„Die Istanbul-Konvention ist für Frauen lebensnotwendig“

„Das Aufkündigen der Istanbuler Konvention wäre ein Bruch mit den Werten der modernen Welt und würde die Legalisierung von Gewalt gegen Frauen und Kinder bedeuten“, warnt die Anwältin Hatice Demir angesichts der Debatten um einen Ausstieg der Türkei.

In Nordkurdistan und der Türkei ist Gewalt gegen Frauen nach wie vor an der Tagesordnung. Die Frauenmordrate erreicht immer wieder Höchstwerte, das Land hat ein immenses Problem mit männlicher Brutalität. Dennoch wird seit einigen Wochen heftig über eine Aufkündigung der Istanbul-Konvention diskutiert, die 2011 vom Europarat zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt erarbeitet wurde. Die Frauenrechtlerin Hatice Demir von der Anwaltskammer in Amed (türk. Diyarbakir) führt die Debatte auf die patriarchale Herrschaftslogik des Staates zurück.

Gewalt gegen Frauen hat in der Türkei in den vergangenen Jahren massiv zugenommen. Woran liegt das?

Die Gewalt ist das Ergebnis von patriarchalischen Machtverhältnissen und ein strukturelles Problem. Es gibt viele Erscheinungsformen der Gewaltherrschaft der Männer über Frauen: kulturell, wirtschaftlich oder sozial bedingt. Die patriarchalische Gewalt, die heute für eine Woge gesellschaftlicher Empörung sorgt, hängt mit der Herrschaftslogik des staatlichen Gewaltmonopols zusammen: der Staat ist männlichen Geschlechts. Je mehr sich Frauen ihrer Rechte bewusst werden, Methoden zur Bekämpfung bürokratischer Hürden entwickeln und Netzwerke der Solidarität schaffen, werden sie von Männern und staatlichen Institutionen skandalisiert und als Bedrohung angesehen. Der mangelnde Respekt der Befreiung und dem Selbstbestimmungsrecht der Frau gegenüber erhöht die Gewalt.

Parallel zur Gewalt gegen Frauen erleben auch Fälle von Kindesmissbrauch in der Türkei einen deutlichen Anstieg. Worauf ist das zurückzuführen?

Gewalt gegen Frauen und Gewalt gegen Kinder, Missbrauch und sexualisierte Gewalt sind nicht unabhängig voneinander, sondern miteinander verbunden. In der vorherrschenden patriarchalischen Kultur werden Frauen und Kinder nicht als Subjekte wahrgenommen, sondern als Objekte für den Fortbestand der Ordnung angesehen. Diese Perspektive erzeugt Gewalt. Auch der Reflex der politischen Macht, konservative Paradigmen zu schützen, speist Mechanismen, die Gewalt erzeugen. Denken Sie an die Versuche, Kinderehen zu legalisieren oder daran, dass der Bildungsminister in Online-Netzwerken ein Foto mit einem Minderjährigen bei „erwerblicher Arbeit“ teilt und damit Kinderarbeit normalisiert, statt verantwortungsbewusst zu handeln und sie zu ächten.

Werden denn das Gesetz zum Schutz der Familie und der Unterbindung von Gewalt an Frauen (Gesetz Nr. 6284) oder die Istanbul-Konvention hinreichend umgesetzt?

Die Istanbuler Konvention wurde im Jahr 2011 als völkerrechtlicher Vertrag ausgearbeitet, um einen umfassenden Ansatz bei der Bekämpfung und Beseitigung jeglicher Art von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt zu gewährleisten. Die Türkei unterzeichnete den Vertrag als erstes Land und ließ alle Inhalte rechtlich verankern. Die vier Eckpfeiler der Konvention lauten Verhütung von Gewalt, Schutz der Opfer, strafrechtliche Verfolgung der Täter und die Ergreifung integrierter Maßnahmen zur Verhütung und Beseitigung der Gewalt. Somit können geschlechtsspezifische Gewalt, also jede Form von Gewalt, die sich entweder gegen Frauen richtet oder Frauen unverhältnismäßig stark trifft, Diskriminierung und Gewaltpraktiken, die unter dem Label der gesellschaftlichen, kulturellen oder traditionsbedingten Gewalt zusammengefasst werden, effektiv bekämpft werden. Zwar rühmt sich die Türkei gerne damit, die Istanbul-Konvention als erstes Land ratifiziert zu haben. Doch die Tatsache, dass Gewalt gegen Frauen juristisch kaum geahndet wird, Verfahren verschleppt werden und patriarchalische Gewalt als ein Problem verstanden wird, das diskret innerhalb der Familie gelöst werden sollte, zeigt den Unwillen der Regierung, den Vertrag umzusetzen. Um das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen zu verschweigen, betreibt die AKP zudem seit einigen Jahren die gezielte Politik, entsprechende Statistiken zurückzuhalten. Es sind Recherchen von Frauenorganisationen, die patriarchalische Gewalt in der Türkei sichtbar machen und das ganze Ausmaß veranschaulichen.

Kennen die betroffenen Frauen ihre Rechte?

Im Grunde sind sich Frauen ihrer Rechte bewusst, die sich aus der Istanbuler Konvention und dem Gesetz Nr. 6284 ergeben. Sie wenden sich in Notfällen an die entsprechenden Stellen, um Hilfe zu beantragen, und kämpfen für die Durchsetzung ihrer Rechte. Doch wie ich bereits ausgeführt habe, handelt die türkische Justiz nicht opferorientiert. Frauen wird kein Schutz geboten, daher tritt die Konvention de facto wegen Funktionslosigkeit außer Kraft.

Die Regierung plant einen Austieg aus dem Übereinkommen.

Das Aufkündigen der Istanbuler Konvention wäre ein Bruch mit den Werten der modernen Welt und würde die Legalisierung von Gewalt gegen Frauen und Kinder bedeuten. Zu gewährleisten, dass Frauen und Kinder ohne Gewalt leben, ist ein wesentlicher Bestandteil der universellen Menschenrechte - die Konvention ist also lebensnotwendig. Sollte sich die Stellung der Frau in der Türkei in menschenrechtlichen Fragen im Sinne des Staates tatsächlich verändern, so würden die existierenden Probleme weiter vertieft werden. Wenn wir dagegen die Reaktionen von Politikerinnen und Politikern nach dem Mord an Pinar Gültekin näher betrachten, erkennen wir einen unmittelbaren Einfluss auf das sprachliche Handeln. Ich hoffe, dass dieser Effekt zu einer radikalen Veränderung der politischen Sprache und der Herangehensweise an die Frauenfrage führen wird.

Warum gibt es in nahezu allen Prozessen wegen Gewalt an Frauen und Kindern oder sexuellem Missbrauch Strafmilderung für die Täter?

Die türkische Justiz ist ein Zufluchtsort für Männer und fördert patriarchalische Gewalt. Das zeigen auch die „Beweggründe“ der Täter von Gewalttaten. Es ist kein Zufall, dass die Argumentation von Frauenmördern fast immer gleich klingt. Patriarchalische Gewalt wird damit gerechtfertigt, dass die betroffene Frau nicht auf den Mann „hörte“, ihm nicht „gehorchte“, zu später Stunde „draußen“ unterwegs sei, sich „freizügig“ kleidete, nicht „gekocht“ habe oder „fremd ging“. Es sind Argumente, die die Rechte von Frauen verletzen, aber von der Justiz viel zu oft als legitim angesehen werden. Nach einer Erhebung der Oppositionspartei CHP sehen türkische Gerichte in 45 Prozent der Verfahren wegen Gewalt und Mord an Frauen Strafmilderungen für den Täter vor, der seine Tat „aus Zorn oder heftigem Schmerz über eine ungerechtfertigte Aufreizung durch das Opfer” begeht. Das bedeutet, dass diese Verteidigungstaktiken gewalttätiger Männer von der türkischen Justiz als gültig beurteilt und akzeptiert werden.

Haben Sie Lösungsvorschläge, wie die Femizidrate heruntergeschraubt und männliche Gewalt gegen Frauen beendet werden kann?

Eine einzige Formel gibt es natürlich nicht. In erster Linie muss anerkannt werden, dass Frauen aufgrund ihres Geschlechts Gewalt erfahren. Gewalt gegen Frauen ist Ausdruck eines Macht-Ungleichgewichtes zwischen den Geschlechtern. Deshalb müssen die Mechanismen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen gemäß der Istanbul-Konvention vollständig umgesetzt werden. Einerseits muss die Realität anerkannt werden, dass sich die meisten Fälle von Gewalt gegen Frauen im familiären Umfeld abspielen. Es müssen sich Impulse entwickeln, die traditionelle Denkmuster und die Familie in ihrer traditionellen Form infrage stellen. Andererseits müssen ein politischer Ansatz und eine Soziodynamik entstehen, die zum Ziel die Gleichstellung der Geschlechter und die Anerkennung des Rechts von Frauen auf ein gewaltfreies Leben haben und Frauen durch ihre gesellschaftliche Stärkung ein unabhängiges Leben ermöglichen. Der Staat sollte sich diese Grundsätze im Kampf gegen Gewalt gegen Frauen zu eigen machen und integrierte Strategien entwickeln, die auf den Erfahrungen und dem Wort der in diesem Bereich tätigen Frauen beruhen.