Die Türkei hat vor fünf Jahren den Kanton Efrîn in Rojava besetzt. Zwei Tage nach Beginn der Invasion am 20. Januar 2018 machte der türkische Staat vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen geltend, dass die Militäroffensive im Rahmen des in Artikel 51 der UN-Charta festgelegten Rechts auf Selbstverteidigung durchgeführt werde. Die AKP/MHP-Regierung behauptete, dass die Grenzen der Türkei durch Angriffe aus Syrien bedroht seien.
Obwohl inzwischen fast fünf Jahre vergangen sind, ist auf internationaler Ebene bis heute nicht abschließend untersucht worden, ob die türkische Berufung auf das Selbstverteidigung zutrifft. Die Linksabgeordnete Sevim Dağdelen hat das Thema deshalb erneut in den Bundestag eingebracht und nachgefragt:
„Hat die Bundesregierung nach bald fünf Jahren eine rechtliche Bewertung vorgenommen, ob sich das NATO-Mitglied Türkei bei der am 20. Januar 2018 unter dem Codenamen ,Operation Olivenzweig' gestarteten Militäroffensive im Norden Syriens um die Stadt Afrin auf das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffs i.S.d. Artikels 51 der VN-Charta gegenüber dem Staat Syrien berufen kann (siehe Bundestagsdrucksache 19/1492), und wenn nein, warum nicht (bitte begründen), und wenn ja, ist sie zu dem Ergebnis gekommen, dass dieser einen Bruch des Völkerrechts darstellt bzw. als ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg zu werten ist, und wenn letzteres bejaht wird, welche Schlussfolgerungen zieht sie daraus vor dem Hintergrund der jüngsten Angriffe der türkischen Luftwaffe auf Ziele im Norden Syriens in Vorbereitung auf eine Bodenoffensive des NATO-Mitglieds im Nachbarland, und wenn letzteres verneint wird, warum (bitte begründen)?“
„Die Bundesregierung verfügt nicht über das nötige Lagebild“
Wie aus der Antwort hervorgeht, weicht die Bundesregierung weiterhin einer Bewertung der türkischen Invasion als Völkerrechtsbruch aus und stellt sich damit faktisch hinter die Besatzung von Efrîn. In der Antwort des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, Andreas Michaelis, vom 3. Januar heißt es:
„Die Bundesregierung verfügt weiterhin nicht über das zur abschließenden völkerrechtlichen Einordnung des türkischen Vorgehens in der nordsyrischen Region Afrin nötige Lagebild. Die Bundesregierung hat sich wiederholt kritisch zur fortgesetzten türkischen Präsenz in Nordsyrien geäußert und die Türkei aufgefordert, das humanitäre Völkerrecht, insbesondere die Verpflichtungen zum Schutz der Zivilbevölkerung, zu achten und ihre Militärpräsenz in Nordsyrien so rasch wie möglich zu beenden.“
Sevim Dagdelen ist empört. „Die Ampel bleibt ihrer Doppelmoral treu, wenn sie auch nach fünf Jahren den Angriffskrieg des NATO-Partners Türkei in Syrien nicht als völkerrechtswidrig verurteilt“, kritisierte die Abgeordnete. Bei dieser Bundesregierung verkomme das Völkerrecht zum „Steinbruch bloßer Geopolitik“.
„Völkerrechtlich sind alle Kriterien einer militärischen Besatzung erfüllt“
Anders als die Bundesregierung, die sich noch nie ernsthaft zu dem Angriff auf Efrîn und den von der Türkei und ihren Söldnertruppen begangenen Verbrechen geäußert hat, haben die Wissenschaftlichen Dienste (WD) des Bundestags mehrfach Völkerrechtsverstöße festgestellt. In einer von der Linksfraktion in Auftrag gegebenen Sachstandsfeststellung „zur völkerrechtlichen Einordnung der türkischen Militärpräsenz in Nordsyrien“ hielten die WD Ende 2018 fest: „Bei Lichte betrachtet erfüllt die türkische Militärpräsenz in der nordsyrischen Region Afrin sowie in der Region um Asas, al-Bab und Dscharablus im Norden Syriens völkerrechtlich alle Kriterien einer militärischen Besatzung.“
Die Wissenschaftlichen Dienste sind unabhängig von der Bundesregierung, fassen den aktuellen Forschungsstand zusammen und interpretieren ihn. Dass die Türkei mit ihrem Vorgehen in den kurdischen Gebieten hinter ihrer Südgrenze das Völkerrecht bricht, haben die WD auch 2020 hinsichtlich der Unterbrechung der Wasserversorgung in Nordsyrien sowie im Mai 2022 in einem Gutachten zu der Invasion im Nordirak festgestellt.