Kampf am Tigris geht weiter

Der größte Teil der historischen Kulturstätte Hasankeyf in Nordkurdistan ist vom Ilisu-Stausee verschluckt worden. Die „Initiative zur Rettung von Hasankeyf“ informiert über den aktuellen Stand und erklärt, warum der Kampf weitergehen muss.

Am 19. Mai 2020 verkündete die autoritäre Regierung der Republik Türkei in einem online ausgestrahlten Video die Inbetriebnahme der ersten Turbine des Ilisu-Wasserkraftwerkes. Präsident Erdogan sprach dabei mit gezielten Falschbehauptungen die angeblichen Vorteile des Ilisu-Projektes an. Insbesondere sagte er, dass vom Ilisu-Projekt ein Wind der Geschwisterlichkeit und des Friedens wehen würde. Das Gegenteil ist der Fall, denn mit diesem Projekt erhält der türkische Staat die Gelegenheit, dem Irak in erheblicher Weise und auch Rojava das Wasser abzugraben.

Die „Initiative zur Rettung von Hasankeyf“ (kurd. Heskîf) erklärt dazu:

Hasankeyf befindet sich nun weitgehend unter dem künstlichen Ilisu-Stausee! Die Aussicht auf diesen 12.000 Jahre ununterbrochen besiedelten Ort ist zweifellos herzzerreißend für die meisten von uns. Nur noch wenige Gebäude vom bis vor kurzem bewohnten Hasankeyf und die oberen Bereiche der Burg sind noch zu sehen. Alles andere ist verschluckt von einem 136 Kilometer langen Stausee, der inzwischen voll ist. Oft wurde von uns und auch anderen dieses Projekt wegen dieser nun eingetretenen Flutung lange Zeit als kulturelle Zerstörung bezeichnet. Das greift jedoch zu kurz. Denn es handelt sich um „kulturellen Genozid“! Hunderte und kaum erforschte Orte eines global gesehen einzigartigen kulturellen und natürlichen Erbes sind nicht mehr zu erreichen. Die Zerstörung in Ober-Mesopotamien ist aus kultureller und historischer Sicht viel dramatischer als die Zerstörung von Palmyra in Syrien durch den IS oder der Buddha-Tempel in Afghanistan durch die Taliban.

Jahrzehntelanger Widerstand

Seit 1998 bis heute engagierten sich viele Menschen und Organisationen gegen das Ilisu Projekt, einem der weltweit umstrittensten Talsperren. Mehrmals gab es Erfolgsmomente, wie 2002 und 2009, als die europäische Finanzierung gestoppt wurde. Gegen kein anderes zerstörerisches Projekt in Nordkurdistan und Türkei wurde so lange Widerstand geleistet. 2019 wurde nochmal die Kampagne in einer guten, aber nicht ausreichenden Weise intensiviert. Viele erinnern sich an die Proteste in Hasankeyf, Istanbul, Bagdad und Europa. Doch der Staat unternahm alles, wie bei keinem zweiten Investitionsprojekt, um Ilisu fertig zu stellen.

80.000 Betroffene

Besonders dramatisch ist es nun für die mehr als 20.000 Vertriebenen aus dem Tigristal, die nun in viel schwierigeren ökonomischen Verhältnissen leben müssen. Aber auch diejenigen 60.000 Menschen, deren Häuser zwar nicht überflutet wurden, aber Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen erfahren, werden in die Armut getrieben. In wenigen Jahren wird die Landflucht auch dadurch zunehmen. Daher sprechen wir seit Jahren von 80.000 direkt Betroffenen.

Der Kampf ist nicht vorbei

Ist nun alles vorbei? Die komplette oder teilweise Flutung von 199 Dörfern einschließlich Hasankeyf ist eine Tatsache. Das sehen wir auf Bildern seit Wochen. Dennoch ist die Antwort NEIN! So einen Kampf aus Trotz weiter zu führen, kann eine Motivation sein. Aber es gibt bedeutendere Gründe, weshalb es weitergehen muss.

Die Gerichtsverfahren von hunderten enteigneten Menschen werden fortgeführt, weil sie immer noch nicht ihr bzw. halbwegs etwas Geld erhalten haben. Je mehr Druck, desto eher oder mehr erhalten sie.

Die vielen Vertriebenen sind in den neuen Orten (zumeist große Städte) mit vielschichtigen sozialen und psychologischen Problemen konfrontiert.

Die Zerstörung des physischen Kulturerbes geht weiter. Anfang Juni 2020 zeigten Bilder, wie der Kleine Palast an der nordöstlichen Ecke der Burg im Wasser stand und damit die um sie gebaute Mauer - von 2018 bis 2020 gebaut - wasserdurchlässig ist. Daraus lässt sich sagen: Die riesige und bis zu 80 Meter hohe „Schandmauer“ aus Schüttung und Beton birgt die Gefahr, dass sie den über die Zeit gestreckten Einsturz der Burg nicht verhindern kann. Damit hätte die offizielle Propaganda, wonach Hasankeyf mit dem Ilisu-Projekt gerettet werden würde, noch offensichtlicher keine Grundlage mehr. Währenddessen geht der Bau des „Kulturparks“ in Neu-Hasankeyf weiter und es ist immer noch nicht ersichtlich, was bei der Versetzung von sieben Monumenten verloren gegangen ist.

Fünfzig Prozent teurer als geplant

Das Ilisu-Projekt hat viel mehr gekostet als offiziell angegeben und es wird die Allgemeinheit noch viel kosten. Am 19. Mai 2020 wurde bekannt gegeben, dass das Ilisu-Projekt insgesamt 18 Mrd. TL gekostet habe, also etwa drei Mrd. Euro. Jahrelang wurde immer nur von zwei Mrd. Euro (einschließlich der „Umsiedlungskosten“) Gesamtkosten gesprochen. Es ist also offiziellen Angaben zufolge 50 Prozent teurer als geplant. Das ist typisch für solche Megaprojekte, welche die Gesellschaft viel mehr als geplant kosten. Die Konzerne können wie geplant die erwarteten großen Profite einfahren. Wir gehen davon aus, dass es noch teurer ist. Denn eine Reihe von sozialen Kosten werden in anderer Form von öffentlichen Haushalten – einschließlich durch die Gemeinden – getragen. Und wenn in den nächsten Jahren eine große Dürre kommen sollte, wird Ilisu deutlich weniger Strom produzieren. Dies bedeutet mehr Kosten, da das Ilisu-Konsortium vertraglich eine Garantie von der Regierung hat, einen Mindestbetrag an Zahlungen zu erhalten.

Ilisu-Projekt nicht für die Ewigkeit

Es gibt noch einen Punkt, welches die Fortführung der Kampagne notwendig macht. Das Ilisu-Projekt ist nicht für die Ewigkeit, denn es besteht aus Beton, Mauerwerk, Stahl und weiterem Material. Die Gesetze der Natur bestehen weiter, welches auch eine Renaturierung möglich macht. So könnte bei einem Stopp des Betriebes des Ilisu-Projektes und einer Entleerung des Stauraumes das Tigristal nach nur wenigen Jahren in einen naturnahen Zustand sich zurückentwickeln. Ein „Rückbau des Ilisu-Staudammes“ ist nicht illusorisch, sondern sehr konkret möglich. Technisch gesehen ist es möglich – die weltweite Erfahrung nimmt zu. Für die Renaturierung des Tigristales ist der Rückbau des Absperrbauwerks nicht zwingend erforderlich. Herausfordernder ist ein sinnvolles und ökologisches Management des akkumulierten Sediments im Stauraum. Für einen Rückbau muss der politische Rahmen natürlich stimmen. Dazu ist eine Demokratisierung des Staates und Autonomie Nordkurdistans notwendig, was politisch nicht unmöglich ist.

Perspektive: Weiter kämpfen

Die Fortführung des Kampfes gegen das Ilisu-Projekt ist wichtig, um nicht nur defensiv gegen zerstörerische Projekte zu agieren, den Kampfgeist zu verlieren und die Perspektive zu eröffnen, die „verloren gegangenen Gebiete, Lebensgrundlagen und das Erbe“ zurückzugewinnen. Insbesondere ein Erfolg gegen Ilisu könnte andere sozial-ökologische Kämpfe im Mittleren Osten und darüber hinaus motivieren, trotz Abschluss des Baus von Projekten weiter zu machen. Bei Kohle- und Atomkraftwerken haben solche Kämpfe in einigen Staaten dieser Welt in den letzten Jahren Erfolg gebracht.