Hintergrundinformationen zum Verbotsverfahren gegen die HDP

Die HDP informiert über den Hintergrund des Verbotsverfahrens gegen die Partei und fordert die internationale Gemeinschaft auf, eine prinzipielle Haltung einzunehmen und „gegen diese erbärmlichen politischen Schritte der AKP-Regierung“ vorzugehen.

Die außenpolitischen Sprecher*innen der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Feleknas Uca und Hişyar Özsoy haben eine Informationsschrift zu dem Verbotsverfahren gegen ihre Partei herausgegeben:

Am 17. März 2021 wurde in der Plenarsitzung des Parlaments das endgültige Urteil gegen den HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu verlesen und ihm der Status als Abgeordneter aberkannt. Wenige Stunden später wurde bekannt, dass der Generalstaatsanwalt des Kassationsgerichts eine Klage beim Verfassungsgericht eingereicht hat, um die HDP gänzlich zu verbieten. Diese Angriffe gegen die HDP kamen kurz nachdem Präsident Erdoğan einen neuen Aktionsplan für Menschenrechte verkündet hatte, der als Reform im Bereich Recht und Menschenrechte beworben wurde.

Juristisches Verfahren nach Aufruf von MHP-Chef

Am 2. März 2021 leitete der Generalstaatsanwalt des Kassationsgerichtshofs eine Untersuchung gegen die HDP ein, und zwar im Zusammenhang mit der Anklage gegen neun HDP-Abgeordnete wegen der ,Kobanê-Proteste' im Oktober 2014. Zwei Wochen später erklärte der Staatsanwalt in der Anklageschrift, dass die HDP durch die Handlungen und Aussagen ihrer Mitglieder versucht habe, ,die unteilbare Integrität des türkischen Staates mit seiner Nation zu zerstören und zu beseitigen'. Es ist wichtig anzumerken, dass sowohl die Ermittlungen als auch die Abschlussklage nach wiederholten Aufrufen von Devlet Bahçeli, dem Vorsitzenden der Regierungskoalitionspartei MHP, an die hohen Gerichte der Türkei kamen.

Parteiverbote sind in der Türkei nicht außergewöhnlich

In der Türkei ist die Schließung von politischen Parteien, insbesondere von pro-kurdischen Parteien, historisch nicht außergewöhnlich. Bislang hat das Verfassungsgericht sechs pro-kurdische politische Parteien verboten. Die erste, die Partei der Arbeit des Volkes (HEP), wurde am 7. Juni 1990 gegründet. Die HEP schloss sich bei den türkischen Parlamentswahlen 1991 der Sozialdemokratischen Partei (SHP) an und errang 22 Sitze in der Großen Türkischen Versammlung. Im Juli 1993 verbot das Verfassungsgericht die HEP. Nach ihrem Verbot wurde im Mai 1993 die Partei für Freiheit und Demokratie (ÖZDEP) gegründet. Am 23. November 1993 wurde auch die ÖZDEP verboten. Ihre Nachfolge trat die Demokratische Arbeiterpartei (DEP) an. Im März 1994 hob das türkische Parlament die Immunität von sechs DEP-Abgeordneten auf, sie wurden später wegen Terrorvorwürfen zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Am 16. Juni 1994 verbot das Verfassungsgericht die DEP. Daraufhin wurde am 11. Mai 1994 die Partei der Volksdemokratie (HADEP) gegründet. Bei den Kommunalwahlen 1999 gewann die HADEP 37 Gemeinden in der gesamten kurdischen Region, darunter sieben kurdische Großstädte. Doch im März 2003 verbot das türkische Verfassungsgericht auch die HADEP. Am 9. November 2005 wurde die Partei der Demokratischen Gesellschaft (DTP) gegründet. Ihre Kandidaten traten bei den Parlamentswahlen 2007 unabhängig an und sie errang 22 Sitze im türkischen Parlament. Bei den Kommunalwahlen 2009 gewann die DTP die Bürgermeisterämter in über 100 Städten und Gemeinden in der kurdischen Region. Das türkische Verfassungsgericht verbot die Partei am 11. Dezember 2009.

HDP als Erbin einer Geschichte von Schikanen und Verboten

Wie man sieht, hat die HDP eine Geschichte von Schikanen und Schließungen geerbt, und obwohl Präsident Erdoğan in der Vergangenheit mehrmals behauptet hatte, er sei gegen die Schließung politischer Parteien, hat seine AKP die repressive Politik der Türkei gegen die Kurden und andere Minderheiten übernommen. Die HDP stand bereits unter starkem politischen Druck seitens der Regierung. Und jetzt stehen wir vor einem weiteren schändlichen Versuch, eine politische Partei zu beseitigen.

Vorgeschichte des HDP-Verbotsverfahrens

Diese jüngste Phase intensiver Angriffe begann mit der Beendigung des kurdischen Friedensprozesses durch die türkische Regierung im Jahr 2015 und verschärfte sich unter der Notstandsregierung im Jahr 2016, als unsere ehemaligen Ko-Vorsitzenden, Herr Selahattin Demirtaş und Frau Figen Yüksekdağ, zusammen mit mehreren anderen Abgeordneten verhaftet wurden. (Der Fall gegen Herrn Demirtaş wurde kürzlich von der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abgeschlossen. Die Kammer entschied für seine sofortige Freilassung - ein Urteil, das die türkische Regierung bisher nicht vollstreckt hat.) Der Angriff wurde mit der Verhaftung weiterer Abgeordneter und der Aberkennung des Parlamentsmandats von elf HDP-Abgeordneten fortgesetzt. Seitdem wurden Tausende von HDP-Mitgliedern verhaftet und es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht weitere Personen auf die Liste gesetzt werden. Auch lokale Regierungsvertreter haben ihren Anteil an diesen Angriffen. Im Jahr 2016 wurden fast einhundert kurdische Gemeinden usurpiert und von der Regierung ernannten Beamten übernommen, und viele der kurdischen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister wurden verhaftet.

Fortsetzung der Kolonialpolitik nach den Kommunalwahlen von 2019

Die türkische Regierung setzte diese Kolonialpolitik über kurdische Städte und Gemeinden auch nach den Kommunalwahlen vom 31. März 2019 fort. Bislang wurden in 48 von 65 HDP-geführten Kommunen die gewählten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister durch ernannte Sachwalter ersetzt. Sechs weiteren Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern der HDP wurden nach ihrem Wahlsieg die Wahlurkunden mit der Begründung verweigert, dass sie zuvor durch Notstandsdekrete aus ihren Ämtern entlassen worden seien. Heute sind noch 14 kurdische Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, die im März 2019 gewählt wurden, und mehrere Bürgermeister, die 2014 gewählt wurden, hinter Gittern.

Die HDP ist mehr als eine formale politische Einheit

Die HDP ist mehr als nur ein paar Gebäude und eine formale politische Einheit. Wir repräsentieren eine vielfältige politische Geschichte und eine mächtige Soziologie der vielfältigen Kämpfe um Anerkennung und Gerechtigkeit. Wir versichern Ihnen, dass die historischen Kämpfe und politischen Traditionen, auf denen die HDP in erster Linie gegründet wurde, die türkische und kurdische Politik weiterhin tiefgreifend beeinflussen werden, hin zu einer echten demokratischen Transformation des Landes, auch wenn die HDP diesen Ansturm als politische Einheit vielleicht nicht überleben wird.

Aufruf an die internationale Gemeinschaft

Die Unterdrückung der HDP und anderer demokratischer Kräfte durch die Regierung wird sich in den kommenden Monaten sicherlich verschärfen, dasselbe gilt für unseren Kampf. Wir fordern hiermit erneut die internationale demokratische Gemeinschaft auf, eine prinzipielle Haltung einzunehmen, die internationale Solidarität weiter zu stärken und gegen diese erbärmlichen politischen Schritte der AKP-Regierung zu handeln, die HDP zu verbieten und den Willen von Millionen von Menschen zu verleugnen.