Cemil Bayik (KCK) hat sich in einer Sondersendung bei Stêrk TV zur Libyen-Konferenz in Berlin, der Rolle der Türkei in dem internationalen Konflikt und der NATO als einer Institution der kapitalistischen Moderne im Mittleren Osten geäußert. Weitere Themen waren die Isolation Abdullah Öcalans, die Angriffe auf Rojava, Şengal und alle anderen Teile Kurdistans, die Polarisierung und Verrohung der Gesellschaft in der Türkei und das von der südkurdischen PDK vollzogene Embargo gegen das Flüchtlingscamp Mexmûr. Wir veröffentlichen einen Ausschnitt aus dem TV-Interview mit dem Ko-Vorsitzenden des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK).
Libyen steht auf der Tagesordnung. Es wurde ein Waffenstillstand ausgerufen, aber später wurde erklärt, dass er nicht anerkannt wird. In den Medien wird darüber berichtet, dass der türkische Staat Dschihadisten nach Libyen transportiert hat. Wie bewerten Sie die Entwicklungen in Libyen?
Libyen ist ein wichtiger Ort, es gibt dort Öl und Gas. Außerdem stellt Libyen eine Brücke zwischen Afrika und dem Mittleren Osten dar. Es hat einen besonderen Platz am Mittelmeer. Das ist der Grund für den Krieg und das Chaos im Land. Alle wollen in Libyen an Stärke gewinnen, sie wollen dort sogar ihre Hegemonien gründen. Wohin die Türkei im Moment auch geht, hören die Probleme nicht auf. Sie bringt nur Krieg und Chaos mit. Das hat sich auch in der Praxis bewiesen. Aus diesem Grund gibt es keine Ergebnisse der Libyen-Konferenz in Berlin. Oder die Konferenzteilnehmer akzeptieren letztendlich die Wünsche der Türkei, dann gibt es ein Ergebnis. Die Realität der Türkei ist allgemein bekannt.
Die Dschihadisten, die aus Syrien nach Libyen gehen, werden von der Türkei gesteuert. Auch das ist bekannt und wird zur Sprache gebracht. Alle sagen, dass die Türkei diese Dschihadisten ausbildet und nach Libyen schickt. Wenn es so ist, warum werden keine Maßnahmen dagegen getroffen? Wenn in Libyen kein Krieg gewollt ist, wenn Frieden gewollt wird, muss die Türkei aufgehalten werden. Aber das wollen sie nicht. Die Türkei schickt in ihrem Wissen Dschihadisten nach Libyen. Um nicht den Unwillen der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen, sagen sie, dass die Türkei Dschihadisten nach Libyen bringt. Das tun sie, um ihr wahres Gesicht zu verbergen. Warum setzt sich Erdoğan für Libyen ein? Weil in Tripolis die Muslimbrüder an der Macht sind. Sie sind in Ägypten und Syrien angeschlagen, in Libyen will die Türkei sie schützen.
Die Nachbarländer Libyens sind gegen die Intervention der Türkei. Diese Haltung ist richtig. Die Türkei will den Krieg in Libyen ausweiten. Sie hat Syrien zerstört und große Massaker angerichtet. Jetzt will sie das gleiche in Libyen tun. Die Politik der Türkei ist eine Besatzungspolitik. Sie will den Krieg im Mittleren Osten vergrößern und eine Hegemonie herstellen. Einige arabische Staaten sehen das und positionieren sich dagegen. Ich glaube, dass die Türkei dort keine Ergebnisse erzielen wird, wenn die arabischen Staaten eine noch stärkere Reaktion zeigen.
Erdoğan soll den dschihadistischen Milizionären die türkische Staatsangehörigkeit zugesichert haben. Was sagen Sie dazu?
Erdoğan organisiert diese Milizen wie die Akıncı [Irreguläre, also zumeist unbesoldete und auf Raub und Sklavenhandel angewiesene Reitertruppen der Osmanen]. Er bewaffnet sie und schickt sie dorthin, wo er sie gerade benötigt. In der Türkei bekommen sie die Staatsbürgerschaft, um sie gegen die Kurden und die Demokratiekräfte zu benutzen. Sie werden in Syrien, im Irak, in Libyen eingesetzt und bei Bedarf morgen woanders hingeschickt. Aus diesem Grund bekommen sie die Staatsangehörigkeit. Im Osmanischen Reich gab es die Akıncı. Sie sind vorgeschickt worden, haben die Länder geplündert und den Willen gebrochen. Danach kam das osmanische Heer und besetzte diese Orte. Heute will Erdoğan ein neues Osmanisches Reich entstehen lassen und seine Akıncı sind die Dschihadisten. In der Türkei werden Dschihadisten ausgebildet und verschickt.
Früher hieß es, dass eine arabische NATO gegründet wird, jetzt wird gesagt, dass die arabischen Länder in die NATO aufgenommen werden sollen. Was bedeuten diese Pläne für den Mittleren Osten, was hat die NATO Ihrer Meinung nach vor?
Es gibt diese Gerüchte, aber wir wissen nicht, was daran stimmt. Wenn solche Gerüchte auftreten, sollte uns jedoch bewusst sein, worauf sie basieren. Als die Sowjets zusammengebrochen sind, hat der Kapitalismus propagiert, dass es keine Alternative zum kapitalistischen System gibt und es immer bestehen wird. Die Hegemonie des Kapitalismus sollte auf der ganzen Welt herrschen. Dafür wurde eine neue Strategie entwickelt, die sogenannte neue Weltordnung.
Um diese Strategie auf der ganzen Welt zu verbreiten, soll zunächst der Mittlere Osten erobert werden. Die NATO ist eine Institution der kapitalistischen Moderne, sie hat den Auftrag, die Systeminteressen im Mittleren Osten durchzusetzen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sich die NATO neue Feinde gesucht. Früher war es der Sozialismus, jetzt soll die NATO den Terrorismus bekämpfen. Im Mittleren Osten gibt es Terrorismus und wir kämpfen dagegen, heißt es.
Wer repräsentiert die kapitalistische Moderne? Die USA. Die USA erkennen im Mittleren Osten keinen anderen politischen Willen als den eigenen an. Wer einen eigenen Willen hat, soll zur Kapitulation gebracht werden. Bereits in den neunziger Jahren wurde interveniert. Rêbêr Apo [Abdullah Öcalan] wurde als Hindernis betrachtet, denn er stand für einen politischen Willen. Das war ein Problem, das gelöst werden sollte. Der internationale Komplott gegen Rebêr Apo steht mit dieser Strategie in Zusammenhang. Aus diesem Grund wird Rebêr Apo isoliert. Hinter der Isolation steht nicht nur die Türkei, sondern das System. Das Imrali-System ist vom System der kapitalistischen Moderne entwickelt worden. Rebêr Apo wird isoliert, damit der Willen der Völker nicht sichtbar wird. Nur das System der kapitalistischen Moderne soll einen Willen haben.
Der MIT soll Erdoğan einen Bericht vorgelegt haben. In dem Bericht steht, dass die Wirtschaft eingebrochen ist, es deshalb Armut und Arbeitslosigkeit gibt, die soziale Gerechtigkeit schwindet und sich daraus eine große gesellschaftliche Explosion entwickeln kann. Was sagen Sie zu diesem Bericht und den Fällen von Vergewaltigung, Gewalt und Mord in Kurdistan?
Der Grund für den Anstieg der politischen, ethischen und ökonomischen Probleme in der Türkei ist der Krieg, den der türkische Staat gegen die Kurden führt. Der türkische Staat wendet eine Genozidpolitik an. Um die Kurden und alles, was zu Kurdistan gehört, vom Erdboden zu tilgen, verbraucht er alle seine Möglichkeiten im Krieg. Aus diesem Grund gibt es immer mehr Probleme in der Türkei. Solange diese Politik nicht aufgegeben wird, werden die Probleme nicht aufhören und sogar noch größer und tiefgreifender werden. Die Menschen in der Türkei müssen das begreifen. Die Kurden, die Linken der Türkei, Demokraten, Intellektuelle, Künstlerinnen und Künstler begreifen es täglich mehr. Aber die gesamte Bevölkerung sollte es verstehen. Wenn die Menschen sich von den Problemen befreien wollen, müssen sie sich der Kurden-Politik des türkischen Staates entgegenstellen. Sie müssen sagen, dass es genug ist. Dann kann sich die Türkei von diesen Problemen befreien.
Auch die vorangegangenen Regierungen der Türkei haben ihre Leute überall untergebracht, aber nie so wie die AKP/MHP. Sie betrachten jeden als Feind, der ihnen nicht dient. Diesen Menschen werden als Verräter und Gegner der Türkei alle Mittel genommen. Ein großer Teil der Mittel in der Türkei fließen in den Dienst der AKP und MHP. Alle Außenstehenden gehen leer aus. In der Türkei findet eine große Polarisierung statt. Die Gesellschaft war in der Geschichte der Türkei noch nie so zerissen wie heute. Die AKP/MHP-Regierung weitet im In- und Ausland den Krieg aus, um sich an der Macht zu halten und einen kurdischen Völkermord zu vollziehen. Sie sieht, dass ihr ohne Krieg der Machtverlust droht. Warum? Weil es sich bei dem Kampf der PKK und des kurdischen Volkes um einen historischen Widerstand handelt. Sie kämpfen nicht nur für sich selbst, sondern für die gesamte Türkei und die Region.
Wenn die Kurden, die Demokratiekräfte ihr Bündnis gegen Erdoğan und Bahçeli stärken, können sie Erfolg haben. Wo liegt das Problem? Es gibt keine führenden Kräfte dafür. Die Opposition der CHP ist für alle sichtbar. Ihr gelingt es nicht, Opposition zu sein, das kann sie nicht. Die Kräfte lassen sich nicht zusammenführen und davon profitieren Erdoğan und Bahçeli. Wenn die demokratischen Kräfte zusammenfinden und ein Kampf daraus entsteht, können sie Erdoğan und Bahçeli stürzen.