„Die Gesellschaft hat ein Männerproblem“

Im Rahmen der TJA-Kampagne „Wir verteidigen uns selbst“ finden in Kurdistan und der Türkei Männerseminare gegen Patriarchat und Sexismus statt. Die Teilnehmer stellen fest: „In der Gesellschaft gibt es ein Männerproblem.“

Seit Mitte September läuft die von der Bewegung freier Frauen (Tevgera Jinên Azad, TJA) in Amed ins Leben gerufene Kampagne „Em xwe diparêzin“ – zu Deutsch: Wir verteidigen uns selbst. Die Kampagne, die einen Gesamtzeitraum von vier Monaten vorsieht und landesweit geführt wird, umfasst den Kampf gegen staatliche und männliche sexualisierte, physische, seelische, digitale und wirtschaftliche Gewalt. Die Frauenbewegung fordert die Bestrafung der Täter. Ein weiterer Aspekt ist die staatliche „Spezialkriegspolitik“, mit der Frauen über sexualisierte Gewalt und Folter zu Sklavinnen gemacht und junge Menschen über Drogen und gezielte Spitzelanwerbung aus ihrem gesellschaftlichen Umfeld gerissen werden.

Seit Initiierung der Offensive finden in vielen kurdischen und türkischen Städten breit gefächerte Aktionen, Selbstverteidigungskurse und andere Veranstaltungen statt. Neben Workshops ausschließlich für Frauen werden auch Seminare angeboten, die explizit den Einschluss aller Geschlechter vorsehen oder sich nur an Männer richten, und bei denen eine kritische Auseinandersetzung mit der männlichen, patriarchalen Perspektive und der Männerrolle in der Gesellschaft stattfindet. Die Journalistin Semra Turan hat jüngst für die Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA) in Istanbul ein Seminar der TJA besucht und mit männlichen Teilnehmern über die Auswirkungen der Kampagne gesprochen. Und vor allem über das Bewusstsein, das bei ihnen dadurch geschaffen wird.

„Wir haben die Werkzeuge der Unterdrückung geschaffen“

Einer der Teilnehmer des Workshops ist Süleyman Ataş. Seiner Auffassung nach wird die TJA-Kampagne in vielen Kreisen positiv aufgenommen, weil sie vor allem dazu führe, dass der Sexismus innerhalb der Gesellschaft stärker hinterfragt wird. Offen und selbstkritisch reflektiert er: „Ich habe bei mir selbst so einiges festgestellt. Wir haben als Männer den Frauen viel zu viel Aufgaben und Missionen aufgebürdet. Wir haben sie nach unseren eigenen Vorstellungen beurteilt. Wir haben den Frauen viele negative Dinge zugeschrieben. Um das zu sehen, muss man nicht weit ausholen. Wenn wir bei unseren eigenen Familien anfangen, kann ich mit Hausarbeiten wie Abwaschen, Abspülen bis hin zur Kindererziehung sofort ein paar Beispiele nennen, die ich selbst als ‚Frauenarbeit‘ abgetan habe. Ich dachte immer, das sei nur die Aufgabe der Frauen.“

Workshop in Istanbul

„Hinterfragen die Männer nichts?“

Bis zu dem Seminar sei er gar nicht auf die Idee gekommen, den patriarchalen Anspruch der männerdominierten Gesellschaft zu hinterfragen, fügt Ataş hinzu. Weil ihm die Abkehr von dem bisher vorherrschenden Geschlechterrollenmodell nicht in den Sinn kam, habe er durch diese Mentalität hervorgerufene Mängel nicht erkennen können. „Die fehlende Reflexion patriarchaler Haltungen stellt ein gewaltiges Defizit dar. Weil sich dies nicht ändert, nehmen Gewalt gegen Frauen und Femizide zu und erfassen die gesamte Gesellschaft. Hier muss an der Wurzel angesetzt werden. Das macht die TJA mit ihrer Kampagne“, erklärt Süleyman Ataş.

Unterbewusste Realitäten

In den Seminaren der kurdischen Frauenbewegung finden intensive Diskussionen über die patriarchalische Privilegienstruktur und den konservativen Mentalitätstypus statt, um in allen Bereichen der Gesellschaft einen Wandel hin zur Gleichstellung der Geschlechter und Beseitigung jeder Form von Diskriminierung von Frauen voranzutreiben und die Befreiung der Frau als Leitlinie zu etablieren. Ataş weist insbesondere auf den unbewussten Sexismus hin, der sich auch bis in linke und revolutionäre Kreise fortsetzt. Auch wenn die Demokratische Partei der Völker (HDP), für die sich unter anderem Ataş engagiert, eine Partei der Frauen ist, mit den progressivsten Perspektiven, die die Gesellschaften in der Türkei je hervorgebracht haben, reiche es nicht aus, einfach nur bei der HDP zu sein. „Viele Männer, die sich hier einsetzen, unterscheiden sich in ihrer Haltung gar nicht von ihren Geschlechtsgenossen in der Gesellschaft“, sagt Ataş. Und er fügt hinzu: „So sehr wir auch behaupten, dass wir an einem guten Punkt in der Entwicklung einer Haltung gegenüber Frauen wären – wir sind es nicht. Wenn wir als Männer irgendwo hingehen, müssen wir uns niemandem gegenüber rechtfertigen. Wir können rausgehen, wann wir wollen, und nach Hause zurückkehren, wann es uns recht ist. Wir sehen nicht die Notwendigkeit, irgendjemandem darüber auch nur zu informieren. Aber wenn meine Schwester nicht zu einer bestimmten Zeit nach Hause kommt, bin ich so dreist, sie sofort anzurufen und Rechenschaft zu verlangen.“

Süleyman Ataş

„Das Problem ist die gesellschaftliche Geschlechterungleichheit“

Ataş ist sich sicher, dass der von der TJA angestoßene Hinterfragungsprozess bei Männern einen Wandel hervorrufen wird. „Er wird dafür sorgen, dass wir in allen Bereichen des Lebens mit Frauen zusammenarbeiten und Probleme gemeinsam lösen werden. Ich habe gelernt, dass es notwendig ist, nicht nur darüber zu reden, sondern diese Punkte umzusetzen. Wir müssen Frauen als gleichberechtigt betrachten. Sobald wir diese Tatsache akzeptieren, werden Frauen nirgends Probleme haben und es kommt auch nicht zu Angriffen gegen sie. Das größte gesellschaftliche Problem und die Ursache der patriarchalen Gewalt ist der Glaube der Männer, Frauen hätten nicht die gleichen Rechte.“

„Die TJA sticht in ein Wespennest, und das ist gut“

Ataş misst den Workshops der TJA große Bedeutung zu. Durch die gemeinsame Diskussion über die patriarchale Mentalität würden die Denkroutinen von Männern durchbrochen. Auf diese Weise spiele die Kampagne eine wichtige Rolle dabei, Männer zu verändern. „Die TJA sticht mit ihrer Kampagne in ein Wespennest, und das ist gut so. Es ist wichtig, dass sie sich überall ausweitet.“

Ohne TJA keine Hinterfragung der Codes

Ein anderer Seminarteilnehmer ist Ali Bal. Seit vielen Jahren sei er bereits politisch aktiv, aber erst durch den Workshop habe er begriffen, dass er, so sehr er auch behauptete, sein Denken wäre fortschrittlich, durch die ihm vermittelte patriarchale Mentalität auf praktischer Ebene nicht für Gleichberechtigung eintrete. Dies betreffe sowohl die Art und Weise als auch die Form seines Verhaltens, erklärt Bal. „Ich habe begriffen, dass ich eine patriarchale Haltung und Perspektive verinnerlicht habe. Diese Workshops spielen eine sehr wichtige Rolle, um das Patriarchat auf der Bewusstseinsebene zu bekämpfen, offenzulegen und zu verändern.“

Ali Bal

„Auch die Männer müssen das Patriarchat bekämpfen“

Selbstkritisch merkt Bal an, dass auch seine Sprache sehr patriarchal sei. „Wenn ich etwas beschreibe oder erzähle, rede ich so, als gäbe es keine Frauen.“ Dies sei ein Zeichen seiner Sichtweise auf Frauen. Die Methoden des Workshops setzten im Unterbewusstsein an und bewirkten, die eigenen Unzulänglichkeiten zu hinterfragen. „Es ist gut, gemischte Seminare zu haben. Denn wir spiegeln uns dort gegenseitig. Ich möchte, dass diese Arbeit fortgesetzt wird. Wir sind alle verantwortlich für die Verbreitung des Patriarchats. Daher müssen Männer wie Frauen gegen das Patriarchat kämpfen“, sagt Bal.

Das Leben neu entwerfen

Auch Erkan Tepeli findet, dass Seminare mit geschlechtsheterogenen Gruppen zum Thema Patriarchat einen signifikanten Effekt haben. Er selbst habe dadurch begriffen, wie tief die Machthaltung in ihm verankert ist und wie Beziehungen zwischen Männern und Frauen zu kleinen Herrschaftsbereichen des Patriarchats werden, sagt er. „Ich glaube, dass Workshops in diesem Sinne ein wichtiger Anfang sind, um das Bewusstsein auf diesem Weg immer weiter zu vertiefen. Ich habe erkannt, dass ich mein Leben neu entwerfen muss. Das Selbstvertrauen der Männer beruht auf 5.000 Jahren Geschichte. Wir begreifen nicht, dass dieses Selbstvertrauen Teil des Patriarchats ist. Deswegen müssen wir nochmal von vorne anfangen. Die TJA bringt unsere patriarchale Mentalität ans Licht. Es ist sehr wichtig, dass diese Arbeit ausgeweitet wird.“

Erkan Tepeli

„Es gibt ein Männerproblem“

Murat Kalmaz gehört ebenfalls zu den politisch Aktiven in der Runde. Nach dem Seminar resümiert er für sich, seinen eigenen Reaktionismus durchschaut zu haben. Er habe bisher die Einstellung vertreten, dass die Frauenfrage nur Frauen betreffen würde. Jetzt sei er an dem Punkt, sie als gesellschaftliches Problem zu verstehen. Die Arbeiten der TJA findet Kalmaz wichtig und vor allem wegweisend für alle Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Der Workshop sei aber auch vor dem Hintergrund produktiv gewesen, da er wie ein Spiegel wirkte, um sich selbst betrachten zu können und zu hinterfragen. „Sicher hatte ich eine gewisse Perspektive, aber massive Probleme damit, sie in die Praxis umzusetzen. Das ist das Grundproblem der Männer. Als Männer haben wir kein Problem damit, die Frage zu definieren und festzustellen, was dahintersteht. Aber wenn es um die Praxis geht, wird es schwierig. Deswegen hat die Gesellschaft ein Männerproblem.“

Murat Kalmaz

Männer sind die Ursache der Frauenfrage

Es seien Männer, die Frauen belästigen, vergewaltigen und ermorden. Männer seien die Träger der Politik des Staates. Frauen dagegen seien diejenigen, die den Kampf darum führen, Männer zu verändern. „Weil wir Männer die Ursache des Problems sind, müssen wir uns selbst verändern. Nach dem Workshop hatte ich sofort das Bedürfnis, mit meiner Ehefrau zu diskutieren. Ich habe sie nach ihren Beschwerden gefragt und wir haben gemeinsam über meine Unzulänglichkeiten gesprochen. Jetzt bin ich damit beschäftigt, wie ich mich ändern kann.“ Kalmaz bezeichnet sich selbst als ein „Verteidiger des Systems“. Er habe die Eigenschaft, sich als Herr im Haus aufzuspielen. „Ich kann kommen und gehen, wann ich will. Aber wenn das meine Ehefrau machen würde, würde ich das dann akzeptieren? Die Workshops bringen diese Details ans Licht. Deshalb sind sie wichtig. Alle oppositionellen politischen Parteien, die sich den Kampf für die Freiheit der Frau auf die Fahnen schreiben, und alle zivilgesellschaftlichen Organisationen sollten einen Schwerpunkt auf eine solche Arbeit legen.“