Das türkische Parlament hat der Abgeordneten Semra Güzel von der Demokratischen Partei der Völker (HDP) das Mandat in der Nationalversammlung entzogen. Grund sei die anhaltende Abwesenheit der kurdischen Politikerin, so die offizielle Begründung. Güzel befindet sich seit Anfang September unter sogenannten Terrorvorwürfen in einem Gefängnis im Westen der Türkei. Die Staatsanwaltschaft fordert bis zu fünfzehn Jahre Haft für die 38-Jährige.
330 von 372 anwesenden Parlamentsmitgliedern votierten am Donnerstag für den Mandatsentzug, unter den Gegenstimmen waren auch 16 Abgeordnete der Republikanischen Volkspartei (CHP). Videos aus der türkischen Nationalversammlung zeigten die HDP-Fraktion, die lautstark protestierte. „Semra Güzel repräsentiert den Willen des Volkes“, riefen die Abgeordneten und zeigten Bilder der Politikerin. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Saruhan Oluç bezeichnete den Mandatsentzug als politische Entscheidung und warf der islamistischen AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, der mit ihr verbündeten ultranationalistischen MHP sowie der neofaschistischen MHP-Abspaltung Iyi-Partei vor, demokratiefeindlich und „wahrhaft putschistisch“ zu sein.
„Sie wollen nicht politisch kämpfen, sondern mit der ‚Rute der Justiz‘, die sie kontrollieren, einen Kampf gegen die demokratische Politik führen. Es ist einer von vielen jämmerlichen Versuchen, die HDP auf diese Weise bändigen zu wollen“, so Oluç. Der HDP-Abgeordnete Ömer Öcalan sagte, die Aberkennung des Mandats von Güzel sei die Fortführung einer Abrechnungspolitik gegen die HDP und ihre zu einem erheblichen Teil kurdische Wählerschaft. „Wir kennen diese Mentalität noch aus den 1990er Jahren, als die systematische Verleugnungs- und Assimilationspolitik dieses Staates gegenüber Kurdinnen und Kurden auf dem Höhepunkt war. Mit dem Mandatsentzug zeigt die antikurdische Staatspolitik eine neue Qualität ihrer Eskalationsbereitschaft.” Die HDP-Fraktion verließ nach dem Beschluss geschlossen den Sitzungssaal.
Die Immunität von Güzel war bereits im März aufgehoben worden, um Ermittlungen der Oberstaatsanwaltschaft Ankara samt Fahndungsausschreibung zu ermöglichen. Die Vorarbeit hierzu leistete eine medial aufwendige und im türkischen Innenministerium gelenkte Diffamierungskampagne in regierungsnahen Blättern. Ausgangspunkt sind Fotos, die Güzel mit ihrem früheren Verlobten, dem Guerillakämpfer Volkan Bora zeigen. Die Aufnahmen waren 2014 in einem südkurdischen Guerillacamp entstanden, als eine Delegation der HDP im Rahmen des Friedensprozesses mit staatlichem Wissen die PKK besuchte, um weitere Schritte zur Deeskalation zu besprechen. Entdeckt wurden sie erst drei Jahre später auf dem Handy von Bora – kurz nach dessen Tod durch einen Luftangriff. Die Bilder wurden damals als Beweismittel in eine vertrauliche Prozessakte aufgenommen. Gegen Güzel, die bis zu ihrer Wahl ins Parlament 2018 in Amed (tr. Diyarbakır) als Ärztin arbeitete und als Ko-Vorsitzende der örtlichen Ärztekammer fungierte, wurde wegen den Fotos nicht ermittelt.
Seit Anfang der Woche muss sich Semra Güzel nun wegen dem Vorwurf der „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ vor einem Gericht in Ankara verantworten. Die Anklage beschuldigt die Kurdin in ihrer 58 Seiten starken Anklageschrift, Teil der „Hierarchie“ innerhalb der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu sein. Als „Beweise“ für den Vorwurf gelten die Fotos mit Bora sowie Aussagen, die ein anonym gehaltener Belastungszeuge mit dem Decknamen „Ezel“ geliefert haben soll. Er hätte Güzel bereits im August 2018, nur wenige Wochen nach der Parlamentswahl in der Türkei, im Rahmen einer staatsanwaltlichen Befragung auf der Antiterrorzentrale der Polizei Diyarbakır auf Fotos als „Aktivistin“ der kurdischen Frauenbewegung TJA sowie des Graswurzelbündnisses KCD erkannt. Beide Organisationen sind in der Türkei legal, dennoch werden sie als „PKK-Struktur“ behandelt und kriminalisiert.
Der Auftakt im Prozess gegen Güzel, der vor der 22. Großen Strafkammer zu Ankara verhandelt wird, war am Montag und begann mit Verlesung der Anklageschrift. Die Politikerin wies die Anschuldigen der Staatsanwaltschaft zurück und bezeichnete das Verfahren als „Komplott”. Ein Antrag ihrer Verteidigung auf Aufhebung des Haftbefehls wurde abgelehnt. Das Gericht ordnete die Ladung des Zeugen „Ezel” an und setzte die zweite Hauptverhandlung für den 20. Februar 2023 fest.