Tuncel: Einwände nicht nur erheben, sondern Protest organisieren

Bündnisse, die gemeinsame Kämpfe lediglich auf Wahlen beschränken, werden nicht in der Lage sein, dauerhafte Lösungen für die vom Regime geschaffenen strukturellen Probleme zu finden, erklärt die inhaftierte kurdische Politikerin Sebahat Tuncel.

Seit dem 6. November 2016 befindet sich die ehemalige Ko-Vorsitzende der Partei der demokratischen Regionen (DBP), Sebahat Tuncel, in türkischer Geiselhaft. Ein im Jahr 2019 wegen Terrorismusvorwürfen gegen sie gefälltes Urteil in Höhe von fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe ist von einem Revisionsgericht zwar wegen Formfehlern einkassiert worden, doch im Rahmen der sogenannten „Kobanê-Ermittlungen“ erging kürzlich ein neuer Haftbefehl gegen sie. Wir hatten die Möglichkeit, ein schriftliches Interview mit Sebahat Tuncel über ihren Rechtsbeistand zu führen.  

Gegen Sie ist kürzlich ein Haftbefehl wegen der Kobanê-Proteste vor sechs Jahren erteilt worden. Was glauben Sie, warum das Ermittlungsverfahren gerade jetzt angestrengt wurde?

Die sogenannten „Kobanê-Ermittlungen“ und die damit einhergehenden Verhaftungen sind das Ergebnis der antikurdischen Praxis der faschistischen AKP/MHP-Regierung. Die Volksallianz (türk. „Cumhur İttifakı“, seit 2018 bestehendes Wahlbündnis für die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zwischen der islamistischen AKP und der rechtsextremen ultranationalistischen MHP, Anm. d. Red.) setzt ihr gesamtes Gewicht dafür ein, die Teilhabe der Kurdinnen und Kurden bei der Festlegung neuer Kräfteverhältnisse und Gleichgewichte auszuschließen, und stellt damit implizit den kurdischen Status in Frage. Die antikurdische Linie steht sowohl innen- als auch außenpolitisch im Zentrum des Handelns der Regierung. Als die AKP im Jahr 2014 mit ihrem Zersetzungsplan („Çöktürme Planı“) ein Vernichtungskonzept gegen die kurdische Gesellschaft in die Wege leitete, befanden wir uns mitten in einem Friedensprozess. Parallel zu den Gesprächen mit Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali saß der türkische Staat auch mit der HDP-Delegation für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage am Tisch. Mit dem „Dolmabahçe-Abkommen“ (Zehn-Punkte-Plan, der den Rahmen für die Friedensverhandlungen zwischen dem türkischen Staat und der PKK darlegte, Anm. d. Red.) als Resultat der politischen Gespräche wurde ein wichtiger Schritt für den Übergang vom Dialog hin zu direkten Verhandlungen gesetzt. Doch Erdoğan hat den Tisch umgeworfen und die Isolation Abdullah Öcalans verschärft. Er hat damit bewirkt, dass die Ansichten und Vorschläge Öcalans die Gesellschaft nicht erreichen.  

Die ungelöste kurdische Frage sowie diese auf Krieg und Konflikte ausgelegte Eskalationspolitik haben die Türkei wirtschaftlich und politisch in eine Lage versetzt, die chaotische Charakteristika aufweist. In dieser Phase hat die AKP den kontrollierten Putschversuch vom Juli 2016 dafür genutzt, noch härter gegen die soziale Opposition vorzugehen, eine Hexenjagd gegen alle „Feinde“ zu veranstalten, die Kompetenzen der Verfassungsorgane einzukassieren und durch die Abschaffung des parlamentarischen Regierungssystems ein Präsidialsystem in der Verfassung zu verankern, um auf diese Weise das „Ein-Mann-Regime“ zu institutionalisieren. Gegen die demokratische Opposition, aber im Besonderen gegen das kurdische Volk, wurde ein allgegenwärtiger Unterdrückungsmechanismus in Gang gesetzt, der mit der Politik der Zwangsverwaltung seinen Höhepunkt erreicht hat. Der politische Wille des kurdischen Volkes ist vom Treuhandregime usurpiert worden, gewählte Mandatsträgerinnen und Mandatsträger, Parteivorsitzende und tausende funktionstragende Personen aus den HDP/DBP-Strukturen wurden in Geiselhaft genommen.

Dieser Prozess hält bis heute an. Die Gefängnisse des Landes haben sich mittlerweile zu Internierungslagern für Kurdinnen und Kurden etabliert. Die Ermittlungen zu den Kobanê-Protesten und die Verhaftungen sechs Jahre nach den Vorfällen reflektieren im Grunde die rachsüchtige Haltung der AKP gegenüber dem kurdischen Volk. Wenn wir auf diese Zeit zurückblicken, erinnern wir uns daran, dass die Regierung den IS und andere radikale Gruppen in jeglicher Hinsicht unterstützte, um die Errungenschaften des kurdischen Volkes in Rojava zu untergraben. Die gesamte Welt ist sich dieser Tatsache bewusst, viele Staaten sind im Besitz von Dokumenten, die diese Unterstützung beweisen.

Hintergrund der Kobanê-Proteste: Am Abend des 6. Oktober 2014 war es der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) nach 21 Tagen Widerstand der Verteidigungseinheiten YPG/YPJ sowie der Bevölkerung von Kobanê gelungen, ins Zentrum der westkurdischen Stadt einzudringen. Angesichts der kritischen Situation hatte die HDP die Öffentlichkeit zu einem unbefristeten Protest gegen die türkische Regierung aufgerufen, da diese ihre Unterstützung für den IS nicht beendete. Im Zuge dessen kam es in vielen Städten zu regelrechten Straßenschlachten zwischen Sicherheitskräften sowie paramilitärischen Verbänden wie Dorfschützern und Anhängern der radikalislamistischen türkisch-kurdischen Hisbollah (Hizbullah) und den Demonstranten. Die Zahl der dabei getöteten Personen, bei denen es sich größtenteils um Teilnehmende des Aufstands handelte, schwankt zwischen 46 (IHD) und 53. Die Regierung spricht lediglich von 37 Toten. Laut einem Bericht des Menschenrechtsvereins IHD wurden 682 Menschen bei den Protesten verletzt. Mindestens 323 Personen wurden verhaftet. Im Verlauf des Aufstands kam es zudem zu Brandanschlägen auf Geschäfte sowie öffentliche Einrichtungen. Foto: Tränengasangriff auf Solidaritätskundgebung mit Hungerstreik politischer Gefangener. Sebahat Tuncel mittendrin (Oktober 2012, Istanbul)

Doch trotz der Schützenhilfe des türkischen Staates hat das kurdische Volk einen bewundernswerten Widerstand geleistet und die mordenden IS-Banden, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen gaben, besiegt. Rund um den Globus zeigten Menschen ihre Solidarität mit diesem Widerstand, denn der Kampf um Kobanê schuf eine neue Hoffnung für alle Völker dieser Welt. So wurde der 1. November zum Welt-Kobanê-Tag erklärt. Dass die Solidarität der Völkergemeinschaft dem Kobanê-Widerstand galt, versetzte die AKP damals in Rage. Denn es waren die Menschen von Kobanê und das kurdische Volk, die gewonnen haben – die Verlierer waren die AKP und ihre Politik. Auch wenn die AKP immer wieder versichert, gegen den IS zu sein, zeigt ihre Praxis, dass das genaue Gegenteil der Fall ist. Als Recep Tayyip Erdoğan während dem Verteidigungskampf gegen die Belagerung von Kobanê im Oktober 2014 bei einer Rede in Gaziantep (kurd. Dîlok) genugtuend sagte, die Stadt sei „dabei zu fallen“, drückte er seinen wahren Wunsch aus.

Für die gewaltsamen Vorfälle bei den Kobanê-Protesten zwischen dem 6. und 8. Oktober mit tödlichen Folgen – in dieser Phase haben Dutzende unserer Mitglieder ihr Leben verloren – ist einzig die damalige Regierung verantwortlich. Sie war es, die gegen Menschen, die sich auf den Straßen solidarisch mit dem Kobanê-Widerstand zeigten, paramilitärische Kräfte ins Feld führte und so die Spannungen eskalieren und in einen Akt extremer Gewalt münden ließ. Während Initiativen zur Untersuchung und Aufarbeitung der Vorfälle auf Regierungsebene nach wie vor abgelehnt werden, wird ein Tweet, dessen Inhalt ein Aufruf zur Solidarität mit den Menschen in Kobanê war, nun zum Anlass genommen, einen neuen politischen Vernichtungsfeldzug einzuleiten (der Auftakt der Ereignisse ab dem 6. Oktober 2014 war der Aufruf des HDP-Exekutivrats während einer Dringlichkeitssitzung über Twitter: „Dringender Aufruf an unsere Völker […]! In Kobanê ist die Lage äußerst kritisch. Wir rufen unsere Völker dazu auf, auf die Straße zu gehen und diejenigen zu unterstützen, die bereits auf der Straße sind, um gegen die Angriffe des IS und gegen das Embargo der AKP-Regierung zu protestieren.”, Anm. d. Red.). Das Ziel ist es, die Wahrheit über die Ereignisse zu verschleiern und die HDP in den Würgegriff zu nehmen, da sie als das größte Hindernis für den Vormarsch der AKP gilt.

Sie sprechen also vom Ergebnis einer Gesamtpolitik?

Die kurdenpolitische Strategie der AKP-Regierung folgt nicht erst seit heute dem Primat eines rigiden türkischen Nationalismus. Im Verlauf aller Putsche gegen die politische kurdische Bewegung, seien es die jüngeren Verhaftungswellen, die Inhaftierung von unseren Abgeordneten und Mandatsträger*innen auf kommunaler Ebene im Jahr 2016, oder die sogenannten KCK-Operationen ab April 2009 – im Grunde können wir auch noch weiter zurückgehen bis zum Putsch gegen die DEP-Abgeordneten im März 1994 – zeichnete sich das Handeln des Staates stets durch die allgegenwärtige Politik der Verleugnung, Zerstörung und Assimilation aus. Es ist eine Politik in der Tradition der Dorfverbrennungen in den neunziger Jahren, den „Morden unbekannter Täter“ – die eigentlich bekannt sind, dem „Verschwindenlassen“ von Menschen in Gewahrsam und den Zwangsvertreibungen, die sich heute in unterschiedlichen Ausprägungen manifestiert: Treuhandregime, Hubschrauber-Folter, Angriffe gegen die kurdische Zivilbevölkerung im ländlichen Raum, Folter, sexualisierte Gewalt, Vergewaltigung, systematische Verstöße gegen das Recht auf Leben, willkürliche Festnahmen und Verhaftungen. Ähnlich wie bereits in den neunziger Jahren werden diejenigen, die im Namen des Staates Verbrechen gegen das Volk begehen, vom Staat gedeckt. Die Politik der Straflosigkeit ist die Hauptursache der Menschenrechtsverletzungen in unserem Alltag. All diese Erfahrungen zeigen, dass der von der AKP eingeschlagene Weg zurück zu den Werkseinstellungen des Staates geführt hat. Es ist aber nicht nur die AKP, die zu den dunklen Jahren zurückgekehrt ist – das gesamte Land erlebt einen Zerfall. Das kurdische Volk hingegen widersetzt sich dieser Politik und kämpft wie bereits in den Neunzigern gegen die antidemokratischen Zustände an. Dass die HDP als Dach der demokratisch-freiheitlichen Kräfte der kurdischen Bewegung in der Türkei sowie der sozialistischen Bewegungen heute die drittstärkste Partei im Parlament ist, ist ein Ergebnis dieser Widerstandstradition. Es ist die HDP, die heute als Garant für die Demokratie in der Türkei steht und die Politik bestimmt. Mit Angriffen, Festnahmen und Verhaftungen wird versucht, den Einfluss und die Rolle der HDP zu untergraben.

Sebahat Tuncel blickt im Parlament dem MHP-Vorsitzenden Devlet Bahçeli ins Gesicht

Wie Sie beschrieben haben, wird der politische Handlungsspielraum der HDP immer mehr eingeschränkt. Steigt die Dosis der Aggression mit der Corona-Krise und dem Zangengriff, in dem sich die AKP innen- und außenpolitisch befindet?

Die Komponenten der Volksallianz sehen die HDP berechtigterweise als einziges Hindernis vor ihrem Handeln. Mit ihrer demokratischen, ökologischen und frauenemanzipatorischen Perspektive hält die HDP die Hoffnung der Völker auf ein würdevolles Leben aufrecht. Ihr Paradigma, das sich auf Frauenbefreiung, lokale Demokratie, Verteidigung der Rechte und Freiheiten der arbeitenden Klasse, ökologischer Nachhaltigkeit, Geschlechter-Gleichberechtigung und Religions- und Meinungsfreiheit stützt, steht dem klassischen Herrschaftsmechanismus kritisch gegenüber. Die Institution Staat in der heutigen Türkei identifiziert sich über ein faschistisches Bündnis, dessen Gerüst aus patriarchaler Befehlsgewalt, Kapitalismus, religiösem Fanatismus, Sexismus, nationalistischem Konservatismus und Militarismus besteht. Insofern ist es nur natürlich, dass sich die Regierung vor der HDP fürchtet. Es geht hierbei nicht nur um das Stimmenpotenzial, über das die HDP verfügt. Die Angriffe gegen die HDP richten sich direkt gegen ihr Verständnis von Demokratie, Freiheit und Frieden.

Die Volksallianz begreift und nutzt die Unterdrückung der Gesellschaft und Opposition als Instrument zum Machterhalt und -ausbau. Wie alle faschistischen Regime greift auch sie auf pure Gewalt als Mittel zurück, das Volk zu regieren. Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie ist der Charakter der AKP/MHP-Regierung noch sichtbarer geworden, da sie selbst diese Krise zum eigenen Machtausbau nutzte. Statt für den Schutz der Gesundheit, eines der grundlegendsten Menschenrechte, demokratisch und transparent zu handeln und die Bevölkerung in diesen Prozess miteinzubeziehen, hat das Regime sich an der Pandemie als Mittel des Drucks auf die Gesellschaft bedient. Während die Regierungskoalition ihren politischen Aufgaben weiterhin nachgehen kann, wird der Handlungsspielraum der Opposition mit Verweis auf Corona eingeschränkt, um sie zum Schweigen zu bringen. Bürgerrechte werden außer Kraft gesetzt und Freiheiten ausgehebelt, während ein „spezieller“ Justizapparat ausschließlich für die Wahrung der Regierungsinteressen eingeschaltet wurde. Die jüngsten Beispiele veranschaulichen dies eindrücklich: die Generalversammlungen der Rechtsanwaltskammern werden annulliert, Zusammenkünfte von Opposition und Bevölkerung behindert, aber AKP-Kongresse sind nicht von der Pandemie betroffen. Werktätige, Beschäftigte der Landwirtschaft und andere Gruppen, die einen Gerechtigkeitskampf führen, werden mit staatlicher Repression überzogen, während der AKP, die nahezu täglich neue Gesetze einbringt und verabschiedet, um Grundrechte weiter auszuhöhlen, als Inhaberin der staatlichen Macht keine Grenzen gesetzt werden.

Diese Situation zu verändern ist möglich. Wir dürfen diese Ereignisse nicht als unser Schicksal betrachten. Das, was getan werden muss, um die grundlegenden Probleme in der Türkei zu lösen und Freiheit, Sicherheit und Demokratie zu wahren und zu garantieren, ist ein Zusammenschluss aller oppositionellen Kräfte. Bündnisse, die gemeinsame Kämpfe lediglich auf Wahlen beschränken, werden weder in der Lage sein, die politische und ökonomische Krise im Land zu bewältigen, noch können sie dauerhafte Lösungen für die vom Regime geschaffenen strukturellen Probleme erarbeiten. Vor diesem Hintergrund müssen alle Kräfte innerhalb der Türkei, zu deren politischer Perspektive die praktische Lösung der kurdischen Frage, der Frauenfrage und der Probleme der Werktätigen gehört, zusammenkommen und die Forderung der Völker nach Veränderung sowie gleichberechtigter Teilhabe und Repräsentanz erkämpfen. Es reicht nicht aus, Einwände nur zu erheben. Sie müssen organisiert und durchgesetzt werden.

4. November 2016, Amed: Festnahme von Sebahat Tuncel bei Protest gegen Verhaftung ihrer Kolleg*innen. Zwei Tage später folgte ihre eigene Inhaftierung

Wie bewerten Sie die Rolle der MHP innerhalb der Regierung?

Die AKP hat ihre Fähigkeit allein zu regieren längst verloren. Insbesondere durch die Verwerfung der Option für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage nach den Wahlen 2015 hat die AKP der Türkei einen neuen Weg aufgezwungen. Für diesen fundamentalistischen, nationalistisch-konservativen, sexistischen und neoosmanischen Weg benötigte sie einen Gefährten. Die AKP distanzierte sich von den konservativen Demokraten und Liberalen, um mit der MHP, den Strukturen des tiefen Staates (Ergenekon), radikal nationalistischen und islamistischen Gruppen die Volksallianz zu bilden. Das Fundament dieses Bündnisses bildet die Kurdenfeindschaft, der MHP-Chef Devlet Bahçeli übt die Funktion des Ko-Vorsitzenden aus. Ihnen wird sicher aufgefallen sein, dass seine Ansagen umgehend in die Praxis umgesetzt werden. Es befindet sich also nicht nur die Idee der MHP an der Macht – die MHP stellt sogar diese Regierung.

Bei all diesen politischen Vernichtungsfeldzügen sind besonders viele weibliche Politikerinnen verhaftet worden – Sie ebenfalls. Was bezweckt die AKP mit ihren Angriffen auf Frauen?

Die AKP positioniert sich nicht nur gegenüber der kurdischen Politik. Sie ringt ebenso mit dem Kampf der Frauen für Gleichberechtigung und Freiheit. Der Angriff auf die Istanbul-Konvention ist das Ergebnis dieser Mentalität. Das von der kurdischen Frauenbewegung erstellte, libertär geprägte Paradigma, das auf der Gleichstellung der Geschlechter beruht und auf soziale Transformation abzielt, erschreckt die AKP und ihre Partner, die das männerdominierte kapitalistische System repräsentieren. Im Visier dieser patriarchalen Aggressoren befinden sich alle Frauen in der Türkei, aber kurdische Frauen sind einem doppelten Angriff ausgesetzt: sowohl aufgrund ihrer ethnischen als auch ihrer weiblichen Identität. Der Anstieg von Femiziden, Gewalt gegen Frauen und Vergewaltigungen seit der Machtübernahme der AKP sind das konkrete Ergebnis, bei dem sich patriarchale Mentalität und Reflexion über die Gesellschaft treffen. Im Mittelpunkt der Bekämpfung von weiblichen Widerständen liegt aber weiterhin die Verhaftung von kurdischen Politikerinnen und die Schließung ihrer Institutionen und Vereine. Es ist schließlich kein Geheimnis, dass Frauen und ihre Kämpfe den gesellschaftlichen Wandel schneller vorantreiben als andere. Die versuchte Kriminalisierung unseres Prinzips der genderparitätischen Doppelspitze in allen Ebenen verdeutlicht das ganze Ausmaß dieser Realität.

Gegen kurdische Frauen hat die AKP jedoch Spezialkriegsmethoden eingeführt. Während politisch aktive Kurdinnen ins Gefängnis gesteckt werden, wird den Frauen draußen ihr Schutzschirm vor staatlicher und männlicher Gewalt entrissen. In der letzten Zeit wurde häufig vom Anstieg der staatlich-patriarchalen Gewalt gegen Frauen, sexuellen Übergriffen, Vergewaltigungen, Entführungen und Femiziden in den kurdischen Regionen berichtet, besonders in Êlih (türk. Batman), Şirnex (Şırnak) und Dersim. Die Zunahme der geschlechtsspezifischen Gewalt und die Straflosigkeit für Frauenmorde sind integrale Bestandteile des Spezialkrieges, von dem ich spreche. Unsere Antwort darauf muss lauten, an unserer frauenpolitischen Linie festzuhalten und sie überall zu verteidigen. Die Offensive „Em xwe diparêzin“ (deut. Wir verteidigen uns selbst) der Bewegung Freier Frauen (kurd. Tevgera Jinên Azad) ist dahingehend äußerst wichtig. Dass Frauen sich selbst verteidigen, ist eine Angelegenheit, die höchste Priorität hat und keinen Aufschub verträgt. Die Essenz der Frauenverteidigung liegt in einer starken und weitreichenden Organisierung von Frauen. Wir müssen bedenken, dass es überall dort, wo unsere Organisierung geschwächt wird, häufiger zu Femizid und patriarchaler Gewalt gegen Frauen kommt. Die Gründung und vor allem Stärkung von Frauenräten, Vereinen und Solidaritätsnetzwerken ist in der aktuellen Phase wichtiger denn je. Genauso von Belang ist der von Frauen geführte Kampf für ein gleichberechtigtes Leben und gesellschaftlichen Frieden. Für Frauen ist es von entscheidender Bedeutung, sich in allen Lebensbereichen zu organisieren, die Solidarität untereinander zu stärken und jegliche Art von Gewalt gegen ihr Geschlecht zu verhindern. Bei dieser Gelegenheit grüße ich alle Frauen, die sich am Frauenbefreiungskampf beteiligen. Ich wünsche ihnen viel Erfolg.

Mittlerweile sind nur noch sechs der 65 Kommunalverwaltungen übrig, in denen die HDP die Wahl im März 2019 gewonnen hatte. Was hat es mit den Angriffen gegen die lokale Politik auf sich?

Das kurdische Volk hat sich bei jeder Wahl dieser Politik des AKP/MHP-Faschismus widersetzt und an allen Orten, die zuvor durch Treuhänder zwangsverwaltet wurden, wieder seine eigenen Vertreterinnen und Vertreter gewählt. Doch der politische Wille des Volkes ist erneut okkupiert worden. Die AKP mag unter Einsatz von Zwangsverwaltern die Rathäuser belagern und die Stimme der Gesellschaft mit repressiven Maßnahmen, Gewalt und Grausamkeit, Folter, Festnahmen und Verhaftungen unterdrücken. Aber sie kann das kurdische Volk niemals von seinem Anspruch auf den Erhalt von Identitätsmerkmalen wie der Sprache und Kultur sowie der Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht abbringen. Manchmal lässt die Stille die Machthabenden mehr aufschrecken als Stimmen und Klänge. Denn niemand kann vorhersagen, wann sich die Ruhe in einen Ton oder eine Rebellion verwandeln wird. Eines der Ziele des Treuhandregimes der AKP ist es, unser Bestreben nach direkter Demokratie als Instrument der Frauenbewegung zu untergraben. Trotz unserer Fehler und Schwächen stellt die kurdische Politik mit ihrem freiheitlichen und egalitären Modell der lokalen Selbstverwaltung die zentralistische, monistische, sexistische und auf Rentabilität ausgerichtete Politik der Regierung bloß. Beachten Sie, dass die ersten Amtshandlungen der Zwangsverwalter beinhalten, die Transparenz und Kontrollmechanismen zu beseitigen und Bestechung sowie Korruption zu legitimieren. An einem Ort, an dem der Wille der Menschen nicht respektiert und von der staatlichen Gewalt usurpiert wird, ist es nicht möglich, über Frieden, Demokratie und Freiheiten zu sprechen. Die Politik der Zwangsverwaltung ist ein Zeichen dafür, dass in der Türkei Demokratie, Menschenrechte und Freiheiten tot unter der Erde liegen.

Doch eins sei gesagt: Treuhandregime, Verhaftungen, auf Gewalt ausgerichtetes Handeln und Unterdrückung stellen vergebliche Anstrengungen dar, uns von unserem Kampf abzuhalten. Im Gegenteil, diese Methoden bestärken uns in unserem Glauben an unseren Widerstand und erhöhen unsere Entschlossenheit.


Wer ist Sebahat Tuncel?

Die Politikerin, Feministin, Kartografin und ehemalige Krankenschwester Sebahat Tuncel wurde im Jahr 2006 aufgrund des Verdachts der PKK-Mitgliedschaft angeklagt und inhaftiert. Ein Jahr zuvor gründete sie mit anderen kurdischen Politikerinnen und Politikern die Partei der demokratischen Gesellschaft (Demokratik Toplum Partisi, DTP), die sich für die nationale Anerkennung der Kurden und eine friedliche Lösung der kurdischen Frage einsetzte. Die Partei wurde am 11. Dezember 2009 durch Entscheid des Verfassungsgerichts verboten.

Für die Parlamentswahlen 2007 kandidierte die heute 45-jährige Tochter alevitisch-kurdischer Eltern aus Meletî (Malatya) als unabhängige Kandidatin für die Provinz Istanbul und gewann mit 93.000 Stimmen im dritten Wahlbezirk. Daraufhin wurde sie am 25. Juli 2007 aus der Haft entlassen. Tuncel ist damit die erste Abgeordnete, die aus dem Gefängnis heraus eine Wahl gewann.

Nach dem Verbot der DTP trat Tuncel der Partei des Friedens und der Demokratie (Barış ve Demokrasi Partisi, BDP) bei. Für die Parlamentswahlen im Juni 2011 stellte sie sich als unabhängige Kandidatin wieder für Istanbul auf und wurde wiedergewählt. 2014 wurde die BDP auf dem dritten Parteikongress umbenannt. So entstand die heutige Partei der demokratischen Regionen (Demokratik Bölgeler Partisi, DBP), deren Ko-Vorsitzende Sebahat Tuncel war. Anders als zuvor die BDP konzentriert sich die DBP auf ein Engagement auf lokaler Ebene. Die Teilnahme an nationalen Parlamentswahlen übernimmt als Schwesterpartei die HDP. Das erklärte Ziel der DBP ist die Vertretung der Interessen der kurdischen Bevölkerung und eine Dezentralisierung der Türkei.

Sebahat Tuncel wurde im Herbst 2016 erneut verhaftet und im Februar 2019 gemeinsam mit Gültan Kışanak wegen Terrorismusvorwürfen zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Das Revisionsgericht hat das Urteil wegen Formfehlern aufgehoben. Seit Mitte Januar läuft das wieder aufgerollte Verfahren in Meletî (Malatya). Tuncel befindet sich weiterhin in Haft.