Cemil Bayik hat sich als Ko-Vorsitzender des Exekutivrats der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) in einer Sondersendung auf Stêrk TV zu den Ergebnissen der Wahlen in der Türkei, der Isolation von Abdullah Öcalan, der Lage in Rojava und dem andauernden Widerstand der Guerilla gegen die Angriffe des türkischen Staates geäußert. Wir dokumentieren eine leicht gekürzte Fassung des TV-Interviews in zwei Teilen.
Die Isolierung von Abdullah Öcalan geht weiter. Er darf sich nicht mit seinen Anwält:innen und seine Familienangehörigen treffen und wird regelmäßig mit neuen so genannten „Disziplinarstrafen" belegt. Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation von Abdullah Öcalan?
Der türkische Besatzungsstaat hat gleich nach seiner Gründung damit begonnen, Massaker an verschiedenen Völkern zu verüben. So wurden viele Völker einem Genozid unterworfen. Eines davon ist das kurdische Volk. Der türkische Staat hat dem kurdischen Volk seitdem großes Leid zugefügt, und die Kurdinnen und Kurden haben sich gegen diese Angriffe aufgelehnt. Sie haben einen heldenhaften Widerstand geleistet und sich verteidigt.
Der türkische Staat will diese Völkermordpolitik fortsetzen. Wenn wir diese Politik der Vergangenheit – eine Politik der Massaker an den Völkern – nicht verstehen, können wir auch nicht die aktuelle Haltung des türkischen Staates gegenüber Rêber Apo [Abdullah Öcalan] verstehen. Die Politik gegen Rêber Apo richtet sich gegen alle Kurden, Völker und die gesamte Menschheit. Denn Rêber Apo ist der Anführer eines Volkes. Deshalb müssen wir die Mentalität des türkischen Staates gut verstehen. Wenn ein Staat auf Völkermord basiert, wird er sich niemals an Recht, Gerechtigkeit und internationale Regeln halten. Wir können heute deutlich sehen, dass die Politik, die gegen Rêber Apo und das kurdische Volk betrieben wird, weder mit den eigenen Gesetzen der Türkei noch mit dem Völkerrecht übereinstimmt.
Das einzige, woran sie denken, ist die Vernichtung der Kurden. Dafür nutzt der türkische Staat alle seine Institutionen. Die Politik gegen Rêber Apo ist eine Politik gegen das kurdische Volk und die menschlichen Werte. Rêber Apo verteidigt die menschlichen Werte. Daher ist seine Isolierung ein Versuch, den Völkermord zu vollenden. Diese Isolation hat nichts mit Recht zu tun. Sie ist rein politisch. Wenn der Kampf zunimmt, lockert der türkische Staat die Isolation ein wenig. Aber wenn der Kampf schwach ist, wird die vollständige Isolation wieder in Kraft gesetzt. Deshalb müssen alle verstehen, dass es ihre Aufgabe ist, sich gegen die vollständige Isolation und gegen den Völkermord zu stellen. Dann wird der türkische Staat einen Schritt zurück in seiner Völkermordpolitik machen. Das ist die Verantwortung unseres Volkes, unserer internationalen Freundinnen und Freunde, aller Revolutionäre und Sozialisten. Wer sich als patriotisch, sozialistisch, demokratisch oder intellektuell definiert, muss sich gegen die völlige Isolation stellen und den Kampf für die physische Freiheit von Rêber Apo verstärken.
Der türkische Staat muss die vollständige Isolation sofort aufheben. Die Anwältinnen und Anwälte und die Familie von Rêber Apo müssen ihn besuchen können. Rêber Apo hat als Gefangener Rechte. Der türkische Staat muss diese Rechte anerkennen. Ich habe auch einen Aufruf an Politikerinnen und Politiker und Menschenrechtsverteidiger: Sie müssen beantragen, Rêber Apo besuchen zu dürfen.
Zunächst wegen des Erdbebens in Nordkurdistan und der Türkei und dann wegen der Wahlen hat Ihre Bewegung im Februar beschlossen, alle ihre militärischen Angriffe einzustellen. Doch der türkische Staat setzte seine Angriffe trotz dieses Beschlusses fort. Vor kurzem hat die KCK das Ende der Einstellung aller Angriffe bekannt gegeben. Was hat Sie zu dieser Entscheidung bewogen?
Wir haben den Stopp aller militärischen Angriffe aus einem bestimmten Grund erklärt. In Kurdistan hatte es ein sehr schweres Erdbeben gegeben. Tausende unserer Leute wurden getötet und verletzt. Wir wollten unserer Verantwortung gerecht werden und den Schmerz unseres Volkes lindern. Ein weiterer Grund war, einen starken Rahmen für eine demokratische Politik zu gewährleisten. Denn im Krieg kann die demokratische Politik zwangsläufig keinen starken Kampf führen. In der Türkei gibt es eine faschistische und völkermordende Regierung, die sich in alles einmischt. Deshalb war unsere Entscheidung eine menschliche und moralische Entscheidung. Im Zusammenhang mit den Wahlen in der Türkei und in Nordkurdistan war in der Bevölkerung die Rede davon, dass die AKP/MHP Provokationen durchführen würde. Das hatten sie schon früher getan. Deshalb war die Angst in der Bevölkerung groß. Wir haben daher die Aussetzung all unserer Angriffe verlängert, um jegliche Provokation zu verhindern.
Trotz unserer Entscheidung, alle militärischen Angriffe einzustellen, hat der türkische Staat seine Kriegspolitik nicht geändert. Er will die PKK vernichten und das kurdische Volk auslöschen. Deshalb war er nicht in der Lage, den Grund für unsere Entscheidung zu verstehen. Der türkische Staat dachte, dass die Guerillakräfte diese Entscheidung getroffen hätten, weil sie geschwächt waren. Er sah in der Entscheidung eine Gelegenheit, die Guerilla zu vernichten. Deshalb verstärkte der türkische Staat seine Angriffe noch mehr, sowohl in den Medya-Verteidigungsgebieten [von der Guerilla in Südkurdistan kontrollierte Gebiete] als auch überall in Südkurdistan [Nordirak], Rojava [Nordsyrien] und Nordkurdistan [Osttürkei]. Sie führten zahlreiche Bombardierungen durch und setzten weiterhin chemische Waffen ein, wobei sie im Grunde alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel nutzten. Sie ergriffen viele verschiedene Maßnahmen wie Verhaftungen, Tötungen und schwere Bestrafungen in den Gefängnissen. Daher verlor unsere Entscheidung, alle militärischen Angriffe einzustellen, ihre Bedeutung. Deshalb haben wir offiziell das Ende der Aussetzung aller Angriffe erklärt.
Seit Sie das Ende dieses Beschlusses erklärt haben, haben sich die Kämpfe in den Medya-Verteidigungsgebieten verschärft. Können Sie uns sagen, was die neuesten Entwicklungen dort sind?
Der türkische Staat hat die Angriffskraft der Guerilla nie verstanden. Und er versteht sie immer noch nicht. Der türkische Staat verfügt über bestimmte technologische Fähigkeiten, und einige Mächte helfen ihm dabei. So dachte er, dass er der Guerilla leicht einen Schlag versetzen könnte. Aber das ist nichts weiter als eine Selbsttäuschung. Unmittelbar nachdem wir den Stopp aller Angriffe beendet hatten, wurden von der Guerilla viele effektive und starke Angriffe durchgeführt.
Infolge dieser Angriffe hat der türkische Staat in letzter Zeit in vielen Gebieten schwere Schläge erlitten, insbesondere in Xakurke und Metîna [beides Gebiete in Südkurdistan]. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um Heval Asya, Azad und Koçer zu gedenken, die vor kurzem bei einer Guerillaaktion in Xakurke ums Leben gekommen sind. Einer dieser Freunde war Deutscher, einer war Kurde und eine Freundin war Türkin. Mit anderen Worten: Sie repräsentierten eine Vielzahl von Völkern. Das zeigt die Realität unserer Bewegung. Sie ist nicht nur eine kurdische Bewegung, sondern eine Bewegung für die Freiheit und Demokratie aller Völker.
Jetzt wird sich der Krieg noch mehr verschärfen. Denn in der Türkei ist wieder einmal eine Kriegsregierung eingesetzt worden. Erdoğan hat bereits offen gesagt, dass sie einen stärkeren militärischen und diplomatischen Krieg führen werden. Auf dieser Grundlage wurde das neue Kabinett gebildet. Der türkische Staat verstärkt derzeit Tag für Tag seine Angriffe. Auch unser Widerstand gegen diese Angriffe wird immer stärker. Unser Volk und unsere demokratischen und sozialistischen Freundinnen und Freunde müssen diese Realität gut verstehen. Wenn der türkische Staat seine Angriffe eskaliert und der Krieg sich verschärft, darf niemand schweigen und einfach zusehen. Wo auch immer sie sind, müssen sie ihre Aufgabe für das kurdische Volk und den Kampf für Demokratie und Freiheit erfüllen.
In ihrer Erklärung zum Ende der Aussetzung aller militärischen Angriffe hat die KCK darauf hingewiesen, dass der türkische Staat nach den Wahlen seine Angriffe insbesondere auf Rojava verstärkt habe. Zuletzt wurden die Ko-Vorsitzende des Kantons Qamişlo, Yusra Derwêş, ihre Stellvertreterin Leyman Şiwêş und das Ratsmitglied Firat Tûma bei einem Drohnenangriff des türkischen Staates ermordet. Warum nehmen diese Angriffe jetzt zu?
Vor kurzem fand in Astana ein Treffen statt, an dem neben der Türkei auch Russland, Syrien und der Iran teilnahmen. Astana-Gespräche haben schon viele Male stattgefunden, aber es wurde keine Lösung für irgendein Problem der Völker gefunden, weder in Syrien noch im Nahen Osten. Im Gegenteil, diese Gespräche haben die bestehenden Probleme noch vergrößert. Natürlich geht es den beteiligten Kräften bei diesen Treffen auch um die kurdische Frage. Doch anstatt das Problem zu akzeptieren und auf politische und demokratische Weise zu lösen, suchen sie nach Möglichkeiten, die Kurden zu eliminieren. Nach jedem Astana-Treffen sind die Probleme in Syrien und im Nahen Osten größer geworden. Der türkische Staat hat viele Gebiete in Syrien besetzt und sogar annektiert. Er hat alle seine Institutionen in diesen Gebieten eingerichtet. Er fährt fort, die Kurdinnen und Kurden gewaltsam aus Serêkaniyê, Girê Spî und Efrîn zu vertreiben und mit dem türkischen Staat verbundene Banden [islamistische Stellvertreterkräfte] dort zu platzieren. Mit anderen Worten: Der türkische Staat verändert die Demografie dieser Gebiete. Das tut er, weil seine Politik auf dem Völkermord an den Kurden beruht. Der türkische Staat hat gesagt, dass er alle verbleibenden kurdisch kontrollierten Gebiete [in Syrien] haben will. Deshalb führt er all diese Angriffe vor den Augen der internationalen Öffentlichkeit durch.
Der türkische Staat, der die Kurden und Kurdistan vernichten will, tut dies nicht nur aus eigener Kraft. Auf der einen Seite unterstützen die Teilnehmer des Astana-Treffens den türkischen Staat, auf der anderen Seite schweigt die NATO. Dadurch ermutigt, setzt der türkische Staat seine Kriegspolitik mit Leichtigkeit fort. Syrien sollte keine falschen Pläne machen mit dem türkischen Staat, der sein Territorium besetzt hält. Wenn es das tut, wird es derjenige sein, der den größten Schlag erleidet. Die Mächte, die an den Astana-Gesprächen teilnehmen, haben gesagt, dass sie Syrien bei der Beseitigung der Kurden unterstützen werden. Syrien sollte das nicht akzeptieren, denn das ist eine Falle. Syrien sollte sich mit dem kurdischen, arabischen und assyrischen Volk gegen diese Pläne verbünden. Es sollte sich auf die Lösung der kurdischen Frage konzentrieren und mit den Kurdinnen und Kurden verhandeln. Es sollte gegen den türkischen Besatzungsstaat kämpfen und ihn aus den besetzten Gebieten vertreiben. Das würde Syrien dienen. Wenn der syrische Staat gegen das syrische Volk kämpft, wird er den größten Schaden erleiden. Ich glaube, dass Syrien das verstanden hat.
Während der Gespräche in Astana traf Mesrûr Barzanî kürzlich in Ankara mit Erdoğan und anderen Regierungsvertretern zusammen. Was halten Sie von diesem Besuch?
Ja, während der Astana-Gespräche reiste Mesrûr Barzanî in die Türkei und traf sich mit Erdoğan, Fidan [dem neuen türkischen Außenminister und ehemaligen MIT-Chef] und Yaşar Güler [dem neuen Verteidigungsminister und ehemaligen Stabschef]. Anschließend gab Yaşar Güler eine Erklärung ab: „Unsere Gespräche mit Mesrûr Barzanî sind gut verlaufen und werden zu positiven Ergebnissen führen." Nach dem Besuch von Mesrûr Barzanî wurde Qamişlo angegriffen und die Ko-Vorsitzende des Kantons Qamişlo, Yusra Derwêş, die stellvertretende Ko-Vorsitzende Leyman Şiwêş und das Ratsmitglied Firat Tûma sind gefallen. Natürlich kann Mesrûr Barzanî in die Türkei reisen und dort Gespräche führen. Wir sind nicht dagegen. Aber wenn gleichzeitig Kurdinnen und Kurden angegriffen werden, dann hat das ganz klar eine Bedeutung.
Der türkische Kriegsminister Yaşar Güler erklärte, die Gespräche seien positiv verlaufen und würden bald zu praktischen Ergebnissen führen. Alle wissen, dass der türkische Staat eine Politik des Völkermords an den Kurden verfolgt. Was bedeutet es also, wenn sie sagen, dass die Gespräche positiv verlaufen sind und bald praktische Ergebnisse vorliegen werden? Das fragen sich jetzt alle: Welche Art von Gesprächen haben zwischen Mesrûr Barzanî und dem türkischen Staat stattgefunden und welche Entscheidungen wurden getroffen? Das müssen sie erklären. Wenn sie keine Erklärung abgeben und nicht auf alle Fragen der Kurdinnen und Kurden eingehen, dann werden alle denken, dass zwischen dem türkischen Staat und Mesrûr Barzanî negative Entscheidungen gegen die PKK und das kurdische Volk getroffen wurden. Denn der türkische Staat führt einen Krieg gegen die Kurden.
Immer wieder war die internationale Unterstützung für die Verteidigung von Rojava und Nord- und Ostsyrien entscheidend. Wie sehen Sie die aktuelle internationale Reaktion auf die Angriffe der Türkei?
Wenn Syrien nicht mit den Kurdinnen und Kurden verhandelt und sich nicht darauf konzentriert, das Problem mit ihnen zu lösen, werden die Kurden von Rojava natürlich ihr Bündnis mit den Völkern stärken. Sie werden ihren Widerstand gegen die Besatzung verstärken. Sie werden sich dem türkischen Staat nicht unterwerfen. Dessen müssen sich alle bewusst sein. Wir wollen, dass Syrien, das kurdische Volk und die anderen Völker sich gegen den türkischen Besatzungsstaat stellen. Denn der türkische Staat will den Krieg verschärfen und die besetzten Gebiete in Syrien ausweiten. Wenn Syrien nicht will, dass noch mehr Gebiete vom türkischen Staat besetzt werden, dann sollte es seine Beziehungen zu den Kurdinnen und Kurden verbessern. Der türkische Staat führt Angriffe und Massaker durch. Fast jeden Tag werden Menschen aus der Zivilbevölkerung in Rojava ermordet. Aber alle schweigen. Schweigen bedeutet, dass man die Massaker des türkischen Staates an den Kurden als normal ansieht. Wenn Syrien das nicht so sieht, muss es sich gegen diese Angriffe wehren. Wenn es das nicht tut, betrachtet es die Massaker des türkischen Staates offensichtlich als positiv. Das bedeutet, dass es auch einen Anteil an diesen Massakern hat.
Rojava verteidigt die menschlichen Werte. Deshalb müssen alle, die sich als demokratisch, sozialistisch, ökologisch, libertär, Kunstschaffende oder Intellektuelle betrachten, alle, die gegen Besatzung, Annexion, Faschismus sind und für Demokratie und menschliche Werte eintreten, Rojava verteidigen. Denn Rojava kämpft nicht nur für sich selbst, sondern für die gesamte Menschheit. Das hat es in der Praxis bewiesen. Rojava hat einen schweren Krieg gegen den IS geführt und dabei Tausende Gefallene und Verwundete erlitten. Damit wurde die Menschheit vor einer großen Geißel bewahrt. Jetzt massakriert der türkische Staat genau die Menschen, die sich gegen den IS gestellt haben und die menschlichen Werte verteidigen. Warum also schweigt die Menschheit? Einige Staaten schweigen aufgrund ihrer Interessen, aber warum schweigen die Intellektuellen, die Sozialisten, die Frauen, die Ökologiebewegungen und alle, die für Demokratie und Freiheit kämpfen? Sie sollten nicht schweigen. Denn einige Mitglieder der von mir genannten Bewegungen haben sich auch an diesem Kampf beteiligt. Einige von ihnen sind gefallen. Diese Bewegungen haben große Anstrengungen für Rojava unternommen. Deshalb muss die Menschheit Rojava gegen den türkischen Staat verteidigen. Vor allem das kurdische Volk in den vier Teilen Kurdistans und im Ausland muss es verteidigen.
Und die Bevölkerung von Rojava und Nord- und Ostsyrien, wie soll sie auf die aktuellen Bedrohungen und Angriffe reagieren?
Der türkische Staat will seine Angriffe auf Rojava verstärken. Er beabsichtigt sogar, neue Gebiete zu besetzen. Er betreibt derzeit auf der internationalen Bühne Diplomatie, um in Rojava zu intervenieren. Unser Volk muss dies erkennen. Es muss Vorbereitungen treffen, um sich gegen die Besatzung zu verteidigen. Das ist es, worum wir die Bevölkerung bitten: Verlasst euer Land und eure Häuser nicht, wenn die Angriffe der Besatzer beginnen. Ihr müsst in eurem Land bleiben und euch bis zum Ende gegen die Besatzung wehren. Wenn ihr in eurem Land bleibt und kämpft, wird der türkische Staat große Schläge erleiden und nicht in der Lage sein, es zu besetzen.
Zweiter Teil: Perspektiven nach den Wahlen in der Türkei