Der oberste Ankläger am türkischen Kassationshof (Yargıtay), Bekir Şahin, hat vor dem Verfassungsgericht seine Forderung nach einem Verbot der Demokratischen Partei der Völker (HDP) wegen „Terrorismus“ bekräftigt. Sie sei auf „organische Weise“ mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verbunden, sagte Şahin am Dienstag in Ankara, als er das Gerichtsgebäude nach einer Anhörung verließ. „Unsere ganze Gesellschaft weiß darüber Bescheid.“
Die HDP operiere „fast wie ein Rekrutierungsbüro“ der PKK, warf Şahin der Partei vor. Als Beweis für seine Behauptungen führte er vor laufenden Kameras die sogenannte Mahnwache vor dem Provinzverband der HDP in Amed (tr. Diyarbakır) an. Seit 2019 dauert die auf Direktive der AKP/MHP-Regierung inszenierte „Protestveranstaltung“ vor dem Parteigebäude in der nordkurdischen Metropole bereits an. Bei den Beteiligten handelt es sich um Personen, die von der HDP die Herausgabe ihrer angeblich „gewaltsam“ zur kurdischen Guerilla in die Berge gebrachten Angehörigen fordern.
Die HDP weist die Vorwürfe regelmäßig zurück und kritisiert das Vorgehen der türkischen Behörden als politisch motivierte Offensive zur Ausschaltung der linken und demokratischen Opposition. Die HDP ist die drittgrößte Partei im türkischen Parlament, wird aber pauschal als „terroristisch“ gebrandmarkt. Erdoğan geht systematisch gegen die Partei vor, tausende ihrer Mitglieder und Funktionäre – darunter auch die früheren Parteivorsitzenden Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş – sitzen im Gefängnis. Zuletzt wurde die HDP von der Parteienfinanzierung ausgeschlossen. Für das weitere Prozedere im Verbotsverfahren steht im nächsten Schritt eine mündliche Anhörung der HDP an.
Schon am 21. Juni 2021 wurde der Verbotsantrag gegen die HDP wegen „Terrorismus“ vom türkischen Verfassungsgericht genehmigt. Zusätzlich zum Parteiverbot fordert Generalstaatsanwalt Şahin auch, rund 450 aktive Mitglieder und Funktionäre für einen Zeitraum von fünf Jahren von der organisierten politischen Tätigkeit oder der Mitgliedschaft in politischen Parteien auszuschließen. Das würde auf den Ausschluss nahezu der gesamten HDP-Führung von der Politik hinauslaufen und so den Pluralismus ersticken und die Kanäle der politischen Debatte auf Jahre verschließen. Bei einem Verbot der HDP würde Erdoğan damit rechtzeitig vor der Präsidentschafts- und Parlamentswahl, die nach jüngeren Verlautbarungen offenbar noch vor Juni stattfindet, seinen wichtigsten Gegner aus dem Weg räumen. Der Präsident strebt eine Wiederwahl an, steht aber wegen der Wirtschaftskrise und der extrem hohen Inflation in der Türkei innenpolitisch unter Druck. Aktuelle Umfragen zeigen, dass bei fairen und freien Wahlen der Regierungsblock von AKP und MHP keine Mehrheit mehr hätte. Mit etwa elf Prozent in jüngsten Umfragen steht die HDP derzeit an dritter Stelle unter den Parteien. Damit könnte ihr eine zentrale Rolle bei der Regierungsbildung zufallen – trotz struktureller Repression und permanenten Verhaftungswellen gegen ihre Mitglieder.
Königsmacherin bei Wahlen
Die HDP war bei vergangenen Wahlen in der Türkei mehrfach das Zünglein an der Waage. Bei der Parlamentswahl 2018 hatte sie knapp sechs Millionen Stimmen erhalten und damit 67 der 600 Parlamentssitze. Nach Mandatsentzügen, etwa im Fall von Leyla Güven und Semra Güzel, sowie Austritten aus der HDP zugunsten der DBP (Partei der demokratischen Regionen) und TIP (Arbeiterpartei der Türkei), hat sich die Zahl ihrer Abgeordneten auf 56 reduziert. Dennoch bildet die HDP nach wie vor die zweitstärkste Oppositionsfraktion in der türkischen Nationalversammlung und gilt weiter als Königsmacherin. Besonders die Kommunalwahlen im März 2019 trugen zu diesem Ruf bei. Damals verzichtete die Parteiführung in einigen Städten auf eigene Kandidaturen und rief stattdessen ihre Wählerinnen und Wähler dazu auf, den Kandidaten der CHP ihre Stimme zu geben. Ohne Rückendeckung der HDP wäre der Wahlsieg des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem Imamoğlu nicht möglich gewesen.