Am 11. und 12. Juli findet im litauischen Vilnius der NATO-Gipfel in Frontstellung zu Russland statt. Während das westliche Militärbündnis auf Einheit setzt, agiert der Mitgliedsstaat Türkei zwischen den Machtblöcken Russland und NATO und versucht, seine eigenen Expansionsinteressen durchzusetzen. Der Journalist Yusuf Karadaş, der für die linke Zeitung Evrensel schreibt, analysiert im ANF-Interview die Außenpolitik der neugewählten alten türkischen Regierung und ihr Verhältnis zur NATO und Russland.
Die Türkei nutzt die Widersprüche zwischen den USA und Russland zur Stärkung ihres eigenen Expansionismus. Beim bevorstehenden NATO-Gipfel wird erwartet, dass die USA die Türkei auffordern werden, Schwedens Mitgliedschaft zu genehmigen. Wie sehen Sie die Entwicklungen?
Bekanntlich ging es bei dieser Debatte ursprünglich um die Mitgliedschaft von Finnland und Schweden. Der Ukraine-Russland-Krieg hat es ermöglicht, dass auch Länder, von denen wir dachten, dass sie vielleicht keinen Antrag auf NATO-Mitgliedschaft stellen würden, sich aufgrund der daraus resultierenden Sicherheitsbedenken und des damit verbundenen Bedrohungsszenarios dafür entscheiden, NATO-Mitglieder zu werden. Dies war ohnehin die geplante Politik der USA. In diesem Zusammenhang beantragten Finnland und Schweden die NATO-Mitgliedschaft. Bekanntermaßen wurde der Antrag Finnlands im März von Erdoğan und dem türkischen Parlament genehmigt, nachdem die Bedingungen der Türkei erfüllt worden waren. Natürlich muss dazu gesagt werden, dass die Regierung Erdoğans versuchte, die Beitrittsanträge Finnlands und Schwedens als Mittel zu nutzen, um eigene Vorteile zu erzielen.
Was wollte die türkische Regierung für sich herausschlagen? Worum ging es dabei?
Die Türkei hat versucht, die NATO in ihren Krieg gegen die Kurden in Rojava einzubeziehen und sie und die USA mindestens dazu zu bewegen, einer Operation, die sie selbst durchführen würde, zuzustimmen. Als sie nicht erreichte, was sie wollte, versuchte die Türkei, mit Finnland und Schweden zu verhandeln, damit dort „Terror“-Gesetze erlassen werden und vor allem Kurdinnen und Kurden an die Türkei ausgeliefert werden. Nach Finnland werden die Verhandlungen nun mit Schweden fortgesetzt. Auch Schweden hat ein neues Terrorgesetz verabschiedet. Auch hier muss man natürlich darauf hinweisen, dass die Verabschiedung dieser Gesetze durch diese Staaten nicht nur als ein Zugeständnis an das Erdoğan-Regime gesehen werden sollte.
Warum?
Die Tatsache, dass diese Länder, die sich selbst als Wiege der Demokratie bezeichnen, Terrorgesetze als Ergebnis einer solchen Abmachung akzeptiert haben, sollte als Ausdruck ihrer eigenen Tendenz zu einer immer reaktionäreren Politik gesehen werden. Es handelt sich um eine Politik, die bereit ist, diese Gesetze gegen ihre eigene Bevölkerung einzusetzen. Es geht nicht nur darum, mit Erdoğan zu verhandeln. Es geht um eine reaktionäre Haltung, durch die demokratische Errungenschaften untergraben werden.
Darüber hinaus müssen wir ansprechen, dass die Erdoğan-Regierung, insbesondere nach den Wahlen und im Zusammenhang mit der Ernennung von Mehmet Şimşek zum Wirtschaftsminister, versucht, eine harmonischere und akzeptablere Position gegenüber dem Westen, den USA und der NATO einzunehmen.
In Hinblick auf die NATO-Frage können insbesondere Bidens Glückwunschtelefonat mit Erdoğan, in dem dieser seine Forderung nach einer türkischen Zustimmung zum schwedischen NATO-Beitritt zum Ausdruck brachte, und die Teilnahme des NATO-Generalsekretärs an Erdoğans Feierstunde, bei der er auch mit Hakan Fidan [neuer Außenminister, ehemaliger Geheimdienstchef] und dem neuen Verteidigungsminister Yaşar Gürer zusammentraf, als erste Schritte eines neuen Aushandlungsprozesses mit den westlichen Mächten angesehen werden.
Und wird dieser Prozess wie gewünscht laufen?
Auch wenn die Erdoğan-Regierung hier wahrscheinlich weiterverhandeln wird, wird sie die NATO-Mitgliedschaft Schwedens auf irgendeine Weise akzeptieren müssen. Ein Standbein dieses Verhandlungsprozesses ist auch der Verkauf der F-16-Flugzeuge durch die USA an die Türkei. Unabhängig davon, ob es beim NATO-Gipfel geschehen wird oder nicht, wird dieser Aushandlungsprozess infolge der Gespräche zwischen den Staats- und Regierungschefs ein Ergebnis bringen, auch wenn dieses vielleicht erst nach dem Gipfel erreicht wird. Daher denke ich, dass Erdoğan diesen Schritt nutzen wird, um seine Beziehungen zu den westlichen Mächten auf eine bestimmte Art und Weise zu erneuern. Natürlich sieht man auch, dass Erdoğan versucht, in keinen offenen Widerspruch mit Russland zu geraten. Das ist auch ein Hintergrund für die Widersprüche der Türkei. Sie will Russland zeigen, dass sie sich gegen die NATO wehrt und ihre Beziehungen mit Russland aufrechterhalten will.
Kann man das als eine Politik der Ausgewogenheit zwischen den Mächten definieren?
Das kann man nicht als ausgewogene Politik bezeichnen, es geht darum, den Widerspruch zwischen den Machtblöcken so gut wie möglich für ihre eigenen Interessen zu nutzen. Es handelt sich um keine Politik des Gleichgewichts, denn auch die Türkei versucht, Widersprüche auszunutzen, ist jedoch je nach Lage gezwungen, mehr und mehr Zugeständnisse zu machen. An manchen Punkten war die Türkei bereits gezwungen, Schritte zurückzumachen, und diese Punkte nehmen zu. Das konkreteste Beispiel dafür sehen wir in den Beziehungen der Türkei zu Israel, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Ägypten und Saudi-Arabien. Gestern noch erklärte Erdoğan diese Staaten noch offen zu Putschisten, Finanziers des 15. Juli [Militärputschversuch in der Türkei von 2016] oder Mördern, dann aber musste er im Zuge einer Politik der Zugeständnisse im Sinne der Normalisierung der Beziehungen zu ihnen zurückkehren.
Bei den Astana-Gesprächen handelt es sich um einen Verhandlungsprozess zwischen Syrien, Russland, der Türkei und dem Iran, wobei Russland im Mittelpunkt steht. Diese Gespräche dauern an, und was die Machtverhältnisse in Syrien betrifft, so ist das ein Punkt, den Russland zu einem Verhandlungsgegenstand gemacht hat, um die Türkei in einer Position zu halten, in der sie so wenig wie möglich gegen Russland unternehmen kann. Der wichtigste Pfeiler dieses Abkommens richtet sich gegen die Kurden in Syrien. Russland weiß, dass die Erdoğan-Regierung die kurdischen Errungenschaften als Bedrohung ansieht, Gewalt als Mittel zur Lösung der kurdischen Frage betrachtet und deshalb ihre Politik der Aggression gegen Rojava fortsetzen will. Russland gibt Erdoğan im eigenen Interesse die Möglichkeit, Druck auf die Kurden aufzubauen. Denn Russland will selbst den Druck auf sie erhöhen und sie zu einem Kompromiss mit Assad zwingen und die USA und die Türkei auf dem Feld gegeneinander ausspielen. Aus diesem Grund drückt Russland bei Angriffen durch türkische bewaffnete Drohnen beide Augen zu, auch wenn der Türkei nicht der Weg für eine direkte Invasion geöffnet wird.
Der Geheimdienstchef Hakan Fidan wurde zum Außenminister ernannt. Ist das ein Zeichen einer politischen Veränderung oder steht es für Kontinuität?
Es ist in der Tat notwendig, dies im Zusammenhang mit der Zeit zu diskutieren, als Hakan Fidan Leiter des MIT wurde. Denn 2007, als der MIT eine sogenannte „proaktive Außenpolitik" konstituierte, stand Hakan Fidan im Zentrum dieses Prozesses, zunächst als stellvertretender Leiter des MIT und dann als Direktor des Geheimdienstes. Diese proaktive Außenpolitik wurde überall, wo die Türkei um Hegemonie und die Verteilung von Ressourcen kämpfte – im Nahen Osten, im östlichen Mittelmeerraum, im Kaukasus, am Schwarzen Meer und auf dem Balkan – in die Praxis umgesetzt. Der MIT übernahm dabei eine aktive Rolle, indem er in eine Position als eine Interventionskraft, die an Operationen im Interesse der herrschenden Klassen in der Türkei teilnahm, gebracht wurde. Als diese Politik festgelegt wurde, war Hakan Fidan zunächst stellvertretender und dann Chef. Daher ist Hakan Fidan ein Symbol für die Politik dieser Zeit. Das ist hier wichtig. Erdoğan bezeichnet ihn als seinen „geheimen Würfel“. Die Tatsache, dass er nun Außenminister und Erdoğans für Außenpolitik zuständiger Stellvertreter wurde, ist ein Zeichen dafür, dass er wie damals, als er an die Spitze des MIT kam, diese Politik in diesem Bereich fortsetzen wird. Aber obwohl hier eine Erfolgsgeschichte verkauft werden soll, ist ein großer Teil der während der Amtszeit von Fidan durchgeführten Operationen in Wirklichkeit gescheitert.
Um welche handelt es sich?
Das reicht von der Entsendung des Schiffes Mavi Marmara nach Gaza bis hin zur Interventionspolitik in Syrien und im Irak. Auch dass der MIT während des Verhandlungsprozesses der kurdischen Frage nicht in der Lage war, die Gespräche geheim zu halten, ist kein Ruhmesblatt. Was am meisten immer wieder als Erfolg dargestellt wird, ist der Einsatz von dschihadistischen Organisationen und von bewaffneten Drohnen zum Ausgleich in Libyen. Auf der anderen Seite kann auch die Positionierung an der Seite Aserbaidschans im Berg-Karabach-Krieg im armenisch-aserbaidschanischen Konflikt betrachtet werden. Diese diente tatsächlich den Interessen Russlands. Durch die Unterdrückung Armeniens wurde die Kontrolle Russlands wiederhergestellt. Durch die Zurückdrängung General Haftars in Libyen wurde den Interessen der USA gedient. Diese Intervention ermöglichte es den USA und den Westmächten, dass die Vereinten Nationen dort wieder aktiv werden. Also eigentlich kann diese Erfolgsgeschichte nur als scheinbares Profitieren an Widersprüchen gelesen werden. Eigentlich war damit nur den Interessen der Imperialisten gedient. Obwohl sich die Erdoğan-Regierung mit diesen Interventionen als Spielmacherin darzustellen versucht, sind die wahren Spielmacher und diejenigen, die diese Operationen für ihre Politik nutzen konnten, andere.
Daher denke ich, dass diese Politik weiterhin darauf basieren wird, einerseits Widersprüche für ihre eigenen expansionistischen Ambitionen zu nutzen, wann immer die Regierung die Gelegenheit dazu findet, und andererseits Zugeständnisse zu machen, wann immer sie dazu gezwungen wird. In dieser Hinsicht wird es keine besondere Veränderung mit Fidan als Außenminister geben. Diese Politik ist jedoch weder antiimperialistisch, wie sie propagiert wird, noch im Sinne der Völker der Türkei. Ganz im Gegenteil, es handelt sich um eine Politik, die die Türkei in mehr Gewalt und Krisen stürzt, ganz im Sinne der Interessen der herrschenden Klassen in der Türkei.
Die Regierung hat ja mit Krieg, Invasionsdrohungen und Aufrüstung Wahlkampf gemacht. Was bleibt davon?
Obwohl die Regierung versucht, eine Erfolgsgeschichte zu verkaufen, da Erdoğan sowohl die parlamentarische Mehrheit als auch die Präsidentschaft wieder gewonnen hat, ist offensichtlich, dass es sich erneut um ein Debakel handelt, das mit den Kommunalwahlen von 2019 vergleichbar ist, bei denen die AKP mehrere Großstädte verlor. Daher können wir schon jetzt sagen, dass die Regierung die Politik der Spannung fortsetzen wird, insbesondere mit Blick auf die kommenden Kommunalwahlen. Die neue Legislaturperiode wird insbesondere durch die Wirtschaftspolitik von Mehmet Şimşek sehr schwierig für die Menschen werden. Die Arbeiterklasse wird mit mehr Armut, niedrigeren Löhnen und noch mehr Arbeitslosigkeit konfrontiert sein. Dies weist auch auf eine Zeit hin, in der Gewalt und Unterdrückung weiter zunehmen werden. Wenn wir die weltpolitische Lage anschauen, dann sehen wir, dass Großmächte, die angeblich gegen solche Regime sind, mit diesen Regimen zusammenarbeiten. Der Westen kritisiert die Erdoğan-Regierung nicht, weil sie repressiv ist, sondern weil sie nicht ausreichend kooperiert. Denn, wie ich anfangs sagte, muss die Frage aufgeworfen werden, inwieweit der Westen heute seine eigenen demokratischen Prinzipien verwirklicht. Reaktionäre Politik ist in ganz Europa und den USA auf dem Vormarsch. Die Bourgeoisie hat diese Kräfte mobilisiert. Für sie ist die wichtigste Frage, wie kompatibel Erdoğan mit ihnen ist. Diese Entwicklung wird die Situation auf der Welt in der vor uns liegenden Zeit prägen. Der Kampf zwischen diesen Kräften wird unweigerlich Auswirkungen auf die Politik Erdoğans in Syrien, am Schwarzen Meer und im östlichen Mittelmeerraum haben. Es wird vielleicht schon bald möglich sein, dies genauer zu analysieren.
Vielleicht wird der NATO-Gipfel bereits Anzeichen dafür bieten, wie die neue Phase gestaltet werden soll. Inwiefern die angekündigten Schritte zum Normalisierungsprozess mit Syrien unternommen werden oder nicht, wird einer der Indikatoren dafür sein. Was wir aber bereits jetzt feststellen können, ist, dass die kommende Phase keine einfache Zeit für die Erdoğan-Regierung und für die Kräfte sein wird, die durch den ukrainisch-russischen Krieg um Hegemonie kämpfen. Das gilt aber auch für uns sowie für die Kräfte der Werktätigen und der Demokratie. Es steht eine Zeit der wachsenden Repression gegen das kurdische Volk, die demokratischen Kräfte in der Türkei und die Arbeiterklasse bevor. So sollen sie unter Kontrolle gehalten werden. Gleichzeitig werden diese Herausforderungen natürlich auch neue Chancen für den Kampf mit sich bringen. Daher meine ich, dass die Haltung der Arbeitenden, unserer Völker und der politischen Kräfte und Bündnisse entscheidend sein wird, wenn es darum geht, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie die Zukunft des Landes und der Region aussehen wird.
Titelbild: Yusuf Karadaş im Mai 2022 auf einer von der europäischen Linken im EU-Parlament ausgerichteten Türkei-Konferenz | Ersteller: Quentin Bruno | Urheberrecht: GUE/NGL