Mit der einseitigen Aufkündigung des Waffenstillstands des AKP-Regimes mit der kurdischen Freiheitsbewegung im Jahr 2015 begann ein beispielloser politischer Vernichtungsfeldzug gegen die Opposition. Die Demokratische Partei der Völker (HDP) und ihrer Schwesterpartei DBP (Partei der demokratischen Regionen) standen im Mittelpunkt dieser Angriffe. Als wirksamste Waffe wird vom türkischen Staat die Ernennung von Zwangsverwaltern gegen die kommunale Selbstverwaltung eingesetzt. Schon nach dem Putschversuch im Juli 2016 waren fast alle 102 Bürgermeister der HDP und DBP abgesetzt und durch staatliche Verwalter ersetzt worden. Diese Politik der Okkupierung des politischen Willens der Bevölkerung, die von Festnahmen und Inhaftierungen begleitet wird, setzte sich auch nach den Kommunalwahlen am 31. März 2019 fort.
In diesem Jahr lief die Erdoğan‘sche Repressionsmaschine gegen die HDP sogar auf Hochtouren. Das geht aus einem aktuellen Bericht hervor, den der kommunalpolitische HDP-Sprecher Salim Kaplan Ende der Woche in Ankara vorstellte. Darin wird vor allem auf die extreme Intensität der Operationen gegen die Opposition hingewiesen. Praktisch täglich fanden Razzien und Festnahmen statt, die Gewaltenteilung wurde von der AKP/MHP-Allianz de facto aufgehoben. Die HDP kündigt an, ihren Kampf gegen die Rechtsverletzungen fortzusetzen.
Politischer Vernichtungsfeldzug
Laut der vorliegenden Bilanz sind in den letzten fünf Jahren 3695 Mitglieder und Abgeordnete der HDP inhaftiert worden. In diesem Jahr betrug allein die Zahl der festgenommenen Mitglieder und Verantwortlichen 1.750. Gegen 172 von ihnen erging Haftbefehl.
Inhaftierte Ex-Abgeordnete und ihre Haftstrafen
Selahattin Demirtaş (vier Jahre und acht Monate), Figen Yüksekdağ (ein Jahr und sechs Monate), Idris Baluken (16 Jahre und acht Monate), Çağlar Demirel (sieben Jahre und sechs Monate), Abdullah Zeydan (acht Jahre, ein Monat und 15 Tage), Gülser Yıldırım (sieben Jahre und sechs Monate), Musa Farisoğulları (neun Jahre). Zuletzt ist die ehemalige HDP-Abgeordnete und Ko-Vorsitzende des Demokratischen Gesellschaftskongresses (KCD) Leyla Güven zu 22 Jahren und drei Monaten Haft verurteilt worden.
Kobanê-Ermittlungen
Im Rahmen der sogenannten „Kobanê-Ermittlungen“, die sich auf die Proteste in der Türkei im Oktober 2014 während des IS-Angriffs auf die nordsyrische Stadt beziehen, sind Anfang Oktober siebzehn Politikerinnen und Politiker, unter ihnen vor allem HDP-Parteiratsmitglieder, verhaftet worden. Inzwischen befinden sich auf Grundlage des Verfahrens insgesamt 27 hochrangige Vertreter*innen der kurdischen Politik in Untersuchungshaft.
Zwangsverwalter in 48 Rathäusern ernannt
Von den 65 Kommunalverwaltungen, in denen die HDP im März 2019 gewonnen hatte, sind aktuell nur noch sechs übrig. In 48 Kommunen, vier von ihnen Großstädte, wurden Zwangsverwalter eingesetzt. Auch Dutzende Stadtratsmitglieder und Provinzratsmitglieder wurden abgesetzt. Von 37 verhafteten Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern sind 17 immer noch im Gefängnis. Bei diesen handelt es sich um: Adnan Selçuk Mızraklı (Amed), Melike Göksu (Erzîrom), Cihan Karaman (Colemêrg), Yıldız Çetin (Wan), Azim Yacan (Wan), Yakup Almaç (Wan), Yılmaz Şahan (Wan), Gülistan Öncü (Mêrdîn), Mülkiye Esmez (Mêrdîn), Nilüfer Elik Yılmaz (Mêrdîn), Adnan Topçu (Mûş), Yaşar Akkuş (Reşqelas), Hasan Safa (Reşqelas), Mehmet Demir (Êlih), Ayhan Bilgen (Qers) und Şevin Alaca (Qers).
AKP ist das organisierte Übel
Salim Kaplan beschreibt die Repression gegen seine Partei als „notwendige Folge des Faschismus“. Der Umgang der AKP mit der HDP sei ein Spiegelbild der Politik des Feindstrafrechts gegenüber dem kurdischen Volk, führt Kaplan weiter aus. „Die AKP wurde in ihren 18 Jahren Herrschaft zur Hölle für die Gesellschaft. Sie ist das organisierte Übel. Das, was diesem organisierten Übel im Weg steht, ist die HDP. Wenn es die HDP nicht gäbe, würde ihre Herrschaft vielleicht noch 18 weitere Jahre fortdauern können. Aber unsere Partei wird dies beenden.“
Es gehöre zum Charakter faschistischer Regime, alles jenseits ihrer selbst zu vernichten, sagt Kaplan. Aus diesem Grund seien die Zwangsverwalter in den kurdischen Städten eingesetzt und HDP-Funktionäre sowie ihre Mitglieder inhaftiert worden, so Kaplan. „Die Herrschaft der AKP entspricht der Lehrbuchdefinition des Faschismus. So lässt sich ihre Haltung zur Entscheidung der Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs gegenüber Selahattin Demirtaş erklären. Von der Einsetzung der Zwangsverwalter bis zur Inhaftierung von Leyla Güven geht es bei all diesen Maßnahmen der Regierung darum, eine politische Lösung der kurdischen Frage zu verhindern und weiter auf Vernichtung zu setzen. Die Zwangsverwalter stellen einen direkten Angriff auf den Willen des kurdischen Volkes dar. Seit 2016 wurden über 20.000 HDP-Mitglieder festgenommen, von denen mehr als 10.000 inhaftiert worden sind. Unter ihnen befinden sich tausende Personen in leitender Funktion.“
Nichts außer Angriffen anzubieten
Kaplan sagt, die AKP setze sowohl innen- als auch außenpolitisch auf Krieg. Allen Initiativen liege dieses Konzept zu Grunde. „Um seine eigene Macht zu erhalten, vertieft das Regime die Angriffe nach innen, wie auch den Krieg nach außen. Das Regime tut dies schon eine lange Zeit. Wir haben es mit einer Regierung zu tun, die nichts weiter anzubieten hat als Aggression. Deswegen greift sie im inneren die Kurden und die Opposition an und versucht außenpolitisch einen totalen Vernichtungsfeldzug gegen das kurdische Volk und seinen Willen zu führen. Die grenzüberschreitenden Operationen und Kriege werden, ohne innezuhalten fortgesetzt. Aber jetzt steht die Realität einer Türkei im Vordergrund, die ein außenpolitisches Fiasko erlebt und immer einsamer dasteht. 2021 wird sich dieser Trend fortsetzen.“
HDP wird Hoffnung der Völker bleiben
Zu den Gründen der besonders scharfen Repression der HDP erklärt Kaplan: „Wir werden wegen unseres Kampfes so heftig angegriffen an. Aber die HDP wird mit ihrer entschlossenen und kämpferischen Haltung weiter eine Hoffnung für die Völker bleiben. Diejenigen, die das kurdische Volk niederringen wollen, sind selbst am Ende. Diejenigen, welche die HDP aufzulösen versuchten, befinden sich selbst in einem Auflösungsprozess. Im Jahr 2021 wird die HDP den Ton angeben.“