Die Generalstaatsanwaltschaft von Istanbul hat ein Ermittlungsverfahren gegen die Istanbuler Rechtsanwaltskammer eingeleitet. Hintergrund ist ein Transparent mit dem Konterfei der Rechtsanwältin Ebru Timtik, das einen Tag nach ihrem Tod an der Außenfront des Büros der Kammer auf der Einkaufsmeile Istiklal Caddesi im zentralen Stadtteil Beyoğlu angebracht worden war.
Ebru Timtik starb Ende August nach drei Jahren Haft und einem monatelangen „Todesfasten“ an Herzversagen. Mit dem Hungerstreik forderte die 42-jährige Juristin ein gerechtes Verfahren. Zusammen mit anderen Anwält*innen der Kanzlei „Rechtsbüro des Volkes“ (HHB) war Timtik im September 2017 verhaftet und zwei Jahre später wegen Terrorvorwürfen zu einer dreizehneinhalbjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Ihr wurden aufgrund von widersprüchlichen Aussagen eines Kronzeugen Verbindungen zur DHKP-C zur Last gelegt, die in der Türkei als Terrororganisation gilt. Vergangene Woche hat der türkische Kassationsgerichtshof seine Entscheidung im Fall Timtik aufgehoben.
Die Istanbuler Rechtsanwaltskammer hatte bestritten, das Transparent von Timtik am Balkon angebracht zu haben. Trotz Einwänden des diensthabenden Personals seien Personen einen Tag nach ihrem Tod während einer öffentlichen Gedenkveranstaltung auf der Istiklal Caddesi in die Räumlichkeiten eingedrungen und hätten das Poster angebracht. Als erste Bilder davon in den sozialen Medien auftauchten, hatte es ohne Verzögerung Drohungen aus Regierungskreisen gegeben. Justizminister Abdülhamit Gül sagte, es sei nicht hinnehmbar, dass die Kammer „ein Propagandazentrum und der Hinterhof von illegalen Strukturen“ wäre. Innenminister Süleyman Soylu legte noch einen drauf und sagte, der Vorstand der Istanbuler Rechtsanwaltskammer handle entgegen der „Werte dieser Nation“. Das Anbringen des Transparents mit Timtiks Bild bezeichnete Soylu als „Schande“ und „Verrat an der Anwaltschaft”.
Die Istanbuler Rechtsanwaltskammer vermutet eine gezielte Operation hinter dem Vorfall, um die öffentliche Wahrnehmung zu verbiegen. Der AKP sind die Anwaltskammern seit langem ein Dorn im Auge. Sie thematisieren immer wieder heikle Fragen wie Gewalt gegen Frauen, Folter und Misshandlung durch die Polizei, Korruption und sexuellen Missbrauch. Im Juli verabschiedete das türkische Parlament eine umstrittene Gesetzesänderung zur Neuorganisation der Anwaltskammern. Der Entwurf war von der islamistisch-rechtsextremen AKP/MHP-Koalitionsallianz eingebracht worden. Das Gesetz lässt alternative Vereinigungen zu, die Mitglied im Dachverband der auf Provinzebene organisierten Anwaltskammern der Türkei (Türkiye Barolar Birliği, TBB) werden können. Damit kann das Stimmengewicht der größten Kammern wie etwa in Istanbul, Izmir und Ankara, die zu den unbequemen Kritikern Erdoğans zählen, geschwächt werden. Die Anwaltskammern geraten so unter staatlicher Kontrolle.
Das Ermittlungsverfahren gegen die Kammer in Istanbul betrifft den gesamten elfköpfigen Vorstand, darunter auch den Vorsitzenden Mehmet Durakoğlu. Sie alle sollen bereits eine Vorladung als Beschuldigte durch die Staatsanwaltschaft erhalten haben. Was ihnen konkret zum Vorwurf gemacht wird, ist unklar.