In der Türkei sind im zurückliegenden Jahr mindestens 300 Frauen von Männern aus ihrem Umfeld ermordet worden. 171 weitere Frauen sind unter verdächtigen Umständen ums Leben gekommen. Zu diesem Ergebnis kommt die jährliche Femizid-Bilanz der Plattform „Wir werden Frauenmorde stoppen“ (tr. Kadın Cinayetlerini Durduracağız). Die Organisation weist darauf hin, dass Gewalt gegen Frauen weltweit im Schatten von Corona zugenommen hat, in der Türkei jedoch die Ankündigung der AKP-Regierung, aus der Istanbul-Konvention auszusteigen, die geschlechtsspezifische Gewalt sogar befeuert habe. Das Abkommen des Europarats dient der Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Konservative und islamistische Kreise in der Türkei hatten die Diskussion um einen Ausstieg in Gang gesetzt, weil die Konvention traditionelle Werte untergrabe und Männer zu „Sündenböcken“ mache. Die Regierung sprach sich daraufhin für einen eigenen, nationalen Weg aus, mit einem Gesetzestext, der mehr auf die türkische Kultur und Traditionen ausgelegt sein soll.
97 Frauen von Ehemännern ermordet
Der Jahresbericht der in Istanbul ansässigen Frauenrechtsorganisation KCDP enhält Daten über alle polizeilich erfassten oder medial veröffentlichten Morde an Frauen. Im gesamten Jahr 2020 seien in 97 Mordfällen die Ehemänner die Täter, in 54 Fällen die Lebenspartner, in 38 Fällen andere männliche Personen aus dem Bekanntenkreis, in 21 Fällen die Exmänner, in 18 Fällen die Söhne, in 17 Fällen die Väter, in 16 Fällen die Schwäger, Schwiegerväter oder in ähnlichen Verwandtschaftsverhältnissen stehende Täter, in acht Fällen die Exfreunde und in fünf Fällen die Brüder. Nur drei Frauen wurden der Organisation zufolge von Unbekannten ermordet. In weiteren 23 Fällen konnte die Plattform ebenfalls einen Zusammenhang zwischen Opfern und Tätern herstellen.
T/E: Keine Berichte zu Femiziden erfasst
Mordmethoden
2020 wurden laut KCDP 170 Frauen erschossen, 83 erstochen, 26 erwürgt, zehn zu Zode geprügelt, zwei verbrannt, eine vergiftet und eine aus der Höhe herabgestoßen.
Die Motive
In 182 Fällen war das Motiv für die Femizide nicht feststellbar, 96 Frauen wurden getötet, weil sie über ihr eigenes Leben entscheiden wollten. Konkrete Anlässe waren Scheidungswünsche oder die Ablehnung eines Mannes als Lebenspartner. In 22 Fällen war Geld das Mordmotiv.
Tatorte
181 Frauen wurden in der eigenen Wohnung ermordet, 48 auf offener Straße, 15 an der Arbeitsstelle, 14 im Park und eine an einem anderen öffentlichen Ort, elf im Auto, fünf im Hotel, vier an einem abgelegenen Ort, eine in einem Holzlager und eine weitere Frau beim Friseur.
Namen der Femizid-Opfer vom Dezember 2020
Regierung festigt patriarchale Strukturen
Die Aktivistinnen der Plattform KCDP prangern an, dass Männer, die häusliche Gewalt ausüben, oft nur milde Strafen erhalten und dass die Regierung patriarchale Strukturen eher festigt als aufbricht. Dabei hat die Türkei durchaus die notwendigen Gesetze zum Schutz der Frauen und der Sanktionierung von Tätern, wie etwa das Gesetz Nr. 6284. Es beinhaltet ein Annäherungsverbot für Gewalttäter und Schutzmaßnahmen für die Opfer, die von materieller Unterstützung bis zu einer neuen Identität reichen und von Frauenorganisationen in langem Kampf durchgesetzt worden sind.
Diese Bestimmungen würden von den Behörden nicht ausreichend angewandt, bemängelt die Plattform. Daran sind jedoch nicht nur Polizei und Staatsanwaltschaft schuld, sondern auch die Gerichte, die Frauenmörder zu nachsichtig behandeln. Täter kommen zu oft mit Strafmilderungen etwa wegen „Provokation” oder „gutem Verhalten” davon, welche die Hemmschwelle von Gewalt deutlich senken. Die Justiz hat ein völlig verzerrtes Verständnis von Gewalt, dadurch laufen die Betroffenen Gefahr, weiterer Gewalt ausgesetzt zu sein. Mehrere der Femizide vom vergangenen Jahr wurden beispielsweise von Männern begangen, die im Zuge der Corona-Amnestie freigelassen wurden und ohnehin wegen patriarchalen Gewaltdelikten im Gefängnis saßen.
Kritik an Ministerien
Die Tendenz von Justiz und Politik, Gewalttaten an Frauen zu Einzelfällen zu erklären und den dramatischen Anstieg der Anzahl von Femiziden zu verharmlosen, gehört für „Wir werden Frauenmorde stoppen“ zum Teil des Problems. Schon in ihrer November-Bilanz übte die Organisation scharfe Kritik am Innenministerium und dem Ministerium für Arbeit, Soziales und Familie wegen Faktenverzerrung und Datenzurückhaltung. Auch jetzt werden beide Stellen wieder angeprangert: „Beide Ministerien gaben fast jeden Monat manipulative Erklärungen ab, anstatt die Fakten über Femizide und mutmaßliche Todesfälle von Frauen preiszugeben. Wir sagten, verzerren Sie nicht die Daten, sondern geben die Fakten bekannt. Wir sagten, zwölf Monate reichen aus, um den Femizid zu stoppen.”
Im September hatte die Frauenorganisationen einen Maßnahmenkatalog mit zwölf Vorschlägen vorgestellt. „Wenn jeden Monat eine dieser Maßnahmen umgesetzt wird, wäre zumindest ein Teil der Probleme gelöst“, glaubt die KCDP.