Hinter dem zwischen der PDK und der irakischen Zentralregierung beschlossenen Abkommen zu Şengal steht eine neue Version des Vertrags von Lausanne und des Nationalpakts Misak-i Milli. Weitere Akteure des am 9. Oktober unter UN-Aufsicht in Bagdad getroffenen Abkommens sind die Türkei und die USA.
Nach vorliegenden Informationen hat der türkische Staat das Projekt des bereits 2017 erstmalig thematisierten Grenzübergangs Ovaköy in aktualisierter und erweiterter Form US-Verantwortlichen und der PDK vorgelegt. Dieses Projekt richtete sich in seiner vorherigen Version gegen die PDK. Jetzt ist die Barzanî-Partei in den Plan einbezogen worden. Der erste Schritt zu Umsetzung ist in Şengal gesetzt worden.
Antikurdisches Strategiepapier
Das Projekt, an dem der türkische Staat, die PDK und die USA koordiniert weiter arbeiten, soll etappenweise umgesetzt werden. Die Türkei erhofft sich von dem Projekt, das vom türkischen Außenministerium zu einer Art Strategiepapier gemacht wurde, eine Zusammenführung der eigenen Interessen mit denen des Irak, der PDK und der USA.
Nach Angaben von ANF-Quellen beinhaltet die reformierte Version des Projekts die Grenzsicherung zwischen Irak und Syrien, die Eindämmung des iranischen Einflusses im Irak und in Syrien sowie den Wiederaufbau und die Förderung des Handels in Mossul. Damit wird versucht, auch die Unterstützung der USA zu bekommen.
Von der Türkei bis nach Bagdad
Der Grenzübergang Ovaköy ist erstmalig 2017 nach dem Unabhängigkeitsreferendum in Südkurdistan auf die Agenda gebracht worden. Das Projekt umfasst das Grenzdreieck zwischen West-, Süd- und Nordkurdistan (Nordsyrien, Nordirak und Südosttürkei) und erstreckt sich bis nach Bagdad. Die geplanten Straßen und Eisenbahnschienen sollen von der nordkurdischen Provinz Şirnex (türk. Şırnak) über das südkurdische Gouvernement Dihok und die Orte Telafer, Xurmatû und Mossul östlich von Şengal (Sincar) bis nach Bagdad verlaufen.
Das Projekt kam 2017 als Möglichkeit für den türkischen Staat auf den Tisch, um nach dem Unabhängigkeitsreferendum den Grenzübergang Habur zu schließen und eine direkte Verbindung zur irakischen Zentralregierung zu schaffen. Auch bei dem Türkei-Besuch des damaligen irakischen Ministerpräsidenten Haider al-Abadi im Jahr 2018 wurde das Thema angesprochen. Verantwortliche des türkischen Außenministeriums sowie des Zoll- und Handelsministeriums hatten im Anschluss angegeben, dass sich beide Seiten prinzipiell geeinigt hätten.
Erneut aus der Ablage geholt
Nach dem irakischen Regierungswechsel und der Verbesserung der Beziehungen zwischen der Türkei und der PDK wurde das Projekt für eine Zeitlang auf Eis gelegt. Nach vorliegenden Informationen ist das Projekt nach einer Reihe diplomatischer Gespräche zwischen Ankara, Bagdad, Hewlêr (Erbil) und Washington erneut aus der Ablage geholt worden und wird weiter bearbeitet.
Diese Gespräche sollen im Rahmen des Bagdad-Besuchs des türkischen Geheimdienstchefs Hakan Fidan im Juni, der Besuche des irakischen Ministerpräsidenten Mustafa Kazimi im August in Washington und im September in Hewlêr, des Ankara-Besuchs des Präsidenten der Autonomieregion Kurdistan, Nêçirvan Barzanî, im September sowie der Besuche des US-Sondergesandten für Syrien, James Jeffrey, in Hewlêr und Ankara stattgefunden haben.
Besatzungsangriffe nach diplomatischen Besuchen
Unmittelbar nach der Reise des MIT-Chefs Hakan Fidan nach Bagdad wurden Mitte Juni zeitgleich Şengal, das Flüchtlingscamp Mexmûr und die Guerillaregion Heftanîn von der türkischen Luftwaffe bombardiert. Die Angriffe auf Heftanîn wurden anschließend mit einer Invasion fortgesetzt. Nach dem Barzanî-Besuch in Ankara begann die PDK damit, Truppen an der Grenze nach Rojava zusammenzuziehen, Gräben zu ziehen und Stützpunkte zu bauen.
Türkische Versprechungen
Bei dem am 9. Oktober unterzeichneten Şengal-Abkommen soll es sich um einen Teil des Ovaköy-Projekts handeln. Die Vorbehalte der PDK sollen mit den Versprechungen besänftigt worden sein, dass der Grenzübergang Habur seine Bedeutung nicht verliert, der Handelsverkehr weiter geht und auch die PDK davon profitieren werde.
Die irakische Regierung ist dem Projekt gegenüber ohnehin aufgeschlossen. Im irakischen Interesse ist eine Steigerung des Handelsvolumens einschließlich des unmittelbaren Handelsverkehrs zwischen der Türkei und Bagdad. Außerdem gibt es Versprechungen hinsichtlich einer Lösung der zwischen dem Irak und Südkurdistan umstrittenen Gebiete und einer Unterstützung des irakischen Ministerpräsidenten Kazimi bei den Wahlen im Juni 2021 durch die Kurden und die sunnitischen Stämme im Großraum Mossul.
Den USA wird das Projekt mit der Aussicht auf eine Eindämmung des iranischen Einflusses im Irak und der Schwächung von bewaffneten Milizen wie Hashd al-Shaabi schmackhaft gemacht.
Die Grenzen des Misak-i Milli und die Teilung Kurdistans
Das Projekt gilt knapp hundert Jahre nach dem Lausanner Vertrag als einer der wichtigsten Schritte, um Mossul und Kerkûk zu erreichen und damit den türkischen Traum von einer Wiederherstellung der alten osmanischen Grenzen zu verwirklichen. Das eigentliche Ziel sind jedoch die Kurden. Der türkische Staat will mit seinem Straßen- und Schienennetz die Verbindung zwischen Rojava und Südkurdistan kappen, die ezidische Selbstverwaltung in Şengal beenden, Mossul und Kerkûk einnehmen und das Autonomiegebiet Nord- und Ostsyrien von östlicher Seite aus belagern.
Insofern hat das Projekt die Mission eines Dietrichs, mit dem das Tor zu den „Misak-i Milli“-Träumen des türkischen Staates geöffnet werden soll. Für die Kurden in Rojava und Başûr ist es ein zweischneidiges Schwert. Nach dem Mauerbau an der 832 Kilometer langen Grenze zwischen Rojava und Nordkurdistan sowie an der 139 Kilometer langen Grenze zwischen Nord- und Ostkurdistan soll jetzt ein ähnliches Projekt zwischen West- und Südkurdistan vollzogen werden.