Inmitten des Verfahrens zu ihrem Verbot hat die Demokratische Partei der Völker (HDP) am Sonntag in Ankara ihren fünften Parteitag abgehalten, um ihre Doppelspitze zu bestimmen, einen selbstkritischen Blick auf die Arbeit der vergangenen zwei Jahre zu werfen und die politischen Weichen für die kommenden Jahre zu stellen. Die bisherigen Ko-Vorsitzenden Pervin Buldan und Mithat Sancar wurden einstimmig im Amt bestätigt, Gegenkandidaturen gab es nicht. Die stimmberechtigten Delegierten wählten auch einen neuen Parteirat, der aus hundert Personen besteht, und besetzten den zentralen Disziplinarrat sowie den Versöhnungsrat mit neuen Mitgliedern. Außerdem wurde ein großer Beirat zur wissenschaftlichen und politischen Begleitung der HDP gebildet, dem über vierzig Intellektuelle, Kunstschaffende und Akademiker:innen aus verschiedenen Disziplinen angehören.
Der Kongress der HDP, die vor allem unter Linken sowie Kurdinnen und Kurden verankert ist, war eine gewaltige Willensdemonstration. Es beteiligten sich zehntausende Menschen, die von Edirne in der Westtürkei bis Colemêrg (tr. Hakkari) im kurdischen Osten aus allen Landesteilen angereist waren, um dem Motto „Wir sind die Lösung!“ einen praktischen Ausdruck zu verleihen und zu signalisieren, dass der „totale Krieg“ des türkischen Regimes nicht zu gewinnen ist. Auch Vertreter:innen anderer Parteien und zivilgesellschaftlicher Organisationen sowie hunderte Gäste aus dem Ausland nahmen teil. Da nicht alle in den Saal mit etwas mehr als 10.000 Plätzen passten, fand unter freiem Himmel eine Art „Parallel-Kongress“ statt.
Buldan: Wir haben die Idee nach einer echten Lösung
Im Mittelpunkt des Parteitags standen die Transformation der Türkei hin zu einer Autokratie und Perspektiven für einen positiven Wandel. Als Lösungsweg, um das Land aus der Krise zu lenken, wurde auf das Konzept der „Roadmap für Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden“ verwiesen. Das wegweisende Positionspapier war im letzten Sommer im Rahmen der Kampagne „Wir sind die HDP, wir sind überall“ gemeinsam mit den Wählerinnen und Wählern der Partei, allen Gremien, zivilgesellschaftlichen Organisationen und demokratischen Bewegungen erarbeitet worden. Neben Perspektiven und Zielen der Strategie der HDP formuliert die Roadmap eine erhellende und engagierte Darstellung der Schwierigkeiten, mit denen sich demokratische Kräfte in der Türkei auseinandersetzen müssen. Auch enthält sie konstruktive Lösungsansätze für die Überwindung der Probleme und eine zukunftsfähige Demokratisierung des Landes.
Pervin Buldan bezeichnete das Positionspapier als Zusammenfassung der Strategie des „dritten Weges“. Die HDP zeige damit auf, dass eine Alternative jenseits von islamistischen, nationalistischen, faschistischen und kapitalistischen Politikansätzen und Wahlbündnissen, wie sie in der Türkei existieren, vorhanden und eine zukunftsfähige Demokratisierung möglich ist. Diese Alternative realisieren und damit positive Veränderungen herbeizuführen, sei eine „gemeinsame Verantwortung all jener“, die demokratische Politik betreiben. „Wir haben die Idee für eine echte Lösung, um das Land aus dem Klima der Konflikte zu befreien, dessen Triebkraft das Festhalten an der ‚Politik der Lösungslosigkeit‘ ist“, sagte Buldan. „Die große Herausforderung unserer Zeit ist es, dass wir alle den dritten Weg verstehen, ihn umsetzen und leben. Denn Demokratie ist für die Türkei nicht nur ein Bedürfnis, sondern eine zwingende Notwendigkeit.“
Als „Mutter aller Konflikte“ benannte die HDP-Vorsitzende die sogenannte kurdische Frage, die es als erstes zu lösen gelte. Die in den Palästen des Regimes gültige Politik der Ignoranz und Lösungslosigkeit sei ausschließlich auf eine Vertiefung des Problems ausgerichtet und produziere immer neuere und vor allem schärfere Krisen. „Seit nunmehr hundert Jahren dauert dieser Zustand bereits an. Damit hat man ein ganzes Jahrhundert lang die Chance vertan, Frieden zu stiften“, so Buldan. „Wir haben den Rahmen eines demokratischen Systems vorgezeichnet, innerhalb dessen die notwendigen Lösungen für bestehende Probleme, allen voran die kurdische Frage und auch alle anderen gesellschaftlichen Fragen, gefunden und überwunden werden können.“ Um dieses System in die Praxis umzusetzen, sei es unabdingbar, die Isolation Abdullah Öcalans auf der Gefängnisinsel Imrali zu beenden. Der Vordenker müsse als politischer Verhandlungspartner mit am Tisch sitzen, da er der Schlüssel für die Lösung der kurdischen Frage sei.
Sancar: Ein Lösungsprozess von unten
Mithat Sancar konkretisierte die Vorstellungen über die Herangehensweise an einen Lösungsprozess in der kurdischen Frage. „Frieden ist das Gegenteil von Krieg und Feindschaft. Er ist eine unabdingbare Bedingung für die Verteidigung des Lebens gegen den gewaltsamen Tod. Wir wollen Frieden und wir wissen, dass das größte Hindernis dafür die Feindlichkeit gegen die HDP ist. Der Umgang mit der HDP und der kurdischen Politik und ihrer Vertretung gelten als Gradmesser für die Herangehensweise an Demokratie und Frieden in diesem Land. Denn wir haben Lösungen für alle Probleme.“
Die HDP schlage einen Prozess vor, in dem das Parlament im Zentrum einer demokratischen Lösung der kurdischen Frage steht, fuhr Sancar fort. „Wir wollen einen Friedensprozess, an dem möglichst alle politischen Parteien und alle Teile der Gesellschaft beteiligt sind. Es geht um einen Prozess, der von unten und durch gesellschaftlichen Konsens etabliert wird. Wir schlagen also einen Friedensprozess vor, der durch gesellschaftlichen Konsens umgesetzt wird. Warum wollen wir, dass die Nationalversammlung im Mittelpunkt steht? Sie soll Sicherheit und Transparenz schaffen. Das Parlament würde Teilhabe ermöglichen, ohne die es nicht möglich wäre, einen Friedensprozess zu einer Lösung zu bringen und dauerhaft zu machen.“
Es müssten lediglich einige wenige Schritte unternommen werden, die da wären: tatsächliche Gewährleistung, als gleichberechtigte Bürgerin oder gleichberechtigter Bürger mit allen Rechten und Pflichten zu leben; Anerkennung aller Identitäten und das Recht auf Bildung in der Muttersprache; Befürwortung der lokalen Demokratie; Wiedergutmachung von durch die Justiz verursachtem Unrecht, insbesondere im Hinblick auf politische Gerichtsverfahren und entsprechende Strafen; Ende des Raubes des politischen Willens und demokratischer Errungenschaften, wie etwa die Beendigung des „Treuhänderregimes“ in allen Bereichen, besonders in besetzten Rathäusern. „Nur das Parlament kommt als Ort in Frage, Verhandlungen zu führen, damit diese Prinzipien umgesetzt werden. Dazu braucht es aber einen starken Willen für Frieden und eine Lösung, damit die gesamte Gesellschaft diese Handlungsweisen annimmt.“
Unverzichtbare Position in der politischen Parteienlandschaft
Seit dem Jahr 2012 bestimmt die HDP das politische Geschehen in der Türkei mit. Sie sieht sich sowohl als eine Fortsetzung der traditionellen Parteien, als auch als eine Transformation dessen. Innerhalb kürzester Zeit hat sie das von den Linken hinterlassene Vakuum gefüllt und sich eine unverzichtbare Position in der politischen Parteienlandschaft der Türkei erarbeitet. Ihre Erfolge sprechen für sich. Bei den Wahlen vom 7. Juni 2015 verlor die AKP nach zwölf Jahren die absolute Mehrheit.
Doch mit dem einseitigen Abbruch der Friedensgespräche zwischen Ankara und dem PKK-Gründer Abdullah Öcalan durch Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan begann nur einen Monat nach den Wahlen ein beispielloser politischer Vernichtungsfeldzug gegen die kurdische Gesellschaft und demokratische Opposition, der Dialog, politische Diskussionen, Pluralismus und Grundrechte de facto abgeschafft hat. Bei diesem Projekt handelt es sich um ein militärisches und politisches Vernichtungskonzept, das von der HDP als eine Aktualisierung des Reformplans für den aufständischen kurdischen Osten von 1925 bezeichnet wird.
Die HDP steht noch immer im Mittelpunkt dieser Angriffe. Grundlage hierfür ist der von der AKP noch während des „Friedensprozesses“ 2014 hervorgebrachte „Çöktürme Planı“ – ein Begriff, den man sinngemäß als „Zersetzungsplan“ übersetzen kann. Weit mehr als 20.000 ihrer aktiven Mitglieder wurden seit 2015 festgenommen, mehr als die Hälfe von ihnen ist inhaftiert worden. Unter ihnen befinden sich zahlreiche Parlamentsabgeordnete, Parteifunktionäre sowie Bürgermeisterinnen und Bürgermeister. Dieser Repressionsmaschinerie hält die HDP mit gesellschaftlicher Unterstützung stand und setzt ihren Kampf für Pluralismus, Toleranz, absolute Geschlechtergleichheit, Dezentralisierung, direkte und partizipative Demokratie, Frieden, Bürgerrechte und soziale Gerechtigkeit unbeirrt fort.