Weniger als ein halbes Jahr vor der Präsidentschafts- und Parlamentswahl in der Türkei hat das türkische Verfassungsgericht die HDP vorerst von der staatlichen Parteienfinanzierung ausgeschlossen. Die Richter werfen der Partei „Verbindungen zum Terrorismus“ vor – gemeint ist die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Die HDP weist die Anschuldigungen zurück. Sie kämpfe mit legalen Mitteln für mehr Rechte für Kurdinnen und Kurden und andere Minderheiten, erklärte die Partei. Die Gerichtsentscheidung ziele darauf ab, faire und demokratische Wahlen zu verhindern.
Die HDP sitzt als legale Partei im Parlament, wird von der islamistisch-nationalistischen Regierungskoalition aus AKP und MHP aber pauschal als „terroristisch“ gebrandmarkt. Durch die Entscheidung der Richter verliert sie nun den Zugang zu 27 Millionen Euro, von denen ein Drittel noch vor dem 10. Januar ausgezahlt werden sollte. In einen Monat soll entschieden werden, ob der Partei dauerhaft der Zugang zu ihren Finanzmitteln versagt bleibt. Gegen die HDP läuft derzeit auch ein Verbotsverfahren wegen des Vorwurfs „terroristischer Aktivitäten“, eine Entscheidung könnte am kommenden Dienstag fallen.
Günay: Putsch gegen die Demokratie
Die HDP-Sprecherin Ebru Günay kritisierte das Urteil der Verfassungsrichter als „beschämend“ und schwarzen Fleck in der Geschichte des Gerichts. Die Richter hätten „ganz offensichtlich eine politische und keine juristische Entscheidung getroffen“ und sich damit einen weiteren „Putsch gegen die Demokratie“ geleistet. „Unmissverständlich hat das Gericht heute klargestellt, dass es ein Werkzeug der medial inszenierten Desinformations- und Diffamierungskampagne von Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist“, sagte Günay.
Erdoğan vor Wahlen unter Druck
Im Juni finden in der Türkei die Parlamentswahl und die erste Runde der Präsidentschaftswahl statt. Erdoğan strebt eine Wiederwahl an, steht aber wegen der Wirtschaftskrise und der extrem hohen Inflation in der Türkei innenpolitisch unter Druck. Aktuelle Umfragen zeigen, dass bei fairen und freien Wahlen der Regierungsblock von AKP und MHP keine Mehrheit mehr hätte. Mit etwa elf Prozent in jüngsten Umfragen steht die HDP derzeit an dritter Stelle unter den Parteien. Damit könnte ihr eine zentrale Rolle bei der Regierungsbildung zufallen – trotz struktureller Repression und permanenten Verhaftungswellen gegen ihre Mitglieder.
Königsmacherin bei Wahlen
Die HDP war bei vergangenen Wahlen in der Türkei mehrfach das Zünglein an der Waage. Bei der letzten Parlamentswahl im Jahr 2018 erhielt die sie fast sechs Millionen Stimmen. Damit bildet die HDP derzeit die zweitstärkste Oppositionsfraktion in der türkischen Nationalversammlung. Doch besonders die Kommunalwahlen im März 2019 trugen zu ihrem Ruf als Königsmacherin bei. Damals verzichtete die Parteiführung in einigen Städten auf eigene Kandidierende und rief stattdessen ihre Wählerinnen und Wähler dazu auf, den Kandidaten der CHP ihre Stimme zu geben. Ohne Rückendeckung der HDP wäre beispielsweise der Wahlsieg des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem Imamoğlu nicht möglich gewesen. Doch für die Finte, die der CHP so sehr nutzte, rächt sich die Regierungspartei bis heute an der HDP.
HRW: Erdoğan missbraucht Gerichte
Bei einem Verbot der HDP würde Erdoğan rechtzeitig vor der Präsidentschafts- und Parlamentswahl einen wichtigen politischen Gegner kaltstellen. Emma Sinclair-Webb, Türkei-Direktorin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) erklärte, die Gerichtsentscheidung zeige, dass die Regierung von Präsident Erdoğan die Gerichte des Landes dazu missbrauche, die politische Opposition „zu benachteiligen, aus dem Weg zu räumen und zu bestrafen“. Auch Imamoğlu bekam zuletzt sein Fett weg: Im Dezember wurde der 52-Jährige wegen Beamtenbeleidigung zu zwei Jahren und sieben Monaten Haft verurteilt. Mit dem Urteil, das noch nicht rechtskräftig ist, wäre der Politiker faktisch künftig von jedem politischen Amt ausgeschlossen.