Ayşe Gökkan: Wie Phönix aus der Asche neu geboren
Die TJA-Sprecherin Ayşe Gökkan berichtet von der Kampagne „Wir verteidigen uns selbst“ und von den in ganz Kurdistan verbreiteten Angriffen auf Frauen.
Die TJA-Sprecherin Ayşe Gökkan berichtet von der Kampagne „Wir verteidigen uns selbst“ und von den in ganz Kurdistan verbreiteten Angriffen auf Frauen.
Seit Mitte September finden in Nordkurdistan und der Türkei Aktivitäten der Bewegung Freier Frauen (Tevgera Jinên Azad, TJA) anlässlich der Kampagne „Em xwe diparêzin“ (Wir verteidigen uns selbst) statt. Die Kampagne umfasst den Kampf gegen staatliche und männliche sexualisierte, physische, seelische, digitale und wirtschaftliche Gewalt. Die Frauenbewegung fordert die Bestrafung der Täter. Ein weiterer Aspekt ist die staatliche „Spezialkriegspolitik“, mit der Frauen über sexualisierte Gewalt und Folter zu Sklavinnen gemacht und junge Menschen über Drogen und gezielte Spitzelanwerbung aus ihrem gesellschaftlichen Umfeld gerissen werden. Nach zwei Monaten Kampagne zieht die TJA-Sprecherin Ayşe Gökkan Zwischenbilanz und kündigt einen Fokus auf den 25. November an, den internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen.
Männergewalt in Uniform hat zugenommen
Ayşe Gökkan, selbst schon vielfach aufgrund von Repression gegen die Frauenbewegung festgenommen, berichtet von der Fraueninitiative: „Unsere Kampagne startete am 15. September. Allerdings gab es aufgrund unterschiedlicher Bedingungen in den Provinzen, die mit der aktuellen Situation zusammenhängen, unterschiedliche Zeitpunkte und Ausgangslagen. Nordkurdistan nimmt wegen der Ausweitung der Angriffe einen wichtigen Platz auf der Tagesordnung ein. Vor Beginn der Kampagne hatte es Gewalt von uniformierten Soldaten gegeben. Es gab viele Verbrechen wie das an Ipek Er, Gülistan Doku und an Dilan Toptaş durch einen Vollzugsbeamten in Wan sowie die Ermordung von Büşra in Agirî. Die sexistischen und militaristischen Morde, gedeckt von der Staatsmacht, nahmen von Tag zu Tag zu. Da dies in der Region Kurdistan geschieht, hat das Ganze noch eine andere Dimension.“
TJA-Sprecherin Ayşe Gökkan
„Es reicht“
Gökkan fährt fort: „Unsere Parole lautet ‚Em xwe diparêzin‘ und unser Symbol ist der Phönix. Wir haben dieses Symbol gewählt, denn Kurdistan wird überall vom Boden und der Luft aus angegriffen, aber wir stehen immer wieder wie Phönix aus der Asche auf. Unsere Kampagne richtet sich gegen die Angriffe der patriarchalen, rassistischen, sexistischen und paramilitärischen Kräfte auf unser demokratisches, frauenbefreiendes und ökologisches Paradigma. Wir sagen, es reicht, wir verteidigen uns selbst. Wir sagen, es ist jetzt Schluss damit, dass uns die Rechte, die wir in einem vierzigjährigen Kampf erstritten haben, geraubt werden. Damit meinen wir beispielsweise das Modell der Doppelspitze, das als Ausrede benutzt wird, um Zwangsverwalter einzusetzen. Dies ist ein Angriff auf den Willen der Frau, sich selbst zu regieren. Zwangsverwaltung bedeutet Besatzung, wir haben gesagt, ‚Der Ko-Vorsitz ist unsere lila Linie‘, und wir stellen uns gegen diese Besatzung.“
„Frauen werden inhaftiert, weil ihr Willen nicht gebrochen werden kann“
Zur Entwicklung der Gewalt gegen Frauen unter dem AKP/MHP-Regime sagt Gökkan: „Früher fand die Gewalt nur auf physischer, ökonomischer und verbaler Ebene statt, aber sie hat sich mittlerweile so weit verbreitet, dass man von politischer und kultureller Gewalt, die vom Gesundheitswesen über die Bildung bis in die Medien reicht, sprechen muss. Die Staatspolitik der AKP/MHP wirkt wie ein Mobilisierungsbefehl für die patriarchale Mentalität. Alle Bereiche, in denen Frauen eine entscheidende Rolle spielen und in denen ihr Wille repräsentiert wird, wurden zum Ziel offener staatlicher Angriffe. Es handelt sich dabei um offizielle Staatspolitik. Es herrscht insbesondere ein unglaubliches Ausmaß an uniformierter Männergewalt. In der Zeit vor der Ernennung der Zwangsverwalter war es den Frauen in Solidaritätszentren und eigenen Einrichtungen gelungen, den Männern eine gewisse Selbstkontrolle beizubringen. Ja, die Mentalität hat sich nicht geändert, aber es gab eben eine gewisse Selbstkontrolle. Jetzt zeigt der Staat diesen Männern, dass sie nicht bestraft werden. Wir sehen hier eine Rechtsauffassung am Werk, mit der das Unrecht zementiert wird. Ein Beispiel dafür sind die Massenfestnahmen von Frauen. Früher wurden unter dem Vorwand von ‚KCK-Operationen‘ gemischte Gruppen festgenommen. Jetzt werden 28 Frauen auf einmal ergriffen. Dabei geht es darum, den Willen der Frauen zu brechen und diejenigen, die sich nicht brechen lassen, ins Gefängnis zu werfen. Die Gefängnisse sind mittlerweile zu Internierungslagern geworden.“
Zerstörung von Hasankeyf ist ein Angriff auf die Menschheit
Gökkan spricht über die kulturelle Dimension der Kampagne: „Wir haben auch verschiedene Verbrechen gegen die Menschheit in unsere Kampagne aufgenommen. So zum Beispiel die Zerstörung von Hasankeyf mit seiner 12.000 Jahre zurückreichenden Geschichte durch einen Stausee.“
Isolation von Öcalan spiegelt sich in Gesellschaft wider
Sie fährt fort: „Wir haben die Kampagne gestartet, um zu allen Angriffen auf das freie Leben der Frauen ‚Stopp‘ zu sagen. In allen Bereichen des Lebens herrscht eine Politik der Isolation. Wir wissen, wie sich die Isolation von Herrn Öcalan in der Gesellschaft widerspiegelt. Wir wissen, dass ohne die Isolation auf Imrali zu durchbrechen, sich auch die anderen Formen der Isolation nicht aufbrechen lassen. Wir sagen, Schluss jetzt, und gehen zur Selbstverteidigung über.“
Bisher 114 Workshops durchgeführt
Zum praktischen Verlauf der Kampagne sagt die TJA-Sprecherin: „Seit Beginn der Kampagne haben wir 114 Workshops durchgeführt. In der letzten Zeit war insbesondere der Anstieg von Gewalt gegen Frauen durch Männer, die im Befreiungskampf und auch in der HDP aktiv sind, auf unserer Tagesordnung. Obwohl diese Männer von Frauen gewählt worden sind, haben sie diese verraten. Wir sagen ihnen und der Gewalt gegen Frauen in den Provinzen und Landkreisen den Kampf an. Unsere Kampagne dreht sich daher darum, die patriarchale Mentalität innen wie außen in Frage zu stellen und zu bekämpfen. Deshalb fand auch ein Teil unserer Seminare gemischt statt. Wir haben Workshops mit einem Bildungsauftrag durchgeführt, um die Gewalt gegen Frauen zu beenden. Wir haben dafür gesorgt, dass sich die Männer auf diesen Veranstaltungen mit sich selbst auseinandersetzen. Bisher haben etwa 3.000 Menschen daran teilgenommen.
„Wir fürchten uns nicht und werden nicht weichen“
Zu den Vorbereitungen auf den 25. November berichtet die Aktivistin: „Wir haben am 7. November mit den Vorbereitungen für den 25. November in Cizîr, Gever und Pirsûs begonnen. Das sind alles Regionen im Grenzgebiet. Der Staat nutzt die Sicherung der Grenzen als Vorwand für eine Reihe von Angriffen, insbesondere auf Frauen. Wir erinnern an den Kampf der drei Frauen in der Dominikanischen Republik, die gegen die Diktatur und für Frauenrechte kämpften. So ähnlich ist es heute in der Türkei. Das Patriarchat nimmt im 21. Jahrhundert Rache an den Frauen, welche den Angriff des als IS auftretenden Patriarchats zerschlagen haben. Das ist die Politik der Türkei. Der 25. November ist für uns der Tag des Widerstands und des Kampfes gegen diesen Angriff. Wir werden keinen Schritt zurückweichen und wir fürchten uns nicht, denn Frauen sind das Leben und die Freiheit.“