durch den „kulturellen Genozid” die kurdische Gesellschaft zu verteidigen. Schon ein kurzer Blick auf die menschenrechtliche Lage in den verschiedenen Teilen Kurdistans genügt hierbei, um das Ausmaß dieses kulturellen Genozids zu fassen.

So wurde Mitte Oktober die Aufführung des Theaterstücks „Bêrû” (Ohne Gesicht) von der Theatergruppe Jiyana Nû (Neues Leben) in Istanbul mit Hinweis auf die öffentliche Ordnung von den türkischen Behörden verboten. Die kurdischsprachige Komödie basiert auf einem Werk des italienischen Nobelpreisträgers Dario Fo und wurde vom stellvertretenden Innenminister Ismail Çataklı als „Propaganda der PKK” bezeichnet. Ein weiteres Beispiel, welches die Türkei im Herbst erschütterte, ist der Fall der „Hubschrauber-Folter”. Zwei kurdische Bauern wurden am 11. September in Wan (Van) vom türkischen Militär festgenommen, gefoltert und aus einem Hubschrauber gestoßen. Die beiden kurdischen Dorfbewohner wurden schwer verletzt. Servet Turgut starb am 30. September an den Folgen der Misshandlungen, Osman Şiban litt nach dem Vorfall unter Amnesie. Allein beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) waren zu Jahresbeginn 9.200 Menschenrechtsbeschwerden anhängig, die sich auf die Türkei bezogen. Zudem soll die Regierung für rund 125 Entführungen von Oppositionellen verantwortlich sein.

Die Angriffe der Türkei auf die kurdische Gesellschaft beschränken sich dabei nicht auf ihre eigenen Staatsgrenzen. Seit Jahren thematisieren sowohl die Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens als auch Binnenflüchtlinge aus den von der Türkei besetzten Gebieten, insbesondere den Regionen Efrîn und Serêkaniyê (Ras al-Ain), die schweren Menschenrechtsverletzungen durch die türkische Armee und ihre Söldnertruppen. Nun haben die Vereinten Nationen in einem Bericht in deutlichen Worten bestätigt, welche Verhältnisse in den türkischen Besatzungszonen herrschen. Diese dokumentierten Fälle sind nur die Spitze des Eisbergs an Kriegsverbrechen, die von bewaffneten Gruppierungen mit politischer Rückendeckung der Türkei an der kurdischen Bevölkerung in Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî (Tall Abyad) begangen wurden und immer noch werden.

Der Angriff auf Südkurdistan und das internationale Komplott

Die Spur der türkischen Angriffe zieht sich auch weiter nach Südkurdistan (Nordirak). Vor allem nach der türkischen Invasion in Serêkaniyê und Girê Spî am 9. Oktober 2019 ist in diesem Jahr Südkurdistan verstärkt in den Fokus des türkischen Staates gerückt. Vor Beginn der jüngsten türkischen Invasion in den Medya-Verteidigungsgebieten hatte die südkurdische Regierungspartei PDK (Demokratische Partei Kurdistans) Peschmerga-Einheiten in der Region Zînê Wertê stationiert und damit begonnen, zusammen mit der Türkei die Qendîl-Region zu belagern. Es folgte am 17. Juni die Luftlande-Bodenoffensive Pençe-Kaplan (dt. Tigerklaue) der türkischen Armee in der Grenzregion Heftanîn. Die zweitgrößte NATO-Armee hat es trotz dieser seit einem halben Jahr andauernden Operation nicht geschafft, die Region einzunehmen und wurde von den Volksverteidigungskräften (HPG) und der Frauenguerilla YJA-Star erfolgreich zurückgeschlagen.

Während die Gefechte in Heftanîn mit voller Härte weiter andauern, wurde am 9. Oktober 2020 auf Drängen der USA ein Abkommen zwischen der PDK und der Zentralregierung in Bagdad über das weitere Schicksal des ezidischen Siedlungsgebietes Şengal getroffen. Die Menschen der Region wurden nicht gefragt. Wie es in einer Erklärung aus dem irakischen Ministerpräsidentenamt heißt, obliegt die Sicherheit von Şengal der Zentralregierung. Die Region müsse von „lokalen und von außen kommenden bewaffneten Gruppen gesäubert” werden. Es werde nicht zugelassen, dass „irakisches Territorium für Angriffe bewaffneter Gruppen auf die Nachbarländer Türkei und Iran benutzt” werde. Der Autonomierat von Şengal moniert, dass die Menschen aus der Region nicht in die Verhandlungen eingebunden worden sind. Auch die KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) warnt vor der Fortsetzung des Genozids an den Ezid*innen und machte darauf aufmerksam, dass in Şengal seit sechs Jahren ein autonomes System besteht, mit dem die Region selbst verwaltet und verteidigt wird, und kritisierte, dass der Autonomierat als Vertretung des Willens der Bevölkerung von dem Gesprächs- und Beschlussfassungsprozess ausgeschlossen wurde.

Bereits seit Anfang dieses Jahres wurde das ezidische Siedlungsgebiet zeitgleich zu dem Türkei-Besuch von Barzanî und den Drohungen der PDK gegen Şengal von der türkischen Luftwaffe bombardiert. Die PDK-nahen Medien führten eine Propagandaschlacht gegen Şengal durch und versuchen damit, die Unterstützung der internationalen Mächte zu gewinnen. Joey Hood, US-Staatssekretär für Nahost-Angelegenheiten, hat in einem Briefing im August gefordert, dass Hewlêr, Bagdad und Ankara unter Federführung der USA zusammenarbeiten. Das nun veröffentlichte Abkommen stellt den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklungen dar.

In der mittelöstlichen Politik haben historische Daten einen hohen Symbolwert und es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Datum bewusst gewählt wurde. So sagt es viel aus, dass das Abkommen über die Zukunft von Şengal am 9. Oktober beschlossen wurde. Es stellt den 22. Jahrestag des internationalen Komplotts gegen den kurdischen Vordenker Abdullah Öcalan dar. Öcalan musste Syrien am 9. Oktober 1998 auf Druck der Türkei verlassen und wurde am 15. Februar 1999 aus der kenianischen Hauptstadt Nairobi in die Türkei verschleppt. Sowohl beim internationalen Komplott gegen Abdullah Öcalan vor 22 Jahren als auch bei der türkischen Invasion und Besatzung in Serêkaniyê und Girê Spî waren die USA federführend. Dasselbe gilt nun auch für das Şengal-Abkommen und den allgemeinen politischen Kurs in Südkurdistan, der sich gegen die kurdische Freiheitsbewegung richtet. Denn die kurdische Freiheitsbewegung ist nicht nur der Türkei, sondern auch den internationalen Akteuren ein Dorn im Auge. Deshalb gaben die USA der Türkei für ihre Besatzungsoperation in Nordsyrien grünes Licht, so wie sie nun auch die offen völkerrechtswidrige Militäroperation im Nordirak gegen die kurdische Freiheitsbewegung duldeten. Das Abkommen der irakischen Zentralregierung und der südkurdischen Regionalregierung über die Zukunft des Şengal-Gebietes hat in diesem Sinne dieselbe Intention, nämlich die Schwächung der politischen Linie. Denn ein demokratisch-autonomes Şengal, wie es nun seit sechs Jahren nach dem Genozid an der ezidischen Gemeinschaft aufgebaut wurde, wehrt sich gegen die Bemühungen der Vereinnahmung und hält an seinem politischen Konzept einer freien, multiethnischen, multireligiösen und basisdemokratischen Gesellschaft fest.

Perspektive der kurdischen Freiheitsbewegung

Aus Sicht der kurdischen Freiheitsbewegung hat sich, angesichts dieses internationalen Komplotts gegen die demokratischen Errungenschaften in Kurdistan, jedoch sowohl der Charakter der kurdischen Frage, als auch die eigene Widerstandsdynamik in den letzten zwei Jahrzehnten transformiert. Mit dem internationalen Komplott gegen die kurdische Freiheitsbewegung, das mit der Inhaftierung Abdullah Öcalans auf der Gefängnisinsel Imrali endete, befand sich die kurdische Bewegung in einer politischen und ideologischen Krise. Diese Krise wurde mit der Entwicklung des neuen Paradigmas mit seinen Schlüsselbegriffen des „demokratischen Konföderalismus” und der „demokratischen Nation” überwunden und der Aufbau einer eigenen nichtstaatlichen, radikalen Demokratie als Ziel formuliert. Die oft verwandte Parole „Freiheit für Kurdistan” interpretiert die kurdische Bewegung damit also konkret als Demokratisierung des Mittleren Ostens und Offenheit der jeweiligen Staaten für eine demokratische Selbstverwaltung in Kurdistan. Die Devise lautet: vier Teile Kurdistans autonom und selbstbestimmt, sowie für die umliegenden Staaten wie Türkei, Iran, Irak und Syrien: Demokratie.

Diese Idee des demokratischen Konföderalismus wird in der Türkei von der HDP (Demokratische Partei der Völker) repräsentiert. Die HDP versteht sich als ein Demokratiebündnis, also als Gegenpol zu den etablierten Parteien der Türkei. Die HDP, aber auch die demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen in Rojava, Şengal und Mexmûr sind rund um die Uhr mit brutalen Angriffen durch den türkischen Staat konfrontiert. Dabei stellen sie für die Region die einzig realistische und demokratische Hoffnung und Chance dar. Wir haben es mit zwei politischen Linien zu tun, die im absoluten Gegensatz zueinander stehen: auf der einen Seite die AKP-zentrierte Politik, die ständig Krieg und Gewalt produziert, auf der anderen Seite die radikal demokratische Politik mit ihrem Verständnis von „demokratischer Autonomie” und „demokratischer Nation”. Wenn wir uns die politischen Schauplätze in der gesamten Region ansehen, so gilt das nicht nur für Nordkurdistan und die Türkei, sondern für alle kolonialisierten Teile Kurdistans. Die kurdische Freiheitsbewegung hat mit ihrer demokratischen Alternative und ihrem neuen Paradigma schon längst die echten Ziele der AKP-Regierung, welche fernab von Werten wie Demokratie und Menschlichkeit liegen, entlarvt.

Freiheit für Abdullah Öcalan

Am 12. September, dem 40. Jahrestag des Militärputsches in der Türkei, hat die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans KCK die politische Offensive „Schluss mit Isolation, Faschismus und Besatzung – Zeit für Freiheit” ausgerufen, die von vielen verschiedenen Organisationen und Gruppen zurzeit mit Leben gefüllt wird. Täglich können wir von Aktionen lesen, die an den verschiedenen Orten weltweit für die Freiheit von Abdullah Öcalan und für ein Ende der sich ausweitenden Kriegspolitik des NATO-Staats Türkei durchgeführt werden. Vordringliches Ziel ist darin ein Ende der Isolation Öcalans, die nur kurzzeitig im letzten Jahr durch den Hungerstreik von Leyla Güven, dem sich tausende Gefangene angeschlossen hatten und der von vielen verschiedenen Initiativen begleitet wurde, durchbrochen werden konnte. Bis auf ein kurzes Telefonat mit seinem Bruder Anfang des Jahres ist Öcalan nunmehr wieder vollkommen von der Außenwelt isoliert.

Schon allein der Umgang der Türkei mit Öcalan zeigt, dass das Regime an einer politischen Lösung und einer Beendigung des Krieges keinerlei Interesse zeigt. Vielmehr versucht das AKP/MHP-System, das Isolationssystem von Imrali Schritt für Schritt über das ganze Land auszuweiten. Anders als das Regime, das immer wieder die gleiche Vernichtungsstrategie anführt, hat die kurdische Freiheitsbewegung Hoffnung und Vertrauen nicht nur in der eigenen Gesellschaft aufbauen können. Sie konnte Antworten auf die Vernichtungspolitik des kapitalistischen Systems entwickeln, mit denen sich Menschen weltweit auseinandersetzen und dadurch lernen, Lösungsmöglichkeiten für die Probleme in den unterschiedlichsten Ländern zu entwickeln. In dieser Auseinandersetzung zeigt sich, dass wirklich die Zeit für die Freiheit von Abdullah Öcalan gekommen ist – keine Mauer und keine Regierung hat es geschafft, ihn von den Gesellschaften in der Welt zu trennen. Was die Welt nun braucht, ist seine Freiheit, und dafür müssen alle mit anpacken.

*Kürt Sorunu ve Demokratik Ulus Çözümü – Kültürel Soykirim Kiskacinda Kürtleri Savunmak (Die kurdische Frage und die demokratische Nation – Die Kurden im Klammergriff des kulturellen Genozids verteidigen, ist noch nicht auf Deutsch erschienen).


Ali Çiçek ist Mitarbeiter von Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V. Der Text erschien erstmals in der aktuellen Ausgabe des Kurdistan Report