Şengal: Aufbau demokratischer Autonomie in einer umkämpften Region

Nicht hinter die Erfahrung von Selbstbestimmung zurückfallen: Dieser Artikel von Marlene Förster umreißt die wichtigsten politischen Entwicklungen in Şengal seit dem Fall des Saddam-Hussein-Regimes im Irak 2003.

Die êzîdische Bevölkerung Şengals wurde in der Vergangenheit immer wieder Opfer von Massakern und Völkermorden. Zuletzt verübte der sogenannte IS 2014 einen Genozid in der Region, die eines der letzten traditionellen Hauptsiedlungsgebiete der ethnischen und religiösen Minderheit darstellt. Er stieß dabei jedoch auf unerwarteten Widerstand, infolgedessen weite Gebiete der Şengal-Berge nie eingenommen wurden. Aus diesen Erfahrungen von Selbstverteidigung erwuchs die Kraft der Überlebenden für den Aufbau selbstverwalteter politischer wie auch militärischer Strukturen.

Seit nunmehr acht Jahren hat die Bevölkerung Şengals (arabisch: Sindschar), einer kleinen Region im Nordirak, mit dem Aufbau ihrer demokratischen Autonomieverwaltung begonnen. Ihr Kern sind basisdemokratische Kommunen und Räte, die alle Bereiche des Lebens umfassen: von Fragen der Sicherheit bis hin zu Gesundheitsversorgung, Bildung und Frauenorganisierung. Wichtigstes überregionales Gremium, um den Willen der Bevölkerung auszudrücken, ist der Demokratische Autonomierat Şengals MXDŞ (Meclîsa Xweseriya Demokratîk a Şengalê) inklusive seiner Exekutivkommission, die für die praktische Umsetzung Verantwortung tragen. Inspiriert ist dieses System vom Demokratischen Konföderalismus Abdullah Öcalans, des Vordenkers der Freiheitsbewegung Kurdistans. Ausgehend von der êzîdischen Gemeinschaft strebt die Autonomieverwaltung die gemeinsame Organisierung aller Bewohner:innen des traditionell multiethnischen und -religiösen Şengals an. Die Rückkehr und das friedliche Zusammenleben aller, die den Verbrechen des sogenannten IS keine Unterstützung geleistet haben, sind erklärtes Hauptziel.

Der vorliegende Artikel umreißt die wichtigsten politischen Entwicklungen in der Region seit dem Fall des Saddam-Hussein-Regimes im Irak 2003. Insbesondere beleuchtet werden die Prozesse rund um die Autonomieverwaltung Şengals, im Wechselspiel mit massivem Druck und Einflussnahme durch regionale wie internationale Kräfte: Denn aufgrund der strategischen Lage Şengals nahe der Grenze zu Syrien, der Türkei und dem Irak versuchen zahlreiche Akteur:innen, die Region nach ihren Interessen zu formen.

Şengal unter PDK-Verwaltung 2003–2014

Im sogenannten Dritten Golfkrieg unterlag die irakische Regierung unter Saddam Hussein im Jahr 2003 gegen die „Koalition der Willigen“ unter Führung der USA. Şengal geriet dabei unter den politischen Einfluss der Kurdischen Regionalregierung (KRG)[1] im Nordirak, insbesondere der Demokratischen Partei Kurdistans (Partiya Demokrata Kurdistanê – PDK). Die militärische Kontrolle ging jedoch nicht vollständig auf die der KRG unterstellten Pêşmerge-Einheiten über. Die reguläre irakische Armee unterhielt weiterhin Präsenz in der Region. Zunächst begrüßten viele Êzîd:innen die neue PDK-Verwaltung, da historische Verbindungen durch gemeinsame revolutionäre Kämpfe insbesondere in den Jahren bis 1975 bestanden hatten. Entgegen diesen positiven Erwartungen verschlechterte sich in den folgenden Jahren die Lage von Şengals Êzîd:innen. Der Gesundheitssektor sowie die Infrastruktur wie Strom- und Wasserversorgung wurden von staatlicher Seite stark vernachlässigt. Noch dazu führten PDK-nahe Kreise Kampagnen durch, die die Êzîd:innen als Ungläubige verunglimpften. Von Êzîd:innen angebotene Nahrungsmittel wurden als „haram“ deklariert, galten fortan also für Muslim:innen als verboten. Die traditionell in Land- und Vieh-wirtschaft tätigen Êzîd:innen wurden so von ihrer Haupteinnahmequelle abgeschnitten. Es kam zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit, der durch mangelnden Zugang zu höherer Bildung verstärkt wurde. Das Verhältnis der êzîdischen Bevölkerung zur PDK verschlechterte sich, zunehmend stellte sich eine ablehnende Haltung ein.

Einen weiteren großen Schnitt stellte das Tanklast-Attentat vom 14. August 2007 in den êzîdischen Siedlungen Til Ezer und Sîba Şêx Xidir dar. Bei den durch einen Tanklaster und drei weitere mit Sprengstoff beladene Fahrzeuge hervorgerufenen Explosionen verloren fast 800 Menschen ihr Leben, zahlreiche weitere wurden verwundet oder gelten als vermisst. Keine Gruppe bekannte sich aktiv zu der Tat, dschihadistische Motive liegen jedoch nahe. Nach diesem Ereignis, das als vierttödlichster terroristischer Akt der Weltgeschichte gilt, wurden Vorwürfe lauter, dass staatliche Kräfte sich nicht ausreichend um den Schutz der Êzîd:innen kümmern würden. Erste Diskussionen über den Aufbau eigener êzîdischer Schutzeinheiten keimten auf, führten jedoch zu keiner größeren Entwicklung.

Der Genozid von 2014

Bis in den Juni 2014 hinein währte die militärische Kontrolle der Region Şengal durch Kräfte sowohl der KRG als auch der föderalen Regierung des Iraks. Nachdem die Stadt Mossul am 10. Juni in die Hände des sogenannten IS gefallen war, zog sich die irakische Armee in Richtung Süden aus Şengal zurück und hinterließ dabei Waffen und militärisches Material. Als Reaktion darauf bezogen PDK-Pêşmerge freigewordene Stellungen. Sie beschlagnahmten die zurückgelassenen Kampfmittel, die sich kurzzeitig die lokale Bevölkerung angeeignet hatte, mit dem Versprechen, die Region gegen den sogenannten IS zu verteidigen.

Als dieser in der Nacht auf den 3. August die Region angriff, zogen sich allerdings auch die Pêşmerge – mitsamt der beschlagnahmten Waffen – kampflos nach Hewlêr (Erbil) zurück und überließen die Bevölkerung dem Aggressor. Êzîd:innen, die in die Hände des sogenannten IS fielen, erwarteten Massenhinrichtungen, Vergewaltigungen und Versklavung. Die Zahl der Todesopfer wird von verschiedenen Quellen auf 5000 bis 10 000 beziffert, bislang konnten in der Region 81 Massengräber lokalisiert werden. Etwa 7000 Frauen wurden in die Sklaverei verschleppt; einige von ihnen befinden sich bis heute in der Gewalt von IS-Anhänger:innen in anderen Ländern. 2700 bis 2800 Menschen gelten immer noch als vermisst.

Trotz dürftiger Bewaffnung wurde in mehreren êzîdischen Dörfern, allen voran Gir Zerik und Sîba Şêx Xidir, von den dort Ansässigen stundenlang erbitterter Widerstand geleistet. Tausenden Menschen wurde so die Flucht ermöglicht. Rund 50.000 Personen retteten sich trotz Hitze und Entbehrungen erfolgreich in das schützende Şengal-Gebirge. Sie wurden von bewaffneter êzîdischer Bevölkerung und einer Handvoll Kämpfer:innen der Volkverteidigungskräfte (HPG), der Guerilla der PKK, weiter verteidigt. Am 6. August traf Verstärkung durch Kämpfer:innen der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) aus Rojava ein. Unterstützt von Luftangriffen der internationalen Anti-IS-Koalition gelang es diesen Kräften, vom 9. bis zum 11. August einen Fluchtweg nach Nordostsyrien freizukämpfen, über den etwa 35.000 Menschen die Flucht gelang. Rund 15.000 Êzîd:innen blieben in ihren Bergen, um den Widerstand fortzuführen.

Organisation der Selbstverteidigung

Mithilfe der Erfahrung der PKK/HPG und der YPG/YPJ konnten die entstehenden êzîdischen Selbstverteidigungseinheiten im Şengal-Gebirge besser organisiert werden. So entstanden nach wenigen Tagen die Widerstandseinheiten Şengals YBŞ (Yekîneyên Berxwedana Şengalê). Die damit verbundenen, ausschließlich aus Frauen bestehenden Militärstrukturen wurden zunächst nach nordsyrischem Vorbild YPJ-Şengal, Frauenverteidigungseinheiten Şengal, genannt. Sie änderten ihren Namen später jedoch in Fraueneinheiten Şengals YJŞ (Yekîneyên Jinên Şengalê).

Andere kämpfende Zusammenschlüsse blieben autonom und schlossen sich später den Haschd al-Schaabi an, einer Schirmorganisation verschiedener gegen den sogenannten IS gerichteten Akteur:innen ohne weitere einheitliche politische Agenda. Während die Haschd al-Schaabi auf Anregung des schiitischen Ayatollah al-Sistani gegründet wurden und als Ganzes weithin mit dem ebenfalls schiitisch geprägten Iran assoziiert werden, spiegelt sich dies in ihrem Vorkommen in Şengal nur sehr begrenzt wider. Der größere Teil der in ihnen integrierten Gruppen Şengals setzt sich aus êzîdischer Bevölkerung zusammen. Formell sind auch die YBŞ/YJŞ seit 2017 an die Haschd al-Schaabi angegliedert und stellen so deren 80. Regiment (genannt „foc“). Die Beziehungen zu den anderen Haschd-al-Schaabi-Regimentern sind gut, allerdings bleibt die Befehlsbefugnis über YBŞ/YJŞ de facto bei ihrer eigenen Kommandantur.

Seit ihrem Beginn schon drückt sich die Besonderheit der YBŞ/YJŞ gegenüber staatlichen Armeen vor allem durch ihren hohen ideologischen Anspruch aus. Die YBŞ/YJŞ beziehen sich auf die Ideen des Demokratischen Konföderalismus und des damit verbundenen Konzepts der legitimen Selbstverteidigung einer Gesellschaft. Sie begreifen sich als Mittel, den Schutz ihrer Bevölkerung gemäß deren Willen umzusetzen, und sind hierfür an das politische Organ des Demokratischen Autonomierats Şengal MXDŞ angebunden. Um Machtmissbrauch in den eigenen Reihen zuvorzukommen, findet eine beständige Reflexion, Kritik und Selbstkritik innerhalb dieser militärischen Einheiten statt; Kritik und Selbstkritik wird als hoher Wert betrachtet. Ein leitender Rat aus 50 Personen sowie die 15-köpfige Kommandantur werden in einer eigenen Konferenz gewählt, zu der wiederum alle Einheiten gewählte Delegierte entsenden. Selbstverständlich erfahren, wie alle Mitglieder, auch Führungspersonen Kritik bezüglich ihrer Arbeiten und Umgangsweisen. Bei wiederholt auftretenden Problemen oder gravierenden Fehlern wird eine Kommission gebildet, die über Konsequenzen entscheiden kann. So ist es beispielsweise möglich, betreffende Personen zur Teilnahme an besonderen Fortbildungen zu verpflichten oder bei besonders schwerem Fehlverhalten Führungspersonen abzuwählen.

Ein weiteres zentrales ideologisches Prinzip sind die Befreiung und der eigene Wille von Frauen. In den YJŞ organisieren Frauen sich hierfür in eigenständigen Einheiten und mit ihrer eigenen Kommandantur.

Der Beginn der demokratischen Autonomieverwaltung

Doch die militärische Verteidigung gegen den sogenannten IS war nicht die einzige Herausforderung im Şengal-Gebirge. Weitere Probleme betrafen die Versorgung mit lebensnotwendigen Nahrungsmitteln, den Zugang zu medizinischer Hilfe, den Bau von Unterkünften und die Lösung von gesellschaftlichen Konflikten. Aus provisorischen Antworten auf diese Frage entwickelten sich mit der Zeit festere Strukturen. Im Januar 2015 wurden diese zur Koordination in einem „Aufbaurat Şengal“ (Meclîsa Avaker a Şengalê) zusammengefasst, mit dem Ziel, eine Autonomieverwaltung Şengals zu verwirklichen. Auf der zweiten Konferenz im Mai 2017 evaluierte dieser Rat seinen Fortschritt und änderte seinen Namen in MXDŞ, also „Demokratischer Autonomierat Şengals“. Heute sind in diesem Rat elf lokale Volksräte aus einzelnen Dörfern oder Städten vertreten. Ein Quotensystem gewährleistet die Repräsentation von Frauen sowie religiösen Gemeinschaften wie Schiit:innen und Christ:innen. Zudem beteiligen sich eigene Organisationen von Frauen (die Êzîdxan-Frauenfreiheitsbewegung TAJÊ) und Jugend (die Êzîdische Jugendunion YCÊ) am MXDŞ. Sie tragen dafür Sorge, dass ihre jeweilige Perspektive beachtet wird. Bezüglich Frauen- bzw. Jugend-Angelegenheiten treffen sie jedoch autonom Entscheidungen und sind Ratsbeschlüssen nicht unterstellt.

Aus den sich wandelnden Bedürfnissen der Bevölkerung heraus entstanden rund um den Aufbaurat bzw. später den MXDŞ mehrere Institutionen, die für bestimmte Bereiche verantwortlich sind und in ihrer Entscheidungsfindung vom Rat abhängig sind. Sie bearbeiten Themen der physischen und psychischen Gesundheit, kultursensiblen Bildung und Beschulung, Betreuung von Gefallenenfamilien, der Vertretung êzîdischer Klanstrukturen und êzîdischer Geistlicher sowie Gemeindearbeiten wie Straßenbau, Müllentsorgung und Zugang zu Elektrizität und Wasser. Für innere Sicherheit und gesellschaftliche Konfliktbeseitigung wurden die „Asayîşa Êzîdxanê“ gegründet.

Die Beteiligung am MXDŞ steht allen in Şengal wirkenden Organisationen offen. So gibt es weitere Strukturen, die Teile ihrer Arbeiten im MXDŞ koordinieren, jedoch in einigen Punkten ihre eigene Entscheidungsfreiheit bewahrt haben. Derzeit umfassen sie neben YBŞ/YJŞ – die einzig einige sicherheitsrelevante Militärgeheimnisse nicht im Rat absprechen – noch die Bewegung für Kunst und Kultur und die parlamentarische Partei PADÊ. Presseinstitutionen nehmen gleichsam an den Versammlungen teil, um über die Situation von Pressefreiheit in Şengal berichten zu können und über Entwicklungen in der Autonomieverwaltung informiert zu bleiben.

Wirkungsbereiche der PDK und der irakischen Regierung in Şengal

Formell untersteht die Region auch heute einer von der PDK dominierten Administration. Nachdem die Verwaltung in 2014 vor dem sogenannten IS geflohen war, kehrte sie im November 2015 mit einem neuen Gouverneur, Mahma Xelîl, in die Region zurück. Trotz Angliederung an das Regierungssystem der irakischen Regierung in Bagdad wurde der allergrößte Teil der Funktionen von PDK-Politiker:innen eingenommen. Lokale Quellen berichten, dass die Administration insbesondere nach dem Genozid keine praktischen Arbeiten umgesetzt habe, ihre Existenz entsprechend maximal eine Formalität sei. Im März 2017 kam es zu einem Versuch von Seiten der Roj-Pêşmerge, eines syrisch-kurdischen Zweigs der Pêşmerge, in der damals von den YBŞ/YJŞ und den HPG kontrollierten Stadt Xanêsor eine eigene militärische Präsenz durchzusetzen. Es kam zu zivilgesellschaftlichem Protest und kriegerischen Auseinandersetzungen. Die Pêşmerge setzten hierbei deutsche Waffen wie ATF-Dingo-Panzer und G36-Sturmgewehre, die sie für den Kampf gegen den sogenannten IS anvertraut bekommen hatten, gegen die êzîdische Bevölkerung ein. Mehrere Menschen, darunter die an einer Demonstration beteiligte Jugendliche Nazê Nayif sowie die Journalistin Nûjiyan Erhan, wurden getötet, zahlreiche weitere verwundet.

Infolge politischer Konflikte zwischen der KRG und der föderalen Regierung des Iraks etablierte ab dem 17. Oktober 2017 die irakische Armee wieder eine gewisse Kontrolle über die Region und vertrieb dabei die Pêşmerge. Seitdem hat die offizielle Regierung Şengals unter der Leitung der PDK ihren Sitz in der Nachbarregion Duhok ohne Zugang zu ihrem formell zugedachten Wirkungsbereich. Versuche der Rückkehr scheiterten nicht nur an militärischen Kräften, sondern vor allem an zivilgesellschaftlichen Blockaden wie Sitzstreiks. Insbesondere eine mögliche Anwesenheit der PDK-Pêşmerge wird von breiten Teilen der Bevölkerung Şengals ausgeschlossen, da ihre Kapitulation vor dem sogenannten IS bis heute als tief sitzender Vertrauensbruch und Verrat aufgefasst wird. Der PDK-Einfluss in Şengal beschränkt sich heute auf den Betrieb etwa eines Drittels der vorhandenen Schulen, deren Lehrkräfte jedoch häufig ihr Gehalt nicht ausgezahlt bekommen. Zudem arbeiten viele Nichtregierungsorganisationen (NGOs) mit der PDK zusammen.

Die föderale Regierung des Iraks versucht insbesondere seit dem Sieg über den sogenannten IS, ihren Einfluss in Şengal zu stärken. Im derzeitigen militärischen Status quo hat sie rund 5000–7000 Soldaten der irakischen Armee und 3000 Polizisten in der Region stationiert. Auf ziviler Ebene betreibt sie die Mehrheit der Schulen und zwei Krankenhäuser. Zudem stellt sie einen Teil der Wasser- und Stromversorgung und ist im Bereich des Straßenbaus tätig.

Das Şengal-Abkommen

Mit dem Aufbau der YBŞ/YJŞ, der demokratischen Autonomieverwaltung und der Präsenz weiterer Regimenter der Haschd al-Schaabi erheben nun verschiedene Mächte Anspruch auf die Region. Sowohl die föderale Regierung des Iraks in Bagdad als auch die KRG in Hewlêr werden durch diese Entwicklungen geschwächt. Aus diesem Grund und unter Beteiligung der Vereinten Nationen einigten sich die beiden Kräfte in Verhandlungen im Oktober 2020 auf das sogenannte „Şengal-Abkommen“. Von einem Einfluss diplomatischer Betätigung des türkischen Staates kann gemeinhin ausgegangen werden. Das Abkommen zielt erklärtermaßen auf eine stabile Sicherheitslage und die Rückkehr von vor dem Genozid Geflüchteten ab, die sich noch in Camps aufhalten. Dafür sieht es unter anderem Auflösung oder Abzug aller bewaffneten Kräfte außer der irakischen Armee und Polizei und die Ernennung von 2500 neuen Mitgliedern der Sicherheitskräfte vor. Ein weiterer Punkt benennt die Beendigung der PKK-Präsenz. Da die letzten HPG-Mitglieder die Region jedoch 2018 verlassen haben, ist unklar, inwieweit ideologisch nahe Strukturen wie der MXDŞ von der Maßnahme mit betroffen sein könnten. Für die politische Verwaltung sieht das Abkommen erneut einen KRG-Gouverneur vor, was in der Praxis unweigerlich zu einer PDK-Administration führt.

Nicht nur in Kreisen der Autonomieverwaltung Şengals, sondern auch von Seiten êzîdischer Nichtregierungsorganisationen und breiter Teile der Bevölkerung stößt das Şengal-Abkommen in seiner jetzigen Form auf Ablehnung. Zentraler geteilter Kritikpunkt ist hierbei, dass die Ansichten der Bewohner:innen Şengals selbst nicht eingeholt und einbezogen wurden. Das Resultat sind massive Proteste und Widerstände unterschiedlicher Form, die eine Durchsetzung der Vereinbarung bisher verunmöglicht haben.

Türkische Luftangriffe

Auch der türkische Staat verfolgt für Şengal eigene Interessen. Er ist mit seiner diplomatischen und wirtschaftlichen Verwobenheit mit der KRG/PDK ebenso verbunden wie mit geostrategisch begründeten Bestrebungen, an Einfluss in der Region zu gewinnen. Seine Aktivität beschränkt sich hierbei nicht auf indirekte Handlungen über Beziehungen zur PDK und diplomatischen Druck auf die irakische Regierung. Vielmehr stellt die Türkei eine der größten Bedrohungen für die Sicherheit und Stabilität der Region dar. Unter dem Vorwand der Bekämpfung der PKK kommt es seit 2017 vermehrt zu Luftschlägen durch Kampfflugzeuge und Drohnen auf Şengal. Konkrete Ziele sind hierbei zumeist Repräsentant:innen und Einrichtungen des MXDŞ und der YBŞ/YJŞ, zu den Todesopfern zählen Zivilist:innen. Besonders hervorzuheben ist hier der Angriff auf ein Krankenhaus in Sikêniyê im August 2021, bei dem eine Ärztin und Pflegepersonal ums Leben kamen. Mit Merwan Bedel, dem Ko-Vorsitzenden der Exekutivkommission des MXDŞ, wurde am 7. Dezember gleichen Jahres eine langjährige Kernpersönlichkeit der Autonomieverwaltung ermordet. In mehrstündigen Bombenangriffen auf 22 Ziele im Februar 2022 starben drei zivile arabische Arbeiter. Kreisende Drohnen gehören in Şengal längst zum Alltag. Zusätzlich zu den Angriffen hat die ständige Bedrohung einen negativen Effekt auf die psychische Verfassung der Bevölkerung.

Entwicklungen ab April/Mai 2022

Im Zusammenhang mit dem Şengal-Abkommen kam es in den letzten eineinhalb Jahren immer wieder zu Forderungen, Drohungen und Provokationen von Seiten der irakischen Armee. Die letzte Serie von Auseinandersetzungen begann am 18. April, als irakische Soldaten die Übergabe von Asayîş-kontrollierten Punkten im Dorf Digure und der Stadt Sinûnê gewaltsam durchzusetzen versuchten. Dabei kam es zu Schusswechseln, bei denen Zivilist:innen verwundet wurden. In den folgenden zwei Wochen bis zum 2. Mai brachen immer wieder kurze kriegerische Auseinandersetzungen aus, die von Waffenstillständen und diplomatischen Verhandlungen unterbrochen wurden. Zwischenzeitlich verlegte die irakische Armee drei weitere Divisionen (etwa 9000–15000 Soldaten) zusammen mit 100 gepanzerten Fahrzeugen, Artillerie und Panzern in die Region, zog sie allerdings im Folgenden an die Grenze nach Syrien oder wieder aus Şengal zurück. Anfang Mai flohen mehrere Tausend Einwohner:innen konfliktbetroffener Siedlungen ins Şengal-Gebirge oder in Richtung KRG-Gebiet, kehrten jedoch nach wenigen Tagen zurück. Im Laufe des Monats wurden militärische Verhandlungen zwischen Kräften der Autonomieverwaltung und irakischer Armee fortgesetzt. Bislang kam es zu keinen weiteren Gefechten.

Ausblick

Die letzten Zuspitzungen der Konflikte um Şengal haben deutlich gezeigt, dass eine Einigung durch Gespräche unausweichlich ist. Das Şengal-Abkommen dient der Aushandlung von Interessen verschiedener staatlicher Akteure – der irakischen Regierung, der KRG, aber auch externer Staaten wie Türkei und Vereinte Nationen –, die im Allgemeinen durch eines geeint sind: die Ablehnung der Autonomieverwaltung Şengals durch seine Bevölkerung selbst. Gerade dies verunmöglicht jedoch die Umsetzung des Abkommens. Denn die Völker, die vor weniger als einem Jahrzehnt aufgrund des Versagens staatlichen Schutzes Unterdrückung und Genozid erlitten und seitdem ihre eigene Verteidigungskraft erkannt haben, haben gelernt, fremden Entscheidungen zu misstrauen. Mehrere Tausend Kämpfer:innen von YBŞ/YJŞ und bewaffnete Mitglieder der Asayîş, unterstützt durch Demonstrationen und Proteste der Zivilgesellschaft, können mit roher Militärgewalt nicht ausgelöscht werden. Nachhaltiger Frieden liegt somit in der Beteiligung der Menschen Şengals. Bis die Staaten zu den nötigen Absprachen bereit sind, werden die Êzîd:innen und ihre Nachbar:innen weiter auf ihre eigene Kraft setzen und ihre Organisierung vertiefen, bis ihr Wille und ihre Autonomie auch offiziell anerkannt werden.

[1] Geläufige Abkürzung aus dem Englischen (Kurdistan Regional ­Government)

Dieser Text der Journalistin und Filmemacherin Marlene Förster erschien zuerst in der Juli/August-Ausgabe des Kurdistan Report.