Besê Hozat: Der Staat als Vergewaltiger

Vergewaltigungen von Frauen und Kindern sind in Kurdistan und der Türkei alltäglich. „Die Gesellschaft soll daran gewöhnt werden, dass es keine ethischen Werte mehr gibt. Eine Gesellschaft ohne Ethik kann nach Belieben benutzt werden“, sagt Besê Hozat.

Besê Hozat hat sich als Ko-Vorsitzende des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) im ANF-Interview zu aktuellen Themen geäußert. Wir veröffentlichen einen Auszug zum Charakter der türkischen Regierungskoalition und zum Thema Vergewaltigung als staatliche Politik in der Türkei und Kurdistan.

Die AKP/MHP-Koalition verstärkt nach ihrem Rückschlag bei den Kommunalwahlen am 31. März 2019 und der Wahlwiederholung in Istanbul am 23. Juni die Repression im Inland, um den eigenen Zusammenbruch zu verhindern. Am stärksten ist die Repression in Bakurê Kurdistan [Nordkurdistan]. Täglich werden Dutzende Menschen festgenommen und verhaftet, zahlreiche Gebiete werden zu Sondersicherheitszonen erklärt und wenn auch nur drei Personen zusammenkommen, werden sie angegriffen. Wie bewerten Sie diesen Staatsterror und was kann dagegen getan werden?

Die faschistische AKP/MHP-Regierung hat keinerlei Legitimation mehr. Sie befindet sich in einem ernsten Auflösungsprozess. Das ist bei den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr deutlich geworden. Um sich an der Macht zu halten, wird der Willen der Bevölkerung missachtet und die Repressionsschraube angedreht. Die auf Vernichtung abzielenden Angriffe sind gesteigert worden. Es handelt sich um eine Regierung, die sich nur durch Krieg auf den Beinen halten kann. Sie befindet sich im In- und Ausland im Krieg gegen die Völker. Ihre gesamte Existenz baut auf Vernichtung, Massakern und Besatzung auf. Sie hat sich auf eine kurdenfeindliche Politik eingeschworen. Es geht um eine kranke Geisteshaltung, die ihre Existenz von der Vernichtung des kurdischen Volkes abhängig macht. In Kurdistan finden jeden Tag politische, kulturelle, ökologische, ökonomische und physische Massaker statt. Der kulturelle Vernichtungsfeldzug wird mit neuen Mitteln und Methoden vertieft. Wenn sich zwei bis drei Personen zusammentun, gerät die Regierung in Panik und greift an. Die von der Bevölkerung gewählten Menschen werden des Amtes enthoben und bestraft, die öffentlichen Einrichtungen werden besetzt.

Kurden wird das Wahlrecht abgesprochen

Die Regierung fürchtet den Wählerwillen. Die Feindlichkeit gegenüber den Kurden geht so weit, dass ihnen das aktive und passive Wahlrecht abgesprochen wird. Die Wahlfreiheit ist in der Türkei abgeschafft worden. Im Grunde genommen sind die Kurden aus der Türkei ausgebürgert worden. Darüber wird zwar nicht gesprochen, aber es ist die Realität. Den Kurden wird die Staatsbürgerschaft genommen. Wähler und Gewählte werden bestraft, ihr Willen wird usurpiert und die Gefängnisse sind überfüllt.

Koalition der Konterguerilla

Bei der AKP/MHP-Regierung handelt es sich um eine Koalition der Konterguerilla, ein Gladio-Bündnis. Ihr Ziel ist die Vollendung des seit hundert Jahren andauernden Genozids an den Kurden. Sie ist die gefährlichste Regierung in der Geschichte der Republik. Die ausländischen Mächte unterstützen sie, weil sie sie im Mittleren Osten für ihre eigenen Interessen nützlich finden. Sie hält sich mit ausländischer Unterstützung an der Macht, außerdem gibt es keine starke politische und gesellschaftliche Opposition in der Türkei. Ansonsten hat die Regierungskoalition keine Legitimität mehr. Wenn es einen starken politischen und gesellschaftlichen Kampf geben würde, könnte sie dem Erdboden gleichgemacht werden.

Kurdenfeindliche Agitation und Nationalismus

Ein grundlegendes Problem in der Türkei ist das Fehlen einer demokratischen Opposition. Es gibt keinen vereinten gesellschaftlichen Kampf. Davon profitiert die AKP/MHP-Clique, nur so kann sie sich an der Macht halten. Über kurdenfeindliche Agitation wird der Nationalismus angeheizt. Im Kern geht es der Regierungskoalition weder um Religion noch um die Nation. Sie ist auch den Türken und dem Islam gegenüber feindlich. Die gesellschaftlichen Werte des türkischen Volkes werden missbraucht und verkauft. Die MHP ist als politisches Standbein der Konterguerilla gegründet worden. Seit ihrer Gründung vergiftet sie die Gesellschaft und lebt von der Feindlichkeit den Kurden, den Türken und den Völkern Anatoliens gegenüber. Sie ist eine grausame Organisation mit dem Geist eines Vampirs. Wie MHP hat sich auch die AKP in eine Konterorganisation verwandelt. Dass diese beiden Organisationen an die Macht gekommen sind, stellt den größten Komplott gegen die Republik Türkei seit ihrer Gründung dar. Die Völker der Türkei, insbesondere das türkische Volk, müssen einen massiven Kampf dagegen führen. Der Kampf gegen diese Konterregierung kann nicht nur das Problem der Kurden und Demokratie-Kräfte sein. Dieses Problem geht alle Völker der Türkei etwas an. Die Regierung ist entschlossen, alle positiven Werte der Republik zu zerstören. Zu diesem Zweck werden Staat und Gesellschaft umgeformt. Die Geisteshaltung der Gesellschaft, ihre Kultur und ihre Ethik sollen verändert werden. Alle staatlichen Einrichtungen sollen einer reaktionären und grausamen Denkweise entsprechend neu strukturiert werden.

Faschismus wird nicht mit Händeschütteln zerschlagen

In dieser Situation ist die dringendste Aufgabe in der Türkei, dass alle antifaschistischen Kreise zusammenkommen und ihren Kampf gegen den Faschismus der AKP/MHP verstärken. Diese Aufgabe ist so wichtig, dass sie keinen Tag verschoben werden darf. Es muss auch Haltung gegen die Kräfte bezogen werden, die den Kampf gegen den Faschismus behindern und besänftigen. Die CHP hat bisher eine solche Rolle eingenommen. In Zeiten größter Bedrängnis ist die CHP der Regierung zu Hilfe geeilt und hat ihr wieder auf die Beine geholfen. Sie hat den gesellschaftlichen Widerstand aufgehalten. In einem wichtigen Teil der Gesellschaft der Türkei sind alle Kampfreflexe abgetötet worden. Die CHP muss diese unglückselige Rolle aufgeben. Ansonsten wird sie selbst vernichtet werden. Der Faschismus kann nicht durch Passivität, Gehorsam gegenüber der Regierung, Einigungsversuche und Händeschütteln besiegt werden. Dafür braucht es eine konsequente, prinzipielle, entschlossene, mutige und stabile Haltung sowie eine Einheit und ein Bündnis für einen Massenwiderstand.

Vergewaltigung als Vernichtungsmethode

Eine der unmoralischsten Angriffsformen in Nordkurdistan ist die Vergewaltigung. In letzter Zeit sind in der ganzen Türkei vermehrt Fälle von Vergewaltigungen durch Soldaten, Polizisten und Dorfschützer aufgetreten, insbesondere in Kurdistan. Sie werden als Einzelfälle dargestellt. Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen Angriffen und der Realität des türkischen Staates?

Die faschistische AKP/MHP-Regierung versucht eine gehorsame Sklavengesellschaft zu errichten, indem sie die gesellschaftliche Ethik zerstört und alle Wertmaßstäbe abschafft. Es wird eine sehr frauenfeindliche Politik gemacht, die zu furchtbaren Massakern an Frauen führt. Physische, sexualisierte und psychische Gewalt gegen Frauen sind Teil einer systematischen und geplanten Politik des Staates. Im Zusammenhang mit dieser Politik wird männliche Gewalt provoziert und legitimiert. Vergewaltigungen von Frauen und Kindern werden zu gewöhnlichen und alltäglichen Vorfällen gemacht. Die Gesellschaft soll daran gewöhnt werden, dass es keine ethischen Werte mehr gibt. Eine Gesellschaft ohne Ethik verroht und kann nach Belieben benutzt werden. Genau das findet gerade statt. In Kurdistan wird diese Politik in verschärfter Form als Teil des Vernichtungsfeldzugs umgesetzt. Die Angriffe auf Frauen, Jugendliche und Kinder in Kurdistan können nicht unabhängig von der Völkermordpolitik gegen die Kurden betrachtet werden. In ganz Kurdistan werden angeleitet von der Spezialkriegsabteilung (Özel Harp Dairesi) Vergewaltigung, Prostitution, Drogenmissbrauch und Spitzelanwerbung betrieben. Die Spezialkriegszentren bilden Soldaten, Polizisten, Beamte und Imame als Vergewaltiger aus und beauftragen sie damit. In Kurdistan werden Frauen und Männer zu Fall gebracht, um eine Verrohung der gesamten Gesellschaft zu erreichen.

Angriff auf Würde, Existenz und Freiheit

Wenn die Abhandlung dieser Angriffe in Kurdistan als Einzelfälle keine böse Absicht trägt, handelt es sich um eine große Unwissenheit und fehlendes Erinnerungsvermögen. Vergewaltigung gehört in Kurdistan zur staatlichen Politik. Sie ist Teil des Vernichtungsfeldzugs. Damit muss sehr bewusst umgegangen werden. Wenn irgendwo in Kurdistan eine Vergewaltigung stattfindet, muss ganz Kurdistan auf die Füße kommen. Es handelt sich um einen Angriff auf die Würde, die Existenz und die Freiheit aller Kurden. Dazu kann man nicht schweigen. Angriffe dieser Art müssen zu einem großen Aufstand führen.