Im Verbotsverfahren gegen die Demokratische Partei der Völker (HDP) in der Türkei wird der Generalstaatsanwalt des Kassationsgerichts die Anklage gegen die Partei am Dienstag mündlich vortragen. Eine Gruppe von zehn internationalen und lokalen Nichtregierungsorganisationen, darunter das Turkey Human Rights Litigation Support Project, bezeichnet die Bestrebungen, die zweitgrößte Oppositionspartei im türkischen Parlament vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zu verbieten, als jüngste Entwicklung „einer äußerst problematischen Praxis in der Türkei, die Schließung politischer Parteien zu erzwingen“. Frühere Versuche hätten das Recht auf Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit sowie auf freie und faire Wahlen verletzt, erklärte die Gruppe schriftlich im Vorfeld der weiteren Entwicklung im Verfahren vor dem türkischen Verfassungsgericht.
Die HDP hat derzeit 56 Abgeordnete in der türkischen Nationalversammlung. In der Anklageschrift gegen die Partei wird gefordert, 451 Politiker:innen und Parteimitglieder für einen Zeitraum von fünf Jahren von der organisierten politischen Tätigkeit oder der Mitgliedschaft in politischen Parteien auszuschließen und das Vermögen der Partei einzuziehen. Am 5. Januar stimmte das Verfassungsgericht einem Antrag des Chefanklägers des Kassationsgerichts zu, die Bankkonten der Partei einzufrieren, auf denen sich Finanzmittel befinden, auf die die Fraktionen im Parlament Anspruch haben. Am 10. Januar soll der Chefankläger dem Verfassungsgericht die Anklage gegen die Partei mündlich vortragen, worauf die HDP zu einem späteren Zeitpunkt antworten wird, bevor das Gericht zu einer Beratung zusammenkommt und dann eine endgültige Entscheidung trifft.
Die zehn Organisationen haben am 11. Oktober 2022 eine Drittintervention beim Verfassungsgericht eingereicht, in der sie argumentierten, dass die willkürliche Schließung politischer Parteien gegen zahlreiche Rechte verstößt.
Philip Leach: Es geht um Kernprinzipien der Demokratie
„Das Völkerrecht garantiert die Rechte politischer Parteien im Rahmen der Vereinigungs-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit und betrachtet das Recht eines jeden Bürgers, sich an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen, zu wählen und sich zur Wahl zu stellen, als Kernprinzipien der Demokratie", sagte Philip Leach vom Turkey Human Rights Litigation Support Project. „Der Fall vor dem türkischen Verfassungsgericht, der die mögliche Schließung der Demokratischen Partei der Völker betrifft, ist ein grundlegender Test dafür, ob sich das Gericht an internationales Recht halten und demokratische Normen respektieren wird. Die Schließung einer politischen Partei ohne zwingende Gründe verletzt zahlreiche Rechte und ist ein Angriff auf die Demokratie."
„Organische Verbindung zwischen HDP und PKK/KCK“
Das Verfahren vor dem Verfassungsgericht stützt sich auf eine 834-seitige Anklageschrift vom 7. Juni 2021, in der vor allem behauptet wird, dass die Aktivitäten der HDP im Einklang mit den Zielen der Arbeiterpartei Kurdistans und der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (PKK/KCK) stehen. Der Anklageschrift zufolge besteht eine „organische" Verbindung zwischen der PKK/KCK und den Aktivitäten der HDP, die nach Ansicht des Staatsanwalts den Separatismus unterstützen, da sie „im Widerspruch zur unteilbaren Integrität des Staates mit seinem Territorium und seiner Nation" stehen, was einen Verstoß gegen Artikel 68/4 der türkischen Verfassung und Bestimmungen des Parteiengesetzes darstellt. In der Anklageschrift werden die Mitglieder, Unterorganisationen und Organe der Partei beschuldigt, an der Begehung solcher Verbrechen beteiligt gewesen zu sein, zu deren Begehung ermutigt zu haben oder diese Verbrechen und diejenigen, die sie begangen haben, gelobt zu haben.
Lange Geschichte von Parteiverboten in der Türkei
Die Nichtregierungsorganisationen argumentierten in ihrer Intervention von dritter Seite, dass das Verfahren gegen die HDP im Zusammenhang mit der langen Geschichte von Parteiverboten in der Türkei gesehen werden sollte, die in krassem Gegensatz zur Praxis in anderen Mitgliedstaaten des Europarats steht und wiederholt als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention gewertet wurde.
Seit 1982 hat das türkische Verfassungsgericht in 40 Fällen die Auflösung von 19 politischen Parteien angeordnet. In den meisten Fällen handelte es sich um Parteien, die die Interessen der Kurd:innen in der Türkei vertreten, oder um linke Parteien. Der Hauptanklagepunkt war das vage und weit gefasste Verbot, „in Konflikt mit der unteilbaren Integrität des Staates, seines Territoriums und seiner Nation" zu handeln. Drei Parteien wurden mit der ebenso vagen Begründung geschlossen, sie würden „gegen die Grundsätze der demokratischen und säkularen Republik" verstoßen. Im Jahr 2008 entging die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) von Präsident Erdogan selbst nur knapp einem Parteiverbot mit der letztgenannten Begründung.
EGMR stellt Verstoß gegen Menschenrechtskonvention fest
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in sechs von sieben der von ihm untersuchten Fälle aus der Türkei festgestellt, dass die Parteiverbote gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen.
In seiner Rechtsprechung, die sich im Wesentlichen aus seinen Urteilen zu diesen Fällen entwickelt hat, betrachtet der EGMR Einschränkungen oder Schließungen von politischen Parteien als außergewöhnliche und extreme Maßnahmen. Die Kriterien des Gerichts für die Prüfung der Vereinbarkeit einer Entscheidung über die Schließung einer Partei mit der Europäischen Menschenrechtskonvention beruhen auf drei Grundsätzen. Das Gericht prüft, ob die Schließung gesetzlich vorgeschrieben ist, ob sie ein legitimes Ziel verfolgt und ob sie in einer demokratischen Gesellschaft notwendig und verhältnismäßig ist.
Die NGOs betonten in ihrer Eingabe, dass in allen Fällen von Parteien, die die Interessen von Kurd:innen vertreten, die dem EGMR vorgelegt wurden, das Gericht feststellte, dass das friedliche Eintreten für das Recht auf Selbstbestimmung und die Anerkennung der kurdischen Sprachrechte oder der kurdischen Identität selbst nicht gegen die Grundprinzipien der Demokratie verstößt und dass die Schließung von Parteien das Recht auf Vereinigung verletzt. Der EGMR stellte fest, dass in den meisten Fällen nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Auflösung dieser Parteien „einem dringenden sozialen Bedürfnis" entsprach.
Öztürk Türkdoğan: Parteiverbot erstickt den Pluralismus
„Das Verfassungsgericht sollte den vorliegenden Fall gegen die HDP im Lichte der wiederholten Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte betrachten, in denen festgestellt wurde, dass die Schließung politischer Parteien in der Türkei - insbesondere derjenigen, die die Interessen kurdischer Wähler vertreten - gegen die Grundrechte verstößt", so Öztürk Türkdoğan vom Menschenrechtsverein IHD. „Die extreme Maßnahme der Schließung einer politischen Partei dient dazu, den Pluralismus zu ersticken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken, die den Kern des Konzepts einer demokratischen Gesellschaft ausmacht."
Die NGOs untersuchen auch die jüngsten Feststellungen des EGMR in Fällen, die HDP-Mitglieder betreffen, ein Muster des Missbrauchs von Strafverfahren, um vermeintliche Regierungsgegner und Kritiker zum Schweigen zu bringen, und die Beweise dafür, dass die türkische Regierung systematisch in das Justizwesen eingreift.
Die zehn Organisationen
Die Organisationen, die die Drittintervention beim Verfassungsgericht eingereicht haben, sind Turkey Human Rights Litigation Support Project (TLSP), ARTICLE 19, Vereinigung der Rechtsanwälte für die Freiheit (ÖHD), Europäische Vereinigung der Rechtsanwälte für Demokratie und Menschenrechte (ELDH), European Democratic Lawyers (AED), Menschenrechtsverein IHD, Human Rights Watch (HRW), International Commission of Jurists (ICJ), International Federation for Human Rights (FIDH) und Rights Initiative Association.