Vermutlich noch vor der parlamentarischen Sommerpause wird das Regierungsbündnis aus Erdoğans islamistischer AKP und der rechtsextremen MHP eine Änderung des Wahlsystems für die Verwaltungen der Rechtsanwaltskammern beschließen. Der Entwurf zur proportionalen Vertretung würde de facto alternative Vereinigungen zulassen, die dann Mitglied im Dachverband der auf Provinzebene organisierten Anwaltskammern der Türkei (Türkiye Barolar Birliği, TBB) werden können. Damit würde das Stimmengewicht der größten Kammern wie etwa in Istanbul, Izmir und Ankara, die zu den unbequemen Kritikern Erdoğans zählen, geschwächt werden. Die Anwaltskammern wären unter staatlicher Kontrolle.
Auslöser des Gesetzesvorhabens war eine Erklärung der Anwaltskammer Ankara, in der scharfe Kritik an den homophoben Äußerungen des Vorsitzenden der staatlichen Religionsbehörde Diyanet formuliert wurde. Bei einer Freitagspredigt zum Auftakt des Fastenmonats Ramadan Ende April brandmarkte der Kleriker Ali Erbaş Ehebruch und Homosexualität als Ursachen für Krankheiten und als unislamisch. Als Beispiel verwies er auf die Ausbreitung von HIV/Aids und führte auch den Ausbruch des Coronavirus auf Homosexualität und das Zusammenleben unverheirateter Paare zurück.
Rechtsanwaltskammer von Amed
Die Anwaltskammer in Ankara warf Erbaş, der in der Vergangenheit schon Frauenfeinde in Schutz genommen und Kindesmissbrauch ignoriert hatte, daraufhin vor, Menschen herabzuwürdigen und zum Ziel von Angriffen zu machen. „Es sollte niemanden verwundern, wenn Ali Erbaş bei seiner nächsten Rede das Volk dazu auffordern würde, auf öffentlichen Plätzen Frauen als Hexen zu verbrennen“, hieß es außerdem in dem Text. Erdoğan stellte sich hinter seinen homophoben Diyanet-Chef und bewertete die Kritik der Anwaltsvereinigung als „staatsfeindlich“. Danach erteilte er seiner Partei die Anweisung für einen Gesetzesentwurf, um die Anwaltskammern auf Linie zu bringen. Gegen die Kammer in Ankara wurde zudem ein Ermittlungsverfahren wegen „Herabwürdigung religiöser Werte“ eingeleitet.
Rechtsanwaltskammer von Riha
Anfang Juni forderten 79 Rechtsanwaltskammern in einer gemeinsamen Erklärung die Regierung auf, das umstrittene Gesetzesvorhaben zurückzuziehen und zumindest ihre Türen für einen Dialog und Verhandlungen über die geplanten Änderungen offenzuhalten. Andernfalls werde es zu Protesten kommen. Erdoğan zeigte in gewohnt überheblicher Manier keine Reaktion. Daraufhin kündigten die Kammern einen Sternmarsch auf Ankara an, der unter dem Motto „Freiheit für die Verteidigung“ steht. Seit Freitag marschieren Jurist*innen und die Vorsitzenden von 41 Anwaltsvereinigungen, darunter die drei größten Izmir, Istanbul und Ankara sowie Amed (türk. Diyarbakir), Wan (Van) und Mêrdîn (Mardin), bereits Richtung türkischer Hauptstadt. Täglich wurden symbolisch zehn Kilometer zu Fuß zurückgelegt, die restliche Strecke mit Autos gefahren. Die Aktion stößt landesweit auf breite Zustimmung, in vielen Städten wurden die Rechtsanwält*innen von großen Menschenmengen empfangen. Am Montag werden die Demonstrierenden Ankara erreichen und vor dem Sitz der türkischen Nationalversammlung ihren Protest gegen die Pläne der Regierung fortsetzen. Geplant sind verschiedene Aktionen rund um das Parlamentsgebäude.
Korrekturhinweis: In einer früheren Version hieß es, der Marsch erreiche am Sonntag die Hauptstadt Ankara.