Özlem Gündüz ist Vorstandsmitglied der Demokratischen Partei der Völker (HDP) und hat sich im ANF-Interview zu dem in der Türkei laufenden Verbotsverfahren gegen ihre Partei geäußert.
Das Verbotsverfahren gegen die HDP, die wichtigste Partei bei den bevorstehenden Wahlen, ist noch nicht abgeschlossen. Was erwarten Sie von dem Ausgang des Prozesses und wie wird sich die Entscheidung über das Parteiverbot auf die Wahlen auswirken?
In der Türkei ist schon seit einiger Zeit Wahlkampfstimmung zu spüren. Das Verbotsverfahrens ist zur Umsetzung der Pläne für die Wahlen eingeleitet worden. Danach verstärkten insbesondere die schwerwiegenden Auswirkungen der Wirtschaftskrise das Wahlprogramm in der Türkei. Die Tatsache, dass die HDP sowohl bei den Präsidentschafts- als auch bei den Parlamentswahlen die entscheidende Kraft ist, führt zwangsläufig dazu, dass die HDP im Mittelpunkt aller Wahlkalkulationen steht. Die Regierung und die Opposition sehen in der HDP die wichtigste Partei gegen sie.
Bei all diesen Berechnungen nimmt das Verbotsverfahren einen wichtigen Platz ein. Wer die HDP-Tradition nicht kennt und nichts von ihrer Widerstandsfähigkeit weiß, macht sein Wahlkalkül vom Ausgang des Schließungsverfahrens abhängig. Das ist ein gewaltiger Irrtum. Denn wir bereiten uns auf jede Möglichkeit so vor, dass den Menschen in der Türkei Alternativen bleiben werden. Wir wissen, dass jede Gleichung ohne die HDP und das Bündnis für Arbeit und Freiheit die Menschen in der Türkei dazu verdammt, keine Wahl zu haben. In diesem Bewusstsein wird das Bündnis für Arbeit und Freiheit unabhängig vom Urteil im Verbotsverfahren eine Schlüsselrolle spielen, die die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen direkt beeinflussen wird. Wir haben in dieser Hinsicht keine Zweifel oder Fragezeichen.
In der Gesellschaft gibt es den Gedanken, dass der Prozess gegen die HDP in die Länge gezogen wird, um Zeit zu gewinnen. Was glauben Sie, was der AKP/MHP-Block in Anbetracht des Wahlkalküls der Regierung mit der Schließung der HDP erreichen will?
Die AKP/MHP-Koalition setzt seit langem alle möglichen Pläne und Praktiken in die Tat um, um die HDP aus der Politik zu drängen. Die Koalition weiß sehr genau, dass das Gegenmittel zum Totalitarismus die Demokratie ist und dass die radikaldemokratische Linie der HDP alle ihre Spiele verderben wird. Deshalb intensiviert sie ihre Maßnahmen, um die HDP aus der Politik zu drängen. Eines der jüngsten Beispiele dafür ist das Verbotsverfahren. Es ist eines der Beispiele für die Gesetzlosigkeit, die die AKP/MHP-Koalition in die Praxis umgesetzt hat, um die Wahlen zu gewinnen. Ziel dieses Bündnisses ist es, sowohl die Wahlen zu gewinnen als auch mit der systemimmanenten Opposition allein gelassen zu werden, indem die HDP aus der Politik gedrängt wird. Es will die Möglichkeit einer echten Alternative für die Gesellschaft der Türkei zerstören.
Wir sind uns der Ziele des AKP/MHP-Bündnisses in Bezug auf die Wahlen bewusst, die hinsichtlich des Verbotsverfahrens diskutiert werden. In diesem Zusammenhang sind wir auf jedes Szenario vorbereitet. Die Justiz wird von der AKP/MHP-Regierung instrumentalisiert und das HDP-Verbotsverfahren ist ein politischer Schachzug gegen die demokratische Politik. Wir setzen unsere Arbeit so fort, dass dieser Schritt vereitelt wird.
Haben Sie einen Plan B für den Fall, dass die HDP geschlossen wird und ihre Politikerinnen und Politiker ein Betätigungsverbot bekommen?
Wir haben die Klage auf Schließung der HDP seit dem Tag, an dem sie eingereicht wurde, nicht mehr auf unsere Tagesordnung gesetzt. Natürlich haben wir alle möglichen rechtlichen Vorbereitungen getroffen, aber dieser Rechtsstreit hat unseren Arbeitsstil und unser Arbeitstempo nie beeinträchtigt. Der Grund dafür ist, dass die HDP eine Idee verkörpert, eine Hoffnung für die Zukunft, die das Heute und das Morgen aufbaut. Wo konnte jemals eine Idee verboten werden? Das ist anscheinend nicht begriffen worden. Die AKP/MHP-Regierung wollte unsere Energie durch dieses Verfahren reduzieren und uns in dieser Agenda untergehen lassen. Das konnten und wollten wir nicht zulassen. Es ist allgemein bekannt, dass in einem Land, in dem es keine Gerechtigkeit gibt und die Justiz vollständig unter dem Befehl einer einzigen Person steht, ein Parteiausschlussverfahren nicht juristisch, sondern politisch ist. Da wir wissen, dass die politische Macht ihre Entscheidungen auf der Grundlage der Konjunktur und nicht auf der Grundlage fester Rechtsgrundsätze und konkreter Beweise treffen wird, werden wir unsere Arbeit nicht beiseite legen und wie ein Opferlamm warten. Heute kann sich die Regierung mit der Macht des Staates, mit dem juristischen Knüppel in der Hand, gegen unsere Partei wenden und die Sache mit der Schließung beenden. Darauf haben wir uns vorbereitet. Als diejenigen, die aus einer jahrelangen Kampf- und Widerstandstradition kommen, haben wir nicht nur einen, sondern mehr als einen Plan für jeden möglichen Schritt der Regierung gemacht. Wenn gegen eine Person ein politisches Verbot verhängt wird, werden wir mit zehn oder hundert Personen kommen. Es gibt eine politische Realität der Menschen. Wir sind das Bündnis des dritten Weges und wir werden die Bevölkerung unter keinen Umständen ohne Wahl lassen. Wir werden dieses Land nicht dem Faschismus ausliefern. Wir sind auf jede Situation vorbereitet. Die Menschen können beruhigt sein.
Es ist bekannt, dass alle Praktiken, die seit sieben Jahren andauern, von der Isolierung bis hin zu politischen Morden, in dem auf der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats (MGK) im Oktober 2014 angenommenen ,Zusammenbruchplan' vorgesehen waren. Sehen Sie die Schließung des HDP als Teil dieses Plans?
Es ist richtig, dass das Konzept der Angriffe auf Kurdinnen und Kurden und demokratische Kräfte, einschließlich der aktuellen Angriffswelle, im Rahmen des 2014 auf der MGK-Sitzung verabschiedeten Plans entwickelt wurde. Die Fortsetzung des unmenschlichen und rechtswidrigen Regimes der Totalisolation, das Abdullah Öcalan auf Imrali auferlegt wurde, die Zerstörung von Städten, die Verhaftung oder Verbannung von Politikerinnen und Politikern einschließlich Abgeordneten, die Ernennung von Zwangsverwaltern für Gemeinden, die Verschwörung im Kobanê-Prozess, die Angriffe gegen unsere Partei und das angewandte Feindstrafrecht können als Teil dieses langfristigen Plans gelesen werden. Mit der Isolation von Imrali ist der Frieden verpfändet worden. Nicht nur die Türkei, sondern auch der Nahe Osten zahlt den Preis dafür. In der Türkei wird Demokratie verzweifelt gesucht. Einer der wichtigsten Gründe für diese schlechte Situation sind die Isolation und die ungelöste kurdische Frage. Zugleich gibt es eine Volksbewegung. Der Plan gegen eine Bewegung, die nicht zögert, den Preis zu zahlen, und in der es Menschen gibt, die den Kampf für die Demokratie unter Einsatz ihres Lebens führen, ist gescheitert. Sie träumten davon, alles zu ersticken, zu verbrauchen, zu beenden und dann eine lange Stille zu haben, aber sie stießen in allen Bereichen auf einen epischen Widerstand. Ja, wir hatten in diesem Prozess auch Unzulänglichkeiten bei der Entwicklung des Kampfes, aber wir haben uns nie gebeugt und niedergekniet. Während sie versucht haben, uns klein zu machen, haben wir uns als Bündnis für Arbeit und Freiheit für den Aufbau einer demokratischen Türkei eingesetzt. Wir werden einen demokratischen Wandel herbeiführen.
Welche Art von neuer Ära wird für die kurdische Frage im Falle eines Verbots der HDP entstehen?
Die kurdische Frage ist das wichtigste Problem. Sie hat eine historische, politische und wirtschaftliche Dimension und heizt die Instabilität im Nahen Osten an. Das Beharren auf der Unlösbarkeit der kurdischen Frage ist eine Einladung zu großen Problemen sowohl für die Völker der Türkei als auch des Nahen Ostens. Die Schließung der HDP sollte als ein Beharren auf der Unlösbarkeit der kurdischen Frage verstanden werden, da die HDP eines der wichtigsten Subjekte bei der Lösung der kurdischen Frage ist. Natürlich ist sie nicht der einzige Faktor, aber sie ist ein wichtiges politisches Thema für die Verwirklichung der Lösung. Es sollte auch festgehalten werden, dass die Schließung der HDP oder jegliche totalitäre Intervention uns im Kampf für die Lösung der kurdischen Frage nicht einen Schritt zurückwerfen kann. Das haben wir in der Vergangenheit schon oft erlebt: Diejenigen, die die Parteien geschlossen haben, sind geschrumpft, wir sind gewachsen und werden weiter wachsen.
Es gibt auch einen historischen Hintergrund für die Schließung. Die HDP hat eine politische und soziale Lebensperspektive, die die Codes des vor 100 Jahren errichteten monistischen und leugnerischen Regimes bedroht. In dieser Hinsicht wird das Verbotsverfahren zum Schauplatz einer historischen Auseinandersetzung. Dieser Prozess ist der Schauplatz der Abrechnung zwischen den Verteidigern der monistischen, leugnenden und assimilierenden Republik und den Verteidigern der demokratischen Republik. Wie auch immer das Verfahren ausgeht, wir werden unsere Entschlossenheit, das zweite Jahrhundert mit einer demokratischen Republik zu krönen, nicht aufgeben.