Istanbul: Anwaltsprotest im Polizeikessel

In Istanbul finden Proteste gegen die Annullierung der Generalversammlung der Rechtsanwaltskammer durch das türkische Innenministerium statt. „Rechtsstaat statt Polizeistaat“, skandieren Jurist*innen im Polizeikessel.

In Istanbul protestieren Mitglieder zahlreicher Juristenverbände gegen die Annullierung der Generalversammlung von Rechtsanwaltskammern. „Rechtsstaat statt Polizeistaat“, skandieren Anwältinnen und Anwälte bei einer Kundgebung, die in einer Seitenstraße neben dem Büro der Istanbuler Kammer auf der Einkaufsmeile Istiklal Caddesi im zentralen Stadtteil Beyoğlu im Polizeikessel stattfindet. Mehreren Journalist*innen wurde mit Festnahmen gedroht, um die Dokumentation des Protests zu unterbinden. Auch wurden Passant*innen, die ihren Unmut über die massive Polizeipräsenz zum Ausdruck brachten, von Beamt*innen beschimpft und angepöbelt.

Die Generalversammlung der Rechtsanwaltskammer Istanbul sollte an diesem Samstag im Kongresszentrum Haliç durchgeführt werden. Doch mit einem Erlass zu Großveranstaltungen hatte das Innenministerium die Zusammenkunft mit Verweis auf die Gefahr durch das Coronavirus unterbunden. Die gezogene Reißleine betrifft allerdings nur Treffen, Sitzungen und andere Aktivitäten der Berufskammern, Verbände, Kooperativen und zivilgesellschaftlichen Organisationen – allesamt traditionell regierungskritische Zusammenschlüsse. Vor diesem Hintergrund kann auch die Generalversammlung der Ärztekammer nicht stattfinden. Das von der AKP-Regierung erlassene Dekret soll frühestens am 1. Dezember wieder aufgehoben werden. Eine Beschwerde dagegen hat der Hohe Wahlausschuss (YSK) als unbegründet bereits zurückgewiesen. Die Kammern sind empört, da es sich um ein Dekret ohne juristische Grundlage handele.

Am Samstag früh fand bereits eine spontane Demonstration von Juristenverbänden durch Beyoğlu statt. Zuvor war den Anwält*innen der Zugang zum Kongresszentrum Haliç polizeilich verwehrt worden. Bei einer Erklärung hatte es geheißen, dass Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei nicht mehr existierten und die Verfassung als staubige Vergangenheit empfunden werde.

Regierungskritische Anwaltskammern erklärter Feind von Erdoğan

Im Juli hatte das türkische Parlament eine umstrittene Gesetzesänderung zur Neuorganisation von Anwaltskammern verabschiedet. Der von der islamistisch-konservativen Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdoğan und der ultranationalistischen MHP eingebrachte Entwurf zielt darauf ab, die Kammern politisch zu spalten, da die Neuregelung die Gründung mehrerer Anwaltskammern in Provinzen mit mehr als 5.000 Mitgliedern ermöglicht. Die traditionell regierungskritischen Kammern vergeben Rechtsanwaltslizenzen und sprechen für die rund 128.000 Rechtsanwält*innen im Land. Der Istanbuler Verband hat mit 46.052 Registrierten die meisten Mitglieder. An zweiter Stelle steht die Kammer in Ankara. Beide sind Erdoğan schon lange ein besonderes Dorn im Auge.

Die AKP argumentiert, dass die große Anzahl Mitglieder in den Anwaltskammern zurzeit die Kommunikation erschwere. Die aktuell existierenden Anwaltskammern sowie viele Anwälte und Aktivisten sehen in der Reform jedoch vielmehr das klare Ziel, den Einfluss der regierungskritischen Kammern durch mehrere neue zu verringern.

Das Vorhaben trägt auch dazu bei, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Justizsystems zu untergraben.