HDP-Fraktion hält Gerechtigkeitswache im Parlament ab
Der HDP-Abgeordnete Ömer Faruk Gergerlioğlu harrt seit dem gestrigen Mandantsentzug weiter im Parlament in Ankara aus. Beim Verlassen des Gebäudes droht ihm die sofortige Verhaftung.
Der HDP-Abgeordnete Ömer Faruk Gergerlioğlu harrt seit dem gestrigen Mandantsentzug weiter im Parlament in Ankara aus. Beim Verlassen des Gebäudes droht ihm die sofortige Verhaftung.
Nach dem Mandatsentzug des Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu am Mittwoch hat die Fraktion der Demokratischen Partei der Völker (HDP) eine „Gerechtigkeitswache“ im türkischen Parlament in Ankara gestartet. Gergerlioğlu und weitere Fraktionsmitglieder halten sich im Sitzungssaal der HDP auf. Dem Abgeordneten droht beim Verlassen des Gebäudes die sofortige Verhaftung, obwohl das Verfahren gegen ihn noch beim Verfassungsgericht anhängig ist.
Die HDP-Fraktion hatte nach dem Verlesen des Gerichtsurteils im Parlament, mit dem Gergerlioğlu das Abgeordnetenmandat entzogen wurde, zunächst stundenlang im Plenarsaal protestiert und war am Abend in ihren Sitzungsraum umgezogen. Gergerlioğlu war für den Fall seiner Festnahme bereits mit einer gepackten Tasche ins Parlament gekommen. Am Donnerstagmorgen kündigte der 55-Jährige an, seinen Widerstand gegen das unrechtmäßige Vorgehen gegen ihn fortzusetzen. Er habe keine Straftat begangen und betrachte sich weiterhin als gewählter Abgeordneter: „Das Parlamentspräsidium hat die Verfassung und den Immunitätsgrundsatz verletzt. Ich fühle mich immer noch wie ein Abgeordneter.“
Hintergrund der Verurteilung von Gergerlioğlu
Grundlage der Anklage gegen Gergerlioğlu war zunächst eine Friedensbotschaft. Der Politiker, der von Beruf eigentlich Arzt und Spezialist für Lungenkrankheiten ist, engagierte sich nach den einseitig von der türkischen Regierung beendeten Friedensverhandlungen mit der kurdischen Bewegung im Jahr 2015 für die Friedensplattform in Kocaeli. Bei den Social-Media-Konten der Initiative veröffentlichte Gergerlioğlu nahezu täglich Friedensbotschaften, so auch am 9. Oktober 2016. An diesem Tag postete er ein Foto, das eine gestellte Szene während einer Veranstaltung zum Weltfriedenstag 2015 zeigte: zu sehen sind mehrere Frauen und im Vordergrund zwei Särge. Im einen ein türkischer Soldat, im anderen ein PKK-Kämpfer, die durch entsprechende Fahnen auf den Särgen zu erkennen sind. Unter das Bild schrieb Gergerlioğlu: „Dieser Krieg erschöpft die Gesellschaft. Ein Kind geht zur Armee, ein anderes zur PKK, beide sterben. Wäre es nicht besser, die beiden würden nicht als Leichen nebeneinander liegen, sondern gleichberechtigt leben, Schulter an Schulter?“
Daraufhin geriet Gergerlioğlu auf den Radar rechter Journalisten und Politiker, die eine Hetzkampagne gegen ihn anzettelten. In derselben Woche wurde ein Verfahren gegen den Arzt eröffnet, anschließend folgte die Aussetzung seines Beamtenstatus, die in eine Entlassung per Notstandsdekret mündete. Im Verlauf des 2017 angestrengten Ermittlungsverfahrens tauchten schließlich weitere „Beweise“ gegen den 55-Jährigen auf: Die Staatsanwaltschaft überprüfte rückwirkend für ein halbes Jahr die Artikel Gergerlioğlus, die er damals für die Onlinezeitung T24 geschrieben hatte, und ließ unter anderem ein Zitat („Wenn der Staat einen Schritt auf uns zugehen würde, käme schon in einem Monat Frieden“) aus einer PKK-Erklärung mit in die Anklage einfließen. Obwohl es sich nachweislich nicht um eine Aussage des Politikers handelte, wurde sie dennoch als Terrorpropaganda gewertet. Ebenso eine Kolumne mit dem Titel „Frieden für Kolumbien – Warum geht das nicht auch in der Türkei?“. Im Januar 2019 wurde der Politiker zu zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Das Urteil ist im Februar dieses Jahres vom Kassationsgerichtshof bestätigt worden.