Wut und Entsetzen nach systematischer Vergewaltigung in Êlih

Eine mutmaßliche Massenvergewaltigung eines 15-jährigen Mädchens durch 27 Männer, darunter Unteroffiziere, Polizisten und Dorfschützer in Kercews bei Êlih, versetzt Frauenrechtlerinnen in der Türkei derzeit in Aufruhr.

Eine mutmaßliche Massenvergewaltigung eines 15-jährigen Mädchens durch 27 Männer, darunter Unteroffiziere, Polizisten und Dorfschützer in Kercews (türk. Gercüş), versetzt die Türkei derzeit in Aufruhr. Im Netz protestieren tausende Frauen unter dem Hashtag #GercüşteNeOluyor (Was geschieht in Gercüş?) zur Unterstützung der Jugendlichen und gegen sexualisierte Gewalt gegen Frauen und fordern eine unverzügliche Aufklärung.

Medienberichten zufolge wurde das Mädchen über Monate hinweg vergewaltigt und wurde schwanger. Die Schwangerschaft der Fünfzehnjährigen sei aber erst spät bemerkt worden. Das Mädchen war bereits im siebten Monat, als es im November über Bauchschmerzen klagte und in ein Krankenhaus gebracht wurde. Während der Untersuchung fanden die Ärzte heraus, dass das Mädchen über einen längeren Zeitraum wiederholt vergewaltigt worden war. Daraufhin wurde es zur Polizei in der Provinzhauptstadt Êlih (Batman) gebracht und erstattete Anzeige gegen zwei der Tatverdächtigen, V.A. und M.A., die im selben Dorf wie das Mädchens wohnen. Letzterer gestand bereits, die Jugendliche vergewaltigt zu haben, und wurde verhaftet. Bei seiner Vernehmung nannte der Mann weitere Namen, die sich systematisch an dem Mädchen vergangen haben sollen. In der Ermittlungsakte tauchen nach Recherchen der Frauennachrichtenagentur JinNews, die als erste über den Fall berichtet hatte, allerdings nur elf Namen auf. Da die zuständige Staatsanwaltschaft die Behördenpapiere bereits als „sensibel und geheim” einstufen ließ, kann sich der Anwalt des Mädchens, Alaattin Şimşek, vorerst nicht weiter zur Sache zu äußern. In der Türkei ist es üblich, dass Ermittlungsakten zur Verschlusssache werden, sobald sich unter den Beschuldigten Sicherheitskräfte befinden oder Regierungskreise ihre Finger im Spiel haben.

Auch Zwangsprostitution in Kercews

Die Korrespondentinnen von JinNews stießen bei ihren Recherchen in Kercews auch auf den Hinweis, dass zwei erwachsene Frauen aus der Stadt zumindest von einigen der mutmaßlichen Vergewaltiger zur Prostitution gezwungen worden sind. Beide Frauen würden in der selben Textilfabrik arbeiten, in der auch das fünfzehnjährige Mädchen angestellt ist. Bewohnerinnen und Bewohner aus der Stadt äußerten in Gesprächen mit JinNews, dass die Vorfälle seit Monaten bekannt seien, aber aus Angst vor Rache durch die involvierten Sicherheitskräfte geschwiegen werde. Unter den Tatverdächtigen sollen sich neben dem Besitzer sowie dem Fahrer der Textilfabrik auch der Betreiber eines Cafés befinden, das direkt neben dem Betrieb liegt und dessen Eigentümer ein Unteroffizier der türkischen Armee ist. Dieser Café-Betreiber habe bis vor einem Jahr einen Kiosk in der Nähe einer Schule geleitet, das Geschäft nach etlichen Beschwerden wegen Kinderbelästigung allerdings geschlossen. Dieses dreiköpfige Zuhälter-Netzwerk soll die beiden Frauen in die Zwangsprostitution vermittelt und das 15-jährige Mädchen zur Vergewaltigung angeboten haben. Eine Reporterin der feministischen Frauennachrichtenagentur wurde zudem auf Anweisung des Café-Besitzers von mehreren Beamten der Polizeisondereinheit PÖH bedrängt und mit Nachdruck dazu aufgefordert, ihre Nachforschungen abzubrechen und die Stadt zu verlassen.

Staatliche Stellen bestreiten Vorwürfe

Die Fünfzehnjährige ist derweil in der Obhut der „Generaldirektion für die Dienstleistungen an Kindern”. Die staatliche Behörde ist dem Ministerium für Familie, Arbeit und Soziales angegliedert. Laut JinNews fordert das Mädchen einen Schwangerschaftsabbruch und will zurück zu ihrer Familie. Etliche Fragen bleiben vor dem Hintergrund der Geheimhaltungsverfügung über die Ermittlungsakte weiterhin unbeantwortet.

Frauenrechtler*innen sind entsetzt und kritisieren, dass die Vorfälle in Kercews nicht an entsprechende Organisationen herangetragen worden sind. Dies hätte auch in anonymisierter Form erfolgen können. Das liegt aber vermutlich auch daran, dass es in Nordkurdistan kaum noch Stellen gibt, an die sich Betroffene von Gewalt wenden können. Im Jahr 2016 waren etliche Frauenorganisationen im Windschatten des vermeintlichen Putschversuchs durch Regierungsdekrete geschlossen worden. Die einzige verbliebene Frauenorganisation in der Region, die Unterstützungsarbeit leistet und aktiv gegen Gewalt an Frauen kämpft, ist der Verein Rosa in Amed (Diyarbakir). Die Einrichtung hat bereits angekündigt, an der Sache dranzubleiben, bis alle Schuldigen aufgedeckt und bestraft werden. „Ganz gleich, ob Zivilisten oder Staatsbedienstete: Wir werden alle Hebel in Bewegung setzen, bis diese Verbrechen restlos aufgeklärt werden und die Täter vor Gericht landen”, erklärte der Verein gestern.

Wer brachte das Mädchen ins Krankenhaus?

Auch ist unklar, wer das Mädchen in ein Krankenhaus brachte, nachdem es über Bauchschmerzen klagte, und warum die Schwangerschaft über Monate von niemandem bemerkt worden sein soll. Insbesondere mit Blick auf Äußerungen von Bewohner*innen der Stadt, wonach es sich bereits um die dritte Schwangerschaft des Mädchens handeln soll.

Das türkische Gouverneursamt bestreitet derweil, dass Sicherheitskräfte in Vergewaltigung und Zwangsprostitution in Kercews verwickelt sind. Es handele sich um „Sprachrohre der Terroristen”, die von den Vorfällen berichteten, und allgemein nur darauf aus seien, Polizisten, Soldaten und Dorfschützer zu denunzieren. Bei keinem einzigen der Beschuldigten handele es sich um Staatsbedienstete.

Parallelen zum Fall Ipek Er

Die Berichte über die Massenvergewaltigung der 15-Jährigen wecken Erinnerungen an den Fall von Ipek Er, die ebenfalls in Êlih lebte. Die 18-Jährige Kurdin war von Musa Orhan, einem in der benachbarten Provinz Sêrt stationiertem Unteroffizier der Jandarma (Militärpolizei), mehrfach vergewaltigt worden. Ipek Er hatte am 16. Juli versucht, sich das Leben zu nehmen. In einem Abschiedsbrief hatte sie mitgeteilt, dass sie von Musa Orhan über mehrere Tage gefangen gehalten, unter Drogen gesetzt und sexuell missbraucht wurde. Am 18. August ist sie an den Folgen ihres Suizidversuchs im Krankenhaus verstorben. Der Täter, ein bekennender Anhänger der rechtsextremen „Grauen Wölfe“, war kurz festgenommen worden, wurde jedoch wegen fehlender Fluchtgefahr wieder laufengelassen. Die Vergewaltigung war durch eine gerichtsmedizinische Untersuchung bestätigt worden. Nach massiven Protesten wurde Musa Orhan am 19. August erneut festgenommen. Eine Woche später wurde er per Gerichtsentscheid wieder auf freien Fuß gesetzt. Der Prozess gegen ihn läuft seit dem 15. Oktober in Sêrt. Er ist angeklagt wegen „qualifiziertem sexuellem Angriff“.

Frauenorganisationen sehen „Amnestie für Kindesmissbrauch” verantwortlich

In Êlih häufen sich Berichte über sexualisierte Gewalt. Von Frauenorganisationen wird der Anstieg mit dem Vorhaben der türkischen Regierung, Vergewaltigung von Minderjährigen unter bestimmten Bedingungen straffrei zu machen, in Verbindung gebracht. Das Gesetzesvorhaben, das Frauenrechtlerinnen treffend als „Amnestie für Kindesmissbrauch” bezeichnen, stellt sexualisierte Gewalt straffrei, wenn die Täter anschließend ihr Opfer heiraten. Damit würden auch die berüchtigten Kinderehen straffrei gestellt werden. Ein ähnliches Gesetz war 2016 an Protesten der Frauenbewegung gescheitert. Die islamistisch-nationalistische Regierungskoalition aus AKP und MHP versuchte seitdem immer wieder, das Vorhaben im Parlament einzubringen und sexuellen Missbrauch von Minderjährigen über eine Eheschließung zu amnestieren.