„Femizide sind Folge der AKP-Politik“

Nevriye Çur, Aktivistin der Frauenbewegung TJA, sieht in der Politik der Straflosigkeit des türkische Regimes einen Hauptgrund für den Anstieg von Femiziden. „Die Femizide sind eine Folge der AKP-Politik“, betont sie.

In 19 Jahren AKP-Herrschaft wurden nach offiziellen Zählungen 7.455 Frauen von Männern ermordet. Die realen Zahlen dürften weit höher liegen, da viele Femizide als „Selbstmorde“ vertuscht werden. In der letzten Zeit häufen sich die Fälle, in denen Frauen, die sich gegen ihre Peiniger verteidigen, von Haftstrafen, die bis hin zu lebenslänglich reichen, bedroht sind. Die Aktivistin der Bewegung Freier Frauen (Tevgera Jinên Azad – TJA), Nevriye Çur, spricht über die Politik der AKP und die Selbstverteidigung von Frauen.

 

Frauen verteidigen sich, weil sie nicht sterben wollen“

Çur betrachtet Selbstverteidigung historisch und beschreibt, dass Frauen sich schon immer gegen Gewalt, Belästigung und Vergewaltigung verteidigt haben. „Frauen haben sich immer durch Selbstverteidigung gegen alle Angriffe auf Frauen, Natur, Kultur und Gesellschaft geschützt”, erklärt sie. „In der Türkei werden Morde an Frauen verübt, weil Frauenmörder nicht verurteilt werden. Durch Vollzugsreformen und Gesetzespakete wurden Frauenmörder amnestiert. Männer werden durch die misogyne Politik der AKP ermutigt. Ein Mann kann sich hinstellen und sagen: ‚Ich werde dich töten, dann sitze ich zwei Jahre und bin wieder raus.‘ Das ist die Praxis der Regierung in Reinform. Die Frauen verteidigen sich, weil sie nicht sterben wollen.“

Kämpferische Frauen im Visier

Çur berichtet, dass Gewalt gegen Frauen und Feminizide mit der Pandemie noch zugenommen haben. „Kämpfende Frauen werden von der Regierung ins Visier genommen,“ sagt Çur und gibt Beispiele: „Zuerst wurde die Guerillakämpferin Ekin Wan bei einem Feuergefecht in Wan [türk. Van] getötet, dann wurde ihr nackter Körper öffentlich zur Schau gestellt. In Amed [Diyarbakır] wurde die TJA-Aktivistin Rojbîn Cetin stundenlang von der Polizei gefoltert. Während die folternden Polizisten nicht verfolgt wurden, wurde die Anwältin, die Aufnahmen der Folterspuren veröffentlichte, angeklagt. Die Folter an Frauen erinnert an Esat Oktay im Kerker von Diyarbakır.

Das Regime kann die Errungenschaften der Frauen nicht tolerieren“

Sie nutzen alle Foltermethoden, um Frauen zurückzudrängen. Sie greifen brutal an. Diese Folterpolitik wird seit 1980 fortgesetzt. Sie wollen den Kampf der Frauen schwächen, indem sie TJA-Sprecherin Ayşe Gökkan und die Ko-Vorsitzende des Demokratischen Gesellschaftskongresses (KCD) Leyla Güven inhaftieren. Der Kampf der Frauen hat dem Patriarchat einen schweren Schlag versetzt. Da das Regime unsere Errungenschaften nicht tolerieren kann, will es uns mit Gefängnis und Verhaftungen einschüchtern. Aber nach jeder Verhaftung wächst unsere Zahl um Tausende.“

Spezialkrieg gegen Frauen in Kurdistan

Çur beschreibt die Situation in Nordkurdistan als noch dramatischer als in der Türkei. In Nordkurdistan ist sexualisierte Gewalt Teil des Spezialkriegs gegen die kurdische Bevölkerung . Çur erinnert an das Verbrechen des Unteroffiziers Musa Orhan, der die Kurdin Ipek Er tagelang vergewaltigte. Ipek Er nahm sich nach dem Verbrechen das Leben. Der Vergewaltiger ist trotz aller Beweise frei und wurde nicht verurteilt. Die Frauenaktivistin berichtet: „Als Folge des Protests und des Kampfes der Frauen wurde Verfahren eröffnet, aber leider wurde der Täter sofort freigelassen. Er wurde freigelassen, weil die Verstorbene eine kurdische Frau war und ihr Vergewaltiger ein Unteroffizier. Es gibt Dutzende ähnliche Beispiele. Die Studentin Gülistan Doku wurde in Dersim von einem Polizistensohn verschleppt und ist seither ‚verschwunden‘. Auch hier wurde niemand vor Gericht gestellt. Seit mehr als einem Jahr gibt es keine Neuigkeiten von Gülistan. Aber der Täter ist draußen. In Kurdistan gibt es eine Spezialkriegspolitik gegen junge Frauen.“

Entweder du stirbst oder du tötest“

Çur beschreibt die bittere Wahl vieler Frauen, entweder zu sterben oder ihren Peiniger zu töten. Sie schließt mit den Worten: „Der Staat schützt Frauen nicht. Wenn eine Frau den Mann tötet, der sie foltert, wird sie zu einer höheren Strafe verurteilt als Männer, die Frauen ermorden. Auch hier sehen wir das patriarchale System in aller Deutlichkeit. Die Frauen verteidigen sich und ihre Kinder, um nicht zu sterben. Sie töten den Mann in Notwehr. Anschließend werden sie zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Ein Beispiel ist Melek Ipek. Sie soll zu lebenslänglicher Haft verurteilt werden, weil sie ihren Folterer Ramazan Ipek getötet hat. Das patriarchale Rechtssystem schützt die Männer.

Wenn sich Frauen an staatliche Einrichtungen wegen Gewalt wenden, dann passiert überhaupt nichts. Es wird höchstens die Aussage der Männer aufgenommen und sie werden anschließend freigelassen. Die Frauen müssen gegen diese Staatpolitik organisieren und sich schützen.“