In der Türkei sind im November mindestens 29 Frauen von Männern aus ihrem Umfeld ermordet worden, zehn weitere Frauen sind unter verdächtigen Umständen ums Leben gekommen. Das geht aus der aktuellen Femizid-Bilanz der Plattform „Wir werden Frauenmorde stoppen“ (tr. Kadın Cinayetlerini Durduracağız) hervor. Der Bericht der in Istanbul ansässigen Frauenrechtsorganisation enhält Daten über alle polizeilich erfassten oder medial veröffentlichten Morde an Frauen. Die Dunkelziffer dürfte vermutlich viel höher liegen.
Laut der November-Bilanz sind 95 Prozent der Femizid-Opfer von gewalttätigen Ehemännern, Freunden, ehemaligen Partnern oder männlichen Verwandten getötet worden. Als Tatwaffen wurden vor allem Schusswaffen eingesetzt: 18 Frauen wurden erschossen, acht erstochen, weitere drei erdrosselt. In fünfzehn Fällen war das Motiv für die Femizide nicht feststellbar, dreizehn Frauen wurden getötet, weil sie über ihr eigenes Leben entscheiden wollten. Konkrete Anlässe waren Scheidungswünsche oder die Ablehnung eines Mannes als Lebenspartner. Der neue Report der Plattform führt zudem wieder vor Augen, dass Frauen am wenigsten sicher im eigenen Heim sind: 69 Prozent der im Vormonat in der Türkei von Männern getöteten Frauen wurden zu Hause ermordet.
Familienministerium denunziert Frauenorganisationen
Die Tendenz von Justiz und Politik, Gewalttaten an Frauen zu Einzelfällen zu erklären und den dramatischen Anstieg der Anzahl von Femiziden zu verharmlosen, gehört für „Wir werden Frauenmorde stoppen“ zum Teil des Problems. Im Oktober ließ das Innenministerium zudem verlauten, die Zahl der Frauenmorde sei seit Jahresbeginn um 29 Prozent zurückgegangen. Gleichzeitig warnte das Ministerium für Arbeit, Soziales und Familie die Bevölkerung vor „inoffiziellen” Zahlen, die von staatlichen Daten abweichen würden. Dabei besteht in der Türkei kein Zugang zu offiziellen Zahlen im Zusammenhang mit Femiziden, da es keine zuständige Behörde für diese Art der Datensammlung gibt. Zahlen und Fakten werden in der Regel von Frauenorganisationen wie der KCDP und anderen NGOs zusammengetragen und veröffentlicht. Ihre Berichte verdeutlichen, dass die gegenwärtige Situation dem genauen Gegenteil offizieller Behauptungen entspricht.
Das wird auch im aktuellen Femizid-Bericht der KCDP kritisiert. „Das Ministerium, das für die Offenlegung der Daten verantwortlich ist, verzerrt lieber die Fakten und behauptet, unsere Femizidstatistiken seien tendenziös dargestellt, anstatt selbst offenzulegen, wie viele Frauen getötet wurden, warum, wie und von wem”, unterstreicht die Frauenorganisation. „Doch solange nicht festgestellt wird, von wem und warum Frauen ermordet werden, solange es keine fairen Gerichtsverfahren gibt, die Täter keine überzeugenden Strafen erhalten und keine vorbeugenden Maßnahmen angewendet werden, geht die Gewalt weiter“, heißt es mit Blick auf die fünfzehn Femizide im vergangenen Monat, bei denen die Hintergründe nicht aufgedeckt werden konnten.
Städte, in denen im November Femizide stattfanden. Darunter: Angaben zu verdächtigen Todesfällen | Quelle: KCDP
Die Maßnahmen, von denen KCDP spricht, sind eigentlich durch die Istanbul-Konvention vorgegeben. Die Übereinkunft des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen besteht grob gesagt aus den drei Säulen: Prävention, Schutz der Opfer und Bestrafung der Täter. Der Vertrag gilt als Meilenstein im Kampf gegen patriarchale Gewalt und verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, geschlechtsspezifische Gewalt zu bekämpfen sowie die Präventions- und Hilfsangebote durch Gesetze und politische Programme zu verbessern. Dazu gehört auch, einschlägige und genau aufgeschlüsselte statistische Daten über Fälle von allen in den Geltungsbereich der Konvention fallenden Formen von Gewalt zu sammeln. Im Fall der Türkei, wo es so etwas wie ein Frauenministerium noch nicht mal gibt, werden ohnehin nur in den seltensten Fällen Maßnahmen aus dem Abkommen umgesetzt. Es gibt auch keine einzige Behörde, die das Wort „Frau” im Namen trägt. Mit dem Thema befasst sich das Ministerium für Arbeit, Soziales und Familie.
Frauenhass, Gewaltexzesse an Frauen und Femizide steigen
Die öffentliche Brandmarkung der KCDP auf Ministeriumsebene dürfte vor allem daran liegen, dass es diese Frauenorganisation war, die maßgeblich dazu beigetragen hat, dass die seit Monaten geführte Debatte über den Austritt der türkischen Regierung aus der Istanbuler Konvention – weil sie traditionelle Werte „untergrabe“ und Männer zu „Sündenböcken“ mache – geschlossen worden ist. Die Türkei unterzeichnete als erstes Land die Übereinkunft und ratifizierte den Vertrag 2012 im Parlament, doch in der Praxis werden die Rechtsnormen kaum angewandt. Weder werden die vorgesehenen Hilfsangebote und Schutzmaßnahmen für Frauen realisiert, noch wird beispielsweise das auf der Konvention basierende Gesetz Nr. 6284 effizient durchgesetzt. Stattdessen passiert das genaue Gegenteil: Unter dem Deckmantel sogenannter Traditionen wird eine reaktionäre Ungleichheit der Geschlechter legitimiert und das patriarchale Fundament der Gesellschaft gestärkt - mit dem Ergebnis, dass Frauenhass, Gewaltexzesse an Frauen und Femizide steigen. Allein im vergangenen Jahr wurden nach Angaben von KCDP 474 Femizide registriert. In diesem Jahr zählten die Aktivistinnen des Vereins 275 Frauenmorde. Die Organisation beklagt auch, dass die Zahl der Notunterkünfte für Frauen nicht aufgestockt wird. Zu den in der Istanbul-Konvention garantierten Frauenrechten gehört eine ausreichende Zahl von Plätzen in Frauenhäusern. Doch bei einer Bevölkerung von 83 Millionen mit einem weiblichen Bevölkerungsanteil von über 49 Prozent gibt es derzeit nur 145 Frauenhäuser in der Türkei, die insgesamt 3.428 Hilfesuchende aufnehmen können.
Kampf gegen die misogyne Mentalität
Die Plattform KCDP kämpft bereits seit einem Jahrzehnt dafür, dass der Schutz von Frauen keine Sache auf dem Papier bleibt und Kontrollmechanismen eingeführt und umgesetzt werden, um Opferschutz und die Verurteilung von Tätern zu garantieren. Die Aktivistinnen sind Vorreiterinnen im Kampf gegen die misogyne Mentalität in der von Präsident Recep Tayyip Erdogan geführten Türkei, der das Engagement für Rechte und Freiheiten jenseits heteronormativer Vorstellungen bekanntermaßen scharf verurteilt und die Frauenbewegung daher immer wieder an den Pranger stellt. Denn die Frauen nennen es beim Namen, und das nicht zu selten: Die Staatsräson in der Türkei basiert auf einer patriarchalischen Mentalität. Allzu oft können Täter bei der männlich dominierten Polizei und Justiz auf Nachsicht hoffen. Regelmäßig gibt es Strafnachlässe für angeblichen Affekt, für Reue und oft sogar für gute Führung, nur weil der Mörder in Anzug und Krawatte vor Gericht erscheint, beklagen die Aktivistinnen. Und wo der Staat nichts zur Prävention von Femiziden unternimmt, sind es die Frauenorganisationen, die den Staat an seine Verpflichtung erinnern, Frauen vor Gewalt zu schützen. „Wir werden weiterhin darum kämpfen, alle relevanten Ministerien und Mechanismen zu aktivieren, damit diese Aufgabe endlich erfüllt wird”, hält die KCDP in ihrem Bericht fest.