Thermobarische Waffen in Werxelê eingesetzt

Im Guerillagebiet Werxelê setzt die Schneeschmelze ein und legt im Gelände der Kriegstunnel neue Beweise für Kriegsverbrechen der türkischen Armee in Südkurdistan frei. Entdeckt wurden auch Behälter mit der Aufschrift „thermobarisch“.

Im Gelände der Kriegstunnel in Werxelê setzt die Schneeschmelze ein und legt neue Beweise für Kriegsverbrechen der türkischen Armee frei. Von der Guerilla zur Verfügung gestellte Fotos dokumentieren Behälter mit der Aufschrift „Thermobarisch“.

Nach der schweren Niederlage der türkischen Armee in Gare im vergangenen Jahr stieß auch der am 23. April folgende Besatzungsangriff gegen die Gebiete Zap, Metîna und Avaşîn auf erbitterten Widerstand. Die türkische Armee, die trotz NATO-Beistand und ihrem gesamten Spektrum an Waffen, luftgestützter technischer Ausrüstung und dem Einsatz aller Kriegskomponenten nicht in der Lage gewesen ist, den Guerillawiderstand zu brechen, hat unter Missachtung der universellen humanitären, rechtlichen und moralischen Werte eine Reihe giftiger und verbotener Kriegsinstrumente eingesetzt.

Einsatz von fünf verschiedenen Chemikalien dokumentiert

Murat Karayılan, Oberkommandierender des zentralen HPG-Hauptquartiers, hatte in einem ANF-Interview am 27. Dezember geäußert, dass die türkische Armee bei ihren Besatzungsangriffen in Südkurdistan mindestens fünf verschiedene Arten von chemischen Kampfstoffen verwendet. Diese wurden wie folgt klassifiziert:

Tabun: Das Nervengift ist das älteste der drei sogenannten G-Kampfstoffe neben Soman und Sarin, die Aufnahme ist über die Haut und die Atmung möglich. Es wirkt darauf, wie Nerven Signale an Muskeln und andere Nerven übermitteln. Die Betroffenen werden gelähmt, erleiden einen Atemstillstand und sterben.

Grünkreuz: Der Lungenkampfstoff beinhaltet Chlorpikrin als Wirkstoff. Chlorpikrin verbrennt die Haut und führt zu Augenreizungen und der Ausbildung eines Lungenödems. Es führt zu Atemnot, schaumig rotem Auswurf und Angstzuständen.

Senfgas: Der auch als Gelbkreuz bekannte Hautkampfstoff gehört zur Gruppe der Loste. Lost ist ein starkes Hautgift und erwiesenermaßen krebserregend. Die Wirkung auf die Haut ist vergleichbar mit starken Verbrennungen oder Verätzungen. Es bilden sich große, stark schmerzende Blasen. Die Verletzungen heilen schlecht. Das Gewebe wird nachhaltig zerstört und die Zellteilung gehemmt. Großflächig betroffene Gliedmaßen müssen meistens amputiert werden. Werden die Dämpfe eingeatmet, so werden die Bronchien zerstört.

Unbekanntes Schlafgas: Ein anderes Gas, das die türkische Armee verwendet, macht die davon Betroffenen träge, verursacht Gedächtnisverlust und lässt sie kollabieren. Der Mensch ist bewegungsunfähig und zeitweise gelähmt.

Tränengas: Tränengase sind Substanzen, die auf Augen und Schleimhäute reizend wirken. Sie werden bei Polizeiorganisationen als Reizstoffe bezeichnet und zum Beispiel eingesetzt, um Demonstrationen aufzulösen. Versprüht jemand Tränengas in geschlossenen Räumen, heißt es: Sofort durch den nächsten Fluchtweg nach draußen! Es kann - je nach Konzentration - Lebensgefahr bestehen.

Bericht über türkische Giftgaseinsätze in 40 Ländern

Der Ko-Vorsitzende des Nationalkongress Kurdistan (KNK), Ahmet Karamus, gab in einem am 6. Februar veröffentlichten Interview mit der Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA) an: „Bei Luft- und Bodenangriffen in den Gebieten Kanimasi, Avaşîn und Metîna sind 323-mal chemische Waffen eingesetzt worden. Einige internationale Organisationen haben in diesen Gebieten Untersuchungen durchgeführt. Es wurden Proben von Opfern entnommen, die an den Folgen des Einsatzes von chemischen Kampfstoffen starben. Die Ergebnisse liefern klare und überzeugende Beweise dafür, dass die Türkei Chemiewaffen einsetzt.“

Untätigkeit wegen türkischer NATO-Mitgliedschaft

Laut Karamus sei der dazugehörige Bericht vom KNK in insgesamt 40 Ländern vorgelegt worden. „Eine der Gruppen, mit denen wir gesprochen haben, war die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW). Wir haben ihr die Beweise und Berichte, die wir sammeln konnten, übergeben. Darüber hinaus haben wir diverse Anträge gestellt. Die OPCW nahm unsere Dokumentationen entgegen, eine Antwort erfolgte bislang nicht. Sie hält sich von der Türkei fern, weil sie ein NATO-Mitglied ist.“

550 Dörfer von Chemiewaffen betroffen

Nach Angaben von Ahmet Karasmus waren im Zuge der türkischen Besatzungsangriffe 550 Dörfer in Südkurdistan von Chemiewaffen betroffen. Ortsansässige, die infolgedessen erkrankten oder verletzt wurden, hätten sich zwar an Gesundheitseinrichtungen gewandt. Doch leider herrsche ein „großes Schweigen“.

Neue Erkenntnisse

Laut den vom Pressezentrum der Volksverteidigungskräfte (HPG) herausgegebenen Kriegsbilanzen für 2021 sind im vergangenen Jahr 40 Guerillakämpfer:innen aufgrund von Chemiewaffeneinsätzen gefallen. Die durch den Temperaturanstieg mittlerweile auch in höheren Gebirgslagen einsetzende Schneeschmelze hat nun neue Erkenntnisse über die verbotenen Chemiewaffen im Inventar der türkischen Armee zum Vorschein gebracht. Die seit dem Rückzug der Besatzungstruppen unter den eisigen Massen an den Tunnelanlagen in Werxelê begrabenen Hinterlassenschaften liegen frei und konnten von der Guerilla dokumentiert werden.

Gasmischungen

Sofort ins Auge springen vom türkischen Militär verwendete Behältnisse mit hochkonzentrierter Salzsäure und Bleichmittel. Es ist unverkennbar, dass dutzende Liter dieser Substanzen und Stoffe miteinander gemischt worden sind. Beim Mischen von Bleichmittel mit Säure entsteht Chlorgas, bereits eine geringe Menge kann eine toxische Wirkung haben. Die großen Mengen dieser Gasmischungen lassen darauf schließen, dass die türkische Führung durch ihren Einsatz versucht hat, die Guerilla zu vergiften.

Behälter mit dem Etikett „thermobarisch“

Auffällig sind auch diverse Kisten, die mit dem Etikett „thermobarisch“ versehen sind. Thermobarische Raketen, auch Vakuum- oder Aerosolbomben genannt, sind international geächtet und nach der Genfer Konvention verboten.

Das Wort Thermobaric kommt aus dem Griechischen und setzt sich aus den Wörtern thermos für Hitze und baros für Druck zusammen. In der Praxis kombiniert diese Waffe Schockwellen und Vakuum, um eine Hochtemperaturexplosion zu erzeugen. Während herkömmliche Sprengstoffe den für die explosive Reaktion in den meisten Fällen benötigten Sauerstoff selbst enthalten, bestehen Aerosolbomben fast vollständig aus Brennstoff und sind auf Sauerstoff aus der Luft angewiesen, um eine Detonation zu erzeugen. Die Sprengladung verteilt die brennbare Flüssigkeit zunächst zu einer großen Wolke aus feinen Tröpfchen, bevor das Gemisch entzündet wird. Nach der Verpuffung und der Druckwelle tritt eine Vakuumwirkung ein. Die Explosion entzieht der Luft Sauerstoff, weil der Sprengsatz kein eigenes Oxidationsmittel enthält. Der starke Unterdruck und Hitze sorgen dafür, dass alles was lebt, einfach verdunstet. Menschen, die sich in der Nähe einer solchen Explosion aufhalten und Druckwelle sowie Hitzeentwicklung überleben, laufen Gefahr, an Lungenverletzungen in Folge von Drucktraumata zu sterben.

Erfunden von einem Nationalsozialisten

Vakuumbomben sind so zerstörerisch wie kleine Kernwaffen. Sowohl die USA als auch Russland verfügen über thermobarische Sprengsätze, in den Kriegen im Irak und in Afghanistan wurden sie auch eingesetzt. Erfunden wurde diese Waffe jedoch von einem österreichischen Nationalsozialisten. Human Rights Watch warnte bereits im Februar 2000 vor der verheerenden Wirkung. In einem Bericht zitiert die Organisation aus einem CIA-Papier: „Diejenigen in der Nähe des Zündpunktes werden vernichtet. Befindet man sich weiter weg, werden wahrscheinlich viele innere und damit unsichtbare Verletzungen verursacht, darunter geplatzte Trommelfelle, schwere Gehirnerschütterungen, geplatzte Lungen und andere innere Organe und möglicherweise Blindheit.“ Die gebräuchlichsten Brennstoffe seien Ethylenoxid und Propylenoxid, beides hochgiftig.

In Tunneln eingesetzt

Vakuumbomben können als Lenkwaffen in geschlossenen Höhlen, Bunkern und unterirdischen Anlagen gezündet werden. Nach Informationen der HPG verhält sich die türkische Armee beim Einsatz dieser Zerstörungsmaschinen spiegelbildlich wie bei allen anderen Chemiewaffenangriffen. Da der Einsatz aus der Luft Auswirkungen auf die türkischen Truppen am Boden hat, wird auf die Herstellung von Hybriden geachtet, die eine kompakte Größe haben und gegen Tunnel im Bodenkampf eingesetzt werden können. Die Guerillakämpfer:innen, die am Girê Sor und in Werxelê den Explosionen thermobarischer Bomben ausgesetzt waren, beschrieben die Situation als „Explosion, die eine Erschütterung wie ein Erdbeben" auslöste.