Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags hält den türkischen Angriff auf Gebiete in der Kurdistan-Region Irak (Südkurdistan) für völkerrechtswidrig. In einem neuen Gutachten äußern die Fachleute der Einrichtung „ganz erhebliche Zweifel“ am Vorliegen einer Selbstverteidigungslage für die Türkei, die den Verstoß gegen das Gewaltverbot gegenüber dem Irak rechtfertigen könnte.
Seit über einem Monat führt die Türkei unter dem Namen „Operation Claw-Lock“ (Fesselgriff) eine Invasion in Teilen Südkurdistans durch. Laut „Geheimdienstinformationen“ habe die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) einen „groß angelegten Angriff auf die Türkei“ geplant, lautete auch diesmal die Argumentation der Führung in Ankara. Mit dem Ziel, „die „Terrorbedrohung“ entlang der türkischen Südgrenze vollständig zu beenden, kommen neben Kampfflugzeugen, Drohnen, Artillerie und Bodentruppen auch weltweit geächtete Chemiewaffen bei den Angriffen gegen Guerillastellungen und zivile Siedlungsgebiete zum Einsatz.
Die irakische Regierung hat die Intervention als Verletzung ihres Territoriums und „feindlichen Akt“ kritisiert. Die türkische Regierung wiederum beruft sich bei der Invasion auf das Recht auf Selbstverteidigung. Die UN-Charta räumt dieses „im Fall eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen“ ein. Zur Begründung ihrer Militärschläge stützt sich die Türkei auf die „Unfähigkeit“ des Iraks, „terroristische Umtriebe“ auf irakischem Staatsgebiet, welche die Sicherheit der Türkei bedrohen, wirksam zu unterbinden (sogenannte „Unwilling or Unable“-Doktrin). Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags weist dieses Argument zurück. „An dem türkischen Rechtfertigungsnarrativ bestehen bereits prima facie Zweifel, weil die Türkei die Existenz einer Selbstverteidigungslage“ - also das Vorliegen eines noch andauernden oder unmittelbar bevorstehenden oder bewaffneten Angriffs - „nicht substantiiert darzulegen vermag“.
Türkei bemüht sich nicht einmal, einen PKK-Angriff zu konstruieren
Im Kontext der „Claw-Lock-Offensive“ der Türkei sei ein konkretes, in die Verantwortung der PKK fallendes Ereignis, das nach Art und Schwere juristisch als „bewaffneter Angriff“ gewertet werden könnte, nicht ersichtlich, schreibt der Wissenschaftliche Dienst. Weder finde sich ein entsprechender Bericht in den Medien, noch berufe sich die Türkei in ihrem Aufruf beim UN-Sicherheitsrat überhaupt auf die Existenz eines solchen Angriffs. „Sie bemüht sich nicht einmal, einen solchen Angriff zu konstruieren“, stellt der Wissenschaftliche Dienst fest. Ohnehin habe die Zahl der PKK-Angriffe in der Türkei in den vergangenen Jahren eher ab- als zugenommen. Ein „konsistentes Verhaltensmuster“, das auf einen erneuten bevorstehenden Angriff schließen lasse, erschließe sich nicht. Angebliche Geheimdienstinformationen über mutmaßlich bevorstehende PKK-Attentate, auf die sich regierungsnahe Medienberichte berufen, blieben zu „vage und unsubstantiiert“.
Existenz der PKK im Irak eine „innerirakische“ Angelegenheit
„In Ermangelung eines konkreten Angriffs, für den die PKK verantwortlich zeichnet, verweist das türkische Rechtfertigungsnarrativ vielmehr auf eine diffuse, latente bzw. im Hintergrund schlummernde Bedrohung der nationalen Sicherheit der Türkei durch die PKK. Doch vermag eine solche wohl eher ‚gefühlte‘ Bedrohungsperzeption im Kampf der Türkei gegen den Terrorismus eine Selbstverteidigungslage nicht zu begründen; das Rechtsinstitut einer ‚Dauergefahr‘ kennt das Völkerrecht nicht“, heißt es in der Expertise. Zur Berufung auf die UN-Charta reiche es nicht aus, einem Nachbarstaat vorzuhalten, den Terrorismus auf dessen Staatsgebiet nicht wirksam genug zu bekämpfen. „Solange von irakischem Staatsgebiet aus kein akuter bewaffneter Angriff die Türkei herausfordert oder ganz unmittelbar und konkret bedroht, bleibt die Existenz der PKK im Irak rechtlich gesehen eine ‚innerirakische‘ Angelegenheit.“ Ein Recht zur „Selbstvornahme“ in Form von militärischen Alleingängen, welche die territoriale Integrität des Nachbarstaates verletzten, gebe die UN-Charta nicht. Das Rechtfertigungsnarrativ der Türkei, dem ein ausgesprochen extensives Verständnis der „Unwilling or Unable“-Doktrin zugrunde liege, erweise sich damit völkerrechtlich als kaum tragfähig.
Akbulut: Keine Waffentechnologie an das Erdoğan-Regime
Die Bundestagsabgeordnete Gökay Akbulut (DIE LINKE) zeigte sich zufrieden mit der Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes zur völkerrechtlichen Bewertung der türkischen Angriffe in der Kurdistan-Region Irak. „Das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages stellt unmissverständlich einen Verstoß gegen das Gewaltverbot fest“, sagte Akbulut und forderte einen Exportstopp von Waffen und Waffentechnologie an das Erdoğan-Regime.
„Die Türkei setzt Kampfdrohnen ein, deren Technologie zum Teil aus Deutschland kommt. Diese Waffen töten auch immer Zivilisten“, so Akbulut. Schon allein wegen ihrer Waffenexporte stehe die Bundesregierung in einer besonderen Verantwortung, sich für ein Ende dieser Angriffe einzusetzen. „Der völkerrechtswidrige Angriff der Türkei muss aufs Schärfste verurteilt werden – das gilt insbesondere angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine“, sagte Akbulut. Es sei absolut inakzeptabel, wenn die „Bündnispartnerin“ Türkei das Völkerrecht derart missachtet. Deutschland müsse sich für die Beendigung der türkischen Militäroperationen einsetzen.
Mit Blick auf die Forderung nach einem Stopp von deutschen Rüstungslieferungen zitierte der Tagesspiegel eine Mitteilung aus dem Ministerium für Auswärtiges, wonach Ankara schon seit Jahren keine Waffen mehr erhalte, „die von der Türkei im Kontext regionaler Militäroperationen eingesetzt werden könnten“. Dabei spielt deutsche Technologie beim türkischen Großangriff gegen Südkurdistan eine strategische Rolle. Die meistverkaufte türkische Kampfdrohne etwa ist mit Kameras der deutschen Firma Hensoldt ausgestattet. Das Gerät leitet mit deutscher Hilfe entwickelte Raketen ins Ziel. An dem Rüstungskonzern ist auch die Bundesregierung beteiligt. Die Türkei nutzt diese Drohnen für ihre völkerrechtswidrige Angriffe.