Jede Frau, die sich selbst verteidigt, ist im Visier des Staates
Der türkische Staat kriminalisiert Notwehr von Frauen gegen patriarchale Gewalt sowie Frauenrechtsverteidigerinnen wie Ayşe Gökkan. Beides ist Teil ihrer Staatspolitik.
Der türkische Staat kriminalisiert Notwehr von Frauen gegen patriarchale Gewalt sowie Frauenrechtsverteidigerinnen wie Ayşe Gökkan. Beides ist Teil ihrer Staatspolitik.
Die türkische Regierung versucht seit einiger Zeit, die Istanbul-Konvention zum Schutz vor Gewalt an Frauen zu annullieren. Bei Gesprächen der AKP über eine mögliche Allianz mit ihrer Mutterpartei Saadet brachten AKP-Funktionäre das Thema erneut auf die Tagesordnung und kündigten die Rücknahme der Unterzeichnung der Konvention an.
Notwehr wird kriminalisiert
Während auf politischer Ebene Mechanismen zum Schutz von Frauen vor Gewalt, die zumindest auf dem Papier bestanden, demontiert werden, reißt die Welle von Femiziden und Gewalt gegen Frauen in der Türkei und Nordkurdistan nicht ab. Notwehr von Frauen, die ihr Leben verteidigen, wird mit hohen Strafen kriminalisiert und die Frauen werden inhaftiert. Viele patriarchale Gewalttäter werden indessen unter Meldeauflagen freigelassen. Die Ermittlungen gegen sie werden nicht abgeschlossen oder Verurteilte werden wegen „guter Sozialperspektive“ entlassen. Aber nicht nur Frauen, die sich in Notwehr gegen ihre Peiniger selbst verteidigen, werden in die Gefängnisse geworfen, auch Frauen, die politisch die Rechte verteidigen, werden inhaftiert. Die Sprecherin der Bewegung freier Frauen (TJA), Ayşe Gökkan, die bereits 83 Mal festgenommen worden war, ist vergangene Woche verhaftet worden. Im ANF-Gespräch äußert sich die Vorsitzende des Frauenvereins Rosa, Adalet Kaya, zu diesen Entwicklungen.
Frauen, die ihre Körper verteidigen, werden ebenso angegriffen wie Frauen, die ihre Rechte auf politischer Ebene verteidigen
Kaya sieht Parallelen im staatlichen Umgang mit der Selbstverteidigung von Frauen zum Schutze ihrer physischen Integrität und der Verteidigung von Frauenrechten auf politischer Ebene und sagt zur Inhaftierung der TJA-Sprecherin: „Ayşe Gökkan ist ins Visier geraten, weil sie ihr Leben dem Frauenkampf widmet und sich für Selbstverteidigung einsetzt. Wir betrachten Organisierung vor allem als Selbstverteidigung und sprechen von der Entwicklung eines Bewusstseins über die Gewalt, der wir gegenüberstehen. Wenn wir die ideologischen Mittel der Gewalt begreifen und dagegen eine Haltung entwickeln, dann ist das Selbstverteidigung. Ayşe Gökkan wurde ständig festgenommen, Hunderte Ermittlungsverfahren wurden gegen sie eingeleitet. So wie Frauen, die ihr Recht auf Selbstverteidigung ausüben, um ihre körperliche Unversehrtheit gegen einen Mann zu schützen, verfolgt und hart bestraft werden, geschieht es auch mit Ayşe Gökkan und den anderen Frauen im Frauenkampf. Jede Frau, die sich selbst schützt, wird bedroht und zum Ziel der Repression. Die Strafverfolgungsbehörden, die Regierung und Justiz greifen sie im Einklang an.“
Justiz klagt Notwehr von Frauen an und verweigert sich dem Vollzug von Gesetzen, die Frauen schützen sollen
Kaya kritisiert die mangelnden Gesetze zum Schutz von Frauen vor Gewalt und beschreibt die Situation: „Die Gesetze zum Schutz von Frauen vor Gewalt sind unzureichend. Die präventiven Regelungen zum Schutz sind schwach. Wir wissen, dass das Gesetz Nr. 6284 zum Schutz von Frauen oder die Istanbul-Konvention nicht angewendet werden. Im Gegenteil, ihre Streichung ist eine ständige Debatte. Wenn allein diese beiden Mechanismen umgesetzt würden, dann müssten sich weniger Frauen selbst vor der Gewalt schützen. Vielleicht würde die Gewalt sogar mit der Zeit aufhören. Aber leider werden Frauen, die immer wieder Gewalt ausgesetzt sind, von der Justiz wieder nach Hause geschickt. Denn die sogenannte Institution der Familie wird verherrlicht. Solange es so weiter geht, werden Frauen nicht geschützt, und wenn sie ihr legitimes Recht auf Notwehr in Anspruch nehmen, dann werden sie des Mordes beschuldigt und können langjährige Haftstrafen erhalten. Das ist wahrhaftig eines der größten Dilemmata des Justizsystems. Das bestehende Recht auf Notwehr wird nicht zugunsten von Frauen ausgelegt und andere Gesetze, die Frauen schützen sollen, werden nicht umgesetzt und sind unzureichend.“
Selbstverteidigung ist das grundsätzlichste Recht
„Wir betrachten die Verteidigung der eigenen körperlichen Integrität, also die Selbstverteidigung von Frauen, als ein Recht und beziehen dieses nicht nur auf körperliche Angriffe. Es geht uns um eine ganzheitliche Perspektive. Ich spreche hier auch von Selbstverteidigung auf gedanklicher Ebene. Alle Lebewesen haben Selbstverteidigungsmechanismen. Aber die Selbstverteidigung der Frau wurde durch eine ganze Reihe von ideologischen Mechanismen geschwächt und Frauen wurden sich selbst entfremdet. Es ist ganz natürlich und legitim, dass sich Frauen gegen Gewalt verteidigen. Wir treten dafür ein, dass das Recht auf Notwehr von Frauen in den Verfahren einbezogen wird und die Urteile entsprechend korrigiert werden.“
Während es auch im türkischen Recht Notwehrparagrafen gibt, werden immer wieder Frauen, die sich verteidigen, verurteilt oder inhaftiert. Eines der bekanntesten Verfahren in diesem Zusammenhang ist der Prozess gegen Çilem Doğan. Doğan wurde wegen „vorsätzlichem Mord an ihrem Ehemann“ zu einer verschärften lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Schließlich wurde die Strafe auf 15 Jahre reduziert. 2016 wurden ihr Widerspruch und ihre Berufung auf Selbstverteidigung in höchster Instanz anerkannt und Doğan gegen 50.000 Lira Kaution entlassen. Doğan hatte vor dem Tod ihres Ehemannes am 8. Juli 2015 Dutzende Male bei der Polizei Anzeige erstattet, es wurden neun Schutzanordnungen für Doğan erlassen. Sechs Verfahren liefen gegen den Ehemann wegen Bedrohung und Körperverletzung. Trotz alledem musste sich Çilem Doğan erneut gegen den Mann verteidigen und tötete ihn in Notwehr.
Ein ähnlicher Fall ist der von Name Öztürk. Sie tötete ihren Mann Kazım Aydemir mit Messerstichen, nachdem er sie nach ihrer Trennung erneut angegriffen hatte. Aydemir hatte Öztürk in der Ehe misshandelt und vergewaltigt. Diese Tortur hörte mit der Trennung nicht auf, Aydemir verfolgte und attackierte Name Öztürk weiter, bis sie sich mit einem Messer selbst verteidigte. Im Prozess 2018 wurde sie zu zwölf Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. In der Berufung wurde die Strafe auf zehn Jahre abgesenkt. Eine Berufungsverhandlung steht aus.
Ein weiterer Fall ist der von Nevin Yıldırım. Sie tötete 2012 ihren Vergewaltiger Nurettin Gider mit einem Jagdgewehr und wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Urteil wurde zweitinstanzlich bestätigt.
Hülya Halaçkay betonte, nachdem sie ihren Peiniger Kadir Ören am 25. August 2019 getötet hatte, ihr Recht auf Notwehr und forderte ihre Freilassung. Das Gericht ordnete ihre Inhaftierung an. Am 11. Februar 2020 wurde Halaçkay zu 15 Jahren Haft verurteilt. Halaçkay erklärte: „Wenn der Staat mich geschützt hätte, dann hätte es diesen Prozess nicht gegeben.“