Während die Proteste gegen die versuchte Vergewaltigung eines dreizehnjährigen Mädchens durch einen Stabsunteroffizier der türkischen Armee in Şirnex (türk. Şırnak) immer lauter werden, wollte sich eine 17-Jährige in der Provinz Êlih (Batman) nach einer Vergewaltigung das Leben nehmen. Das Mädchen versuchte sich am Donnerstag im Landkreis Qubîn (Beşiri) mit einem Jagdgewehr selbst zu erschießen und wurde in einem Krankenhaus notoperiert. Sie schwebt derzeit noch in Lebensgefahr.
Die Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD berichtete in Übereinstimmung mit der Anwaltskammer der Provinz Êlih, dass es sich bei dem mutmaßlichen Vergewaltiger um den türkischen Offizier M.O. handelt. Der Mann wurde inzwischen festgenommen und befindet sich in der benachbarten Provinz Sêrt (Siirt) in Gewahrsam. Die Generalstaatsanwaltschaft in Êlih hat die Ermittlungen abgegeben, da sich die Vergewaltigung in Sêrt zugetragen haben soll.
Verschiedenen Medienberichten zufolge soll sich die junge Frau nach der Vergewaltigung über einen längeren Zeitraum in der Gewalt ihres Peinigers befunden haben. Mehrmals sei sie von ihren Eltern bei der Militärpolizei vermisst gemeldet worden. Ihr Vater F.E. (nach anderen Quellen auch F.P.) wollte sich zu den Berichten vorerst nicht äußern. „Mir geht es jetzt in erster Linie darum, dass meine Tochter überlebt“, zitiert ihn die Anwaltskammer Êlih in einer Mitteilung.
Vergewaltigung als Kriegswaffe und Herrschaftsinstrument
Vergewaltigungen gab und gibt es in jedem Krieg und bewaffneten Konflikt. Die sexuelle Folter von Frauen ist die einfachste Art der kollektiven Bestrafung und Erniedrigung des „Feindes“ und seiner Gemeinschaft, da sie mehrere Funktionen hat: Der bewaffnete Täter befriedigt nicht nur seinen Sexualtrieb, um gleichzeitig den militärischen Sieg über den Feind durch die „Eroberung“ der Frau als Kriegsbeute zu vollenden und „Rache“ zu üben. Die sexuelle Folter von Frauen als Kriegswaffe soll die Überlegenheit gegenüber einer zu unterdrückenden Zivilbevölkerung demonstrieren und die geschlechtliche, politische und nationale Identität brechen. Sie schädigt ganze Gemeinschaften, und das auf Dauer. Denn Traumata werden weitergegeben.
In der Geschichte der von einer Besatzermentalität geprägten Türkei wurde sexualisierte Kriegsgewalt seit jeher als Herrschaftsinstrument eingesetzt, um Frauen wie Männer zu erniedrigen und ganze Gemeinschaften zu zerstören. Ob beim Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Völkern 1915, während den kurdischen Ararat-Aufständen zehn Jahre später oder dem Genozid an den alevitischen Kurden in Dersim 1937/38, demonstrierten die Truppen der Türkei stets ihre unauslöschliche und verinnerlichte, ausbeuterische Besatzermentalität durch Brutalitäten an Frauen, die weltweit wohl einmalig sind. Zur Zeit der Militärdiktatur in den 1980er Jahren wurde sexuelle Gewalt gegen Frauen als übliche Folterpraxis in den Gefängnissen eingesetzt. Als gezielt betriebene Methode setzten sich Vergewaltigungen auch beim schmutzigen Krieg der türkischen Armee in den 1990 Jahren fort – diesmal als perfide Form der Vertreibung der Bevölkerung in den kurdischen Gebieten.
Mêrdîn: Verfahren gegen 405 Soldaten
2003 sorgte ein Vergewaltigungsprozess in der Türkei weltweit für Aufsehen, als ein Gericht in Mêrdîn (Mardin) ein Verfahren gegen 405 türkische Soldaten wegen der Vergewaltigung einer Kurdin eröffnete. Die damals 21 Jahre alte Ş.E. wurde im November 1993 sowie im März und September 1994 aus ihrem Dorf in Dêrika Çiyayê Mazî von türkischen Soldaten und Paramilitärs verschleppt und jedes Mal über einen längeren Zeitraum schwer gefoltert und vergewaltigt. Weil sie danach nicht mehr sprechen konnte, wurde sie 1995 im Folterbehandlungszentrum der Menschenrechtsstiftung Türkei (TIHV) in Izmir behandelt. 1997 floh sie nach Deutschland und erhielt Asyl, in Berlin nahm sich das Behandlungszentrum für Folteropfer ihrer Behandlung an. Trotzdem konnte Ş.E. nicht über ihr Martyrium sprechen, bis sie 1998 in Bochum die Rechtsanwältin und heutige Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD, Eren Keskin, bei einer Veranstaltung traf und ihr unter Tränen von ihrem Schicksal berichtete. Zurück in der Türkei erstattete Keskin Strafanzeige, die von der Staatsanwaltschaft wegen Mangels an Beweisen niedergeschmettert wurde. Erst auf gerichtlichen Einspruch hin eröffnete eine Staatsanwältin 1999 ein Ermittlungsverfahren – gegen 405 Soldaten. Weil Ş.E. mit verbundenen Augen gefoltert wurde und sich nur an die grünen Augen des Offiziers erinnerte, der sie als erstes vergewaltigt hatte, klagte die Staatsanwältin kurzerhand alle Armeeangehörigen an, die zu den Tatzeiträumen in zwei Kasernen in der Region stationiert waren. Mindestens 31 Jahre Haft forderte die Anklägerin für jeden Täter. 2006 endete der Prozess mit Freisprüchen.
Fall N.Ç. - Gericht rechtfertigt Gruppenvergewaltigung
2002, erneut die Provinz Mêrdîn: Über zwei Dutzend Beamte, Lehrer und Soldaten, darunter der Chef des Landratsamtes und zwei Offiziere der türkischen Armee, haben die 13-jährige N.Ç. regelmäßig vergewaltigt. Den Kontakt zu dem Mädchen verschafften sich die teilweise über 60-jährigen Männer über zwei Zuhälterinnen, die in mindestens 23 Fällen dabei gewesen sein sollen. Das Leiden dauerte über sieben Monate. Als N.Ç. den Mut fand, zur Polizei zu gehen, landete sie in einem Kinderheim in Mêrdîn. Ihre Peiniger machten sie schnell ausfindig und setzten sie mit der Drohung unter Druck, die jüngere Schwester ebenfalls zu vergewaltigen. Auch, als sie schon in ein Heim in Istanbul verlegt worden war.
Als N.Ç. von Eren Keskin hörte, machte sie sich auf die Suche nach der Rechtsanwältin ‒ und fand sie. Keskin und ihre Freundin, die Menschenrechtlerin Leman Yurtsever, nahmen das Mädchen bei sich auf, kümmerten sich darum, dass es wegen der durch die Vergewaltigungen erlittenen Verletzungen operiert wurde und sorgten für ihre Schulbildung. Der im Jahr 2003 eröffnete Prozess gegen ihre Peiniger wurde für N.Ç. erneut zur Qual: Ihre erste Anwältin gab aus Todesangst auf, weil die Täter Schlägertrupps gegen sie engagiert hatten, die sie verprügelten. Vom Gericht eingesetzte Pflichtverteidiger erschienen an keinem einzigen Prozesstag. Keskin organisierte eine IHD-Anwältin, die den Fall übernahm.
Opfer handelte „moralisch verwerflich“
Den Prozessauftakt überschatteten Unruhestifter, die versuchten, den Gerichtssaal zu stürmen und Fensterscheiben zertrümmerten. Im vollbesetzen Gerichtssaal wurde das Mädchen vom Richter genötigt, die „Positionen“ der Vergewaltigungen vorzuführen – im Beisein der Täter. Ende 2010 ging der Prozess gegen die Vergewaltiger vorerst zu Ende. Das Gericht entschied, dass sie nur Mindeststrafen erhalten dürften – weil das Mädchen den Geschlechtsverkehr selbst gewollt habe. Gerichtsgutachter erklärten, N.Ç. hätte Nein sagen können, aber habe „mit dem Sex Geld verdienen wollen“. Sie sei daher selbst schuld an allem und in allen Fällen „willig“ gewesen, urteilte der Richter. Im Grunde habe sie sich prostituiert und „moralisch verwerflich“ gehandelt. Weil die Angeklagten weder Gewalt noch Drohungen angewandt hätten, liege keine Vergewaltigung mit erschwerten Umständen vor, worauf mindestens zehn Jahre Haft stünden. Außerdem käme entlastend für sie ihr „gutes Betragen“ seit der Tat hinzu. Auch in einem wiederaufgerollten Verfahren im Jahr 2013 rechtfertigte das Gericht die Gruppenvergewaltigung.
Bei den jüngsten Fällen der sexualisierten Gewalt an kurdischen Mädchen in Şirnex und Êlih sind es wieder Angehörige der türkischen Armee, die die wohl grausamste Kriegswaffe, welche die Menschheit kennt, eingesetzt haben oder es versuchten. Es bleibt abzuwarten, ob sich die Geschichte wiederholt, diese Verbrechen ungesühnt zu lassen.