WD: Türkei bricht Völker- und Menschenrecht in Nordsyrien
Die Unterbrechung der Wasserversorgung durch die Besatzungstruppen in Nordsyrien ist rechtswidrig. Das stellt ein Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags fest.
Die Unterbrechung der Wasserversorgung durch die Besatzungstruppen in Nordsyrien ist rechtswidrig. Das stellt ein Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags fest.
Die türkischen Truppen und ihre SNA-Söldner unterbrechen in den besetzten Gebieten in Nordostsyrien immer wieder die Wasserversorgung. So sind in der Region Hesekê teilweise über eine Million Menschen monatelang ohne fließendes Wasser, seit die Besatzungstruppen das Wasserwerk im besetzten Elok bei Serêkaniyê (Ras al-Ain) außer Betrieb gesetzt haben. Die Bundestagsabgeordnete Helin Evrim Sommer (DIE LINKE) hat ein Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste (WD) zur völker- und menschenrechtlichen Einordnung dieser Politik angefordert. Die Wissenschaftlichen Dienste sind unabhängig von der Bundesregierung, fassen den aktuellen Forschungsstand zusammen und interpretieren ihn.
Türkei rechtlich für Unterbrechung der Wasserversorgung verantwortlich
Während die Bundesregierung sich mit der Interpretation der Invasion in Nordsyrien als „Besatzung“ zurückhält, schreiben die WD, dass vieles auf eine Besatzungssituation nach der Haager Landkriegsordnung hindeute. Selbst wenn man wie die Bundesregierung den Begriff der „Besatzung“ nicht teile, so bestehe auch eine menschenrechtliche Verantwortung der Türkei. Diese Verantwortung gelte selbst dann, wenn die Türkei nicht direkt an der Operation in Elok beteiligt gewesen sein sollte:
„Bestreitet man gleichwohl eine direkte Beteiligung des türkischen Militärs an den Vorfällen rund um das Wasserwerk ‚Elok‘ und sieht stattdessen ausschließlich die mit der Türkei verbündeten Milizen am Werk, so lässt sich eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Türkei gleichwohl über das Konzept der menschen- bzw. besatzungsrechtlichen Schutzverpflichtung begründen. Für die Annahme einer menschenrechtlichen Schutzpflicht reicht es aus, dass die Türkei vor Ort die militärische Kontrolle (i.S.e. staatlichen „Gewaltmonopols“) ausübt und faktisch in der Lage erscheint, nicht-staatliche Gewaltakteure vor Ort in ihre Schranken zu weisen.“
Die WD schreiben, dass in Elok höchstwahrscheinlich islamistische Milizen gemeinsam mit der Türkei gegen die Wasserversorgung vorgegangen sind, aber realistischer Weise davon auszugehen ist, dass die Einnahme der Wasserstation jedenfalls „mit Wissen und Wollen“ der Türkei erfolgt ist.
Besatzungsmacht zur Versorgung der Bevölkerung verpflichtet
Die Pflichten einer Besatzungsmacht sind in der Genfer Konvention (GK IV) als Kernstück des humanitären Völkerrechts geregelt. Diese umfassen auch Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Versorgung der Zivilbevölkerung sowie der Gesundheitsvorsorge und der Epidemie-Bekämpfung. Die Besatzungsmacht ist verpflichtet, die Zivilbevölkerung im Rahmen aller ihr zur Verfügung stehenden Mittel mit allen für das Überleben wesentlichen Gütern zu versorgen.
So heißt es beispielsweise in Art 55. Abs 1 und 2 GFK IV: „Die Besetzungsmacht hat die Pflicht, die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungs- und Arzneimitteln mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln sicherzustellen; insbesondere hat sie Lebensmittel, medizinische Ausrüstungen und alle anderen notwendigen Artikel einzuführen, falls die Hilfsquellen des besetzten Gebietes nicht ausreichen. Die Besetzungsmacht darf keine im besetzten Gebiete befindlichen Lebensmittel, Waren oder medizinischen Ausrüstungen requirieren, ausgenommen für die Besetzungskräfte und -verwaltung und auch dann nur unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Zivilbevölkerung.“
Sicherstellung der Wasserversorgung mit Pandemie noch relevanter
Sauberes Trinkwasser gehört zu den elementaren und überlebenswichtigen Gütern und die Sicherstellung der Versorgung gehört „zu den vornehmlichen Pflichten“ einer Besatzungsmacht. Die Sicherstellung der Trinkwasserversorgung ist Teil des humanitären Völkerrechts. Die WD stellen fest: „Die Versorgungspflicht aus Art. 55 GK IV steht in engem Zusammenhang mit der Gesundheits- und Hygienevorsorge gem. Art. 56 Abs. 1 GK IV, welche die Besatzungsmacht in Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden zu gewärtigen hat. Diese Bestimmung entfaltet gerade in Zeiten der Covid-19-Pandemie besondere Relevanz. (…) GK IV verpflichtet die Besatzungsmacht nicht nur zu konkreten Anstrengungen im Hinblick auf die Versorgung der Zivilbevölkerung, sondern stellt die lebensnotwendigen Güter nachgerade unter Requirierungsverbot (Beschlagnahmeverbot).“
Diese völkerrechtlichen Regelungen machen auch das Ausmaß des Völkerrechtsbruchs des türkischen Staats in Efrîn deutlich. Dort werden systematisch Lebensmittel „requiriert“. In Nordostsyrien wurden Getreidesilos von den Besatzungstruppen geplündert. Auch dies dürfte unter das Requirierungsverbot fallen.
Verstoß gegen das Völkerrecht in den besetzten Gebieten
Die WD ziehen das treffende Fazit: „Im Ergebnis lässt sich damit festhalten, dass die Kappung der Wasserversorgung der Bevölkerung durch eine Besatzungsmacht – und damit das bewusste Vorenthalten eines lebensnotwendigen Gutes – einen Verstoß der Besatzungsmacht gegen die humanitär-völkerrechtlich verankerte Pflicht zur Versorgung (Art. 55 Abs. 1 GK IV) sowie zur Gesundheits- und Hygienevorsorge (Art. 56 Abs. 1 GK IV) begründet.“
Auch der konstruierte Fall, dass allein Milizen das Wasserwerk in Elok besetzt und außer Betrieb genommen hätten, entbindet die Besatzungsmacht nicht von ihrer Verantwortung. Die WD schreiben, dass die türkische Armee in einem solchen Falle völkerrechtlich dafür verantwortlich wäre, die Blockade zu brechen. Dies ergebe sich aus der „ordnungspolitischen Verpflichtung“ einer Besatzungsmacht.
Staatengemeinschaft muss sich für Respektierung des Völkerrechts einsetzen
Die WD stellen fest, dass die Staatengemeinschaft verpflichtet ist, sich für die Respektierung des humanitären Völkerrechts eines jeden Staates einzusetzen: „Dies kann verschiedene Formen annehmen – von bilateralem Druck (etwa durch Partnerstaaten des Besatzungsstaates) bis hin zu politischen Initiativen auf VN-Ebene. Der Fall ‚Syrien‘ hat hier in der Vergangenheit zweifellos immer wieder für Ernüchterung gesorgt.“ Insbesondere das Engagement der „globalen Zivilgesellschaft“ sei wichtig: „Mit Blick auf die Wasserversorgungskrise in Nordostsyrien haben sich Medienberichten zufolge 49 zivilgesellschaftliche Organisationen Nordostsyriens mit einem auch von UNICEF und anderen NGOs unterstützten Appell an die internationale Staatengemeinschaft gewandt.“
Wasser als Menschenrecht
Auch unabhängig von besatzungsrechtlicher Verpflichtung besteht eine menschenrechtliche Verpflichtung, die Wasserversorgung garantieren. Das Menschenrecht auf Wasser ist im UN-Sozialpakt enthalten. Die Türkei hat diesen Pakt allerdings nur in Bezug auf ihr eigenes Territorium ratifiziert und nicht in Bezug auf Staaten, zu denen sie „keine diplomatischen Beziehungen pflegt“. Damit würde diese Konvention für die nordsyrischen Gebiete nicht gelten, wenn man wie die Bundesregierung annimmt, die Gebiete seien nicht „besetzt“. Die WD schätzen den Ratifikationsvorbehalt der Türkei allerdings für wahrscheinlich völkerrechtswidrig ein. Daher dürfte das Menschenrecht in diesem Rahmen theoretisch greifen.
Türkei sabotiert Menschenrecht auf Wasser
Die WD stellen fest: „Speziell die Türkei gehört allerdings zu jenen (wenigen) Staaten, die sich der bei Verabschiedung der grundlegenden Resolution der VN-Generalversammlung vom 28. Juli 2010 (A/Res/64/292) zum „Menschenrecht auf Wasser“ ihrer Stimme enthalten haben und einer völkerrechtlichen Weiterentwicklung des nicht zuletzt (innen- und außen)politisch brisanten und konfliktträchtigen „Menschenrechts auf Wasser“ offenbar skeptisch gegenüberstehen.“
Strafverfolgung fraglich – Zivilgesellschaft gefordert
Trotz der qualifizierten Verstöße kommen die WD zu einem ernüchternden Ergebnis. Um die Türkei völkerrechtlich zu belangen, müssten die besetzten Gebiete mehrheitlich auch als solche betrachtet werden. Dass dazu insbesondere von Seiten der NATO, aber auch durch Russland keinerlei Bereitschaft besteht, ist offensichtlich. Das Menschenrecht auf Wasser ist nach Einschätzung der WD ebenfalls zu unverbindlich, um justitiabel zu sein. Die Expertise schließt mit dem Fazit: „Somit bleibt die internationale Staatengemeinschaft und die Zivilgesellschaft gefordert, die Not der Menschen in Nordostsyrien durch politischen Druck zu ihrem Recht auf sauberes Trinkwasser zu verhelfen.“