Nach Angaben von Murat Karayılan, Mitglied im Exekutivkomitee der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), setzt die türkische Armee bei ihren Besatzungsangriffen in Südkurdistan mindestens fünf verschiedene Arten von chemischen Kampfstoffen ein. Dabei handele es sich um Hautgas, Lungengas, Nervenkampfstoffe, Tränengas und Betäubungsmittel, wie Karayılan in einer bei Stêrk TV ausgestrahlten Sondersendung anlässlich des Gründungsjubiläums der PKK äußerte.
Die Vorwürfe über den Einsatz chemischer Kampfstoffe durch den Nato-Partner Türkei zirkulieren praktisch seit Beginn der im April eingeleiteten Besatzungsoperationen in den Regionen Avaşîn, Zap und Metîna. Damit verstößt Ankara offen gegen das Kriegsvölkerrecht. Dennoch hält sich die internationale Gemeinschaft mit Kritik zurück. Für die Causa besteht im sogenannten Westen offenbar kein Interesse.
Derweil ist der Guerilla-Widerstand im südlichen Teil Kurdistans nach wie vor ungebrochen. Die Besatzungstruppen stecken mit ihrer Offensive fest, da die Kämpferinnen und Kämpfer ausgehend von ausgedehnten Tunnelsystemen die Angriffe immer wieder zurückschlagen. Karayılan veranschaulichte den Widerstand an einem Beispiel aus dem Gebiet Werxelê in Avaşîn: „Die Strategie der Besatzer lautete: ‚Wir greifen mit Flugzeugen an, scheuchen sie auf und vernichten sie.‘ Sie haben mit Flugzeugen angegriffen, es hat nichts gebracht. Dann meinten sie: ‚Wir greifen mit Chemiewaffen an, dann überlebt niemand‘. Denn sie wussten, dass Saddam 1988 mit seinem Giftgas fast ganz Südkurdistan entvölkert hatte.
Die Anzahl der Freundinnen und Freunde in Werxelê war zu Beginn noch relativ hoch. Nach einer Phase des Krieges intervenierte das Hauptquartier und gab die Anweisung, das Kontingent zu reduzieren. Daraufhin wurde etwa die Hälfte der Kämpfer:innen abgezogen. In dieser Konstellation ist der Widerstand in Werxelê 120 Tage lang fortgesetzt worden. Unsere Freund:innen waren permanent im Kampfgebiet, schlugen den Feind, konfiszierten seine Waffen sowie Tonnen von Sprengstoff und brachten sie in die Höhlen. Später wurden sie selbstverständlich gegen die feindlichen Truppen eingesetzt. Auf diese Weise ist Werxelê faktisch zu einer Festung geworden, um die herum Krieg geführt wurde. Der Feind setzte dort ein ganzes Sortenspektrum an Chemikalien gegen unsere Freund:innen ein. Die Art ihrer Vorkehrungsmaßnahmen werde ich verständlicherweise nicht näher benennen. Im weiteren Verlauf jedoch ist eine neue Art von Chemiewaffe verwendet worden, die unseren Vermutungen nach aus einem anderen Land importiert sein könnten. Durch diese Waffe sind zehn unserer Freund:innen gefallen, darunter Hevalê Cumali und Çavrê.
Der Werxelê-Widerstand dauerte ungebrochen 135 Tage
Und was taten die übrigen Freund:innen? Sie forderten: ‚Schickt uns Verstärkung, wir werden weitermachen.‘ Sie wollten vor allem Nahrungsmittel und ähnliches, weil es Probleme beim Nachschub gegeben hatte. Es gab eine Verbindung zum regionalen Hauptquartier. Prinzipiell hätten sie angeben können, den Ort nach dem Tod ihrer Weggefährt:innen verlassen zu wollen. Aber das Gegenteil war der Fall; sie wollten weitermachen. Zwar sollten weitere Kräfte nach Werxelê verlegt werden, dies war jedoch nicht möglich. In deutlich reduzierter Anzahl leisteten unsere Freund:innen noch fünfzehn weitere Tage Widerstand. Der Kampf dauerte insgesamt 135 Tage. Dann griff das zuständige Hauptquartier ein und gab den Befehl zum Rückzug. Ihnen wurde gesagt: ‚Der Ort hat seine Rolle gespielt, zieht euch zurück‘. Bis dahin hatte es immer die Möglichkeit zum Abzug aus Werxelê gegeben. Aber die Freund:innen verließen die Gegend erst auf Befehl. Einige waren sogar verletzt worden, konnten aber weitestgehend unbeschadet abziehen. Es bestand eine gewaltige Entschlossenheit und ein unglaublicher Geist. Wie lässt sich das weiter erklären? Nun, ich weiß es nicht. Ganz gleich, wie sehr wir es erklären, es wird unvollständig sein.“
Die Arten der chemischen Kampfstoffe
Anfang letzter Woche befragte die HDP-Abgeordnete Tülay Hatimoğulları den türkischen Verteidigungsminister Hulusi Akar im Rahmen einer Haushaltsdebatte im Parlament zu den Chemiewaffenangriffen in Südkurdistan. Akar räumte die Verwendung von Tränengas ein, wies Vorwürfe über den Einsatz anderer Chemikalien von sich. Die türkischen Streitkräfte hätten „gar keine“ Bestände. Karayılan bezeichnet diese Aussage als „Lüge“ und berichtet von verschiedenen eingesetzten Chemikalien, die sich in der Wirkung unterscheiden.
Tabun: Von den Nazis bis nach Helebce
Bei einem der Kampfstoffe handelt es sich offensichtlich um ein Nervengift – Kampfstoffe, die darauf wirken, wie Nerven Signale an Muskeln und andere Nerven übermitteln. Die Betroffenen werden gelähmt, erleiden einen Atemstillstand und sterben. Karayılan berichtet in diesem Zusammenhang von einem geruchlosen, manchmal aber auch nach Früchten riechenden Kampfstoff. Er führt auf, dass es sich um einen Nervenkampfstoff auf der Grundlage von Tabun handele. Der Geruch nach Obst und die Symptome deuten ebenfalls darauf hin. Tabun wird über die Haut und die Atmung aufgenommen und blockiert Neurotransmitter. Symptome für den Einsatz sind Kopfschmerzen, Übelkeit mit Erbrechen und Durchfällen, Augenschmerzen, Müdigkeit, Krampfanfälle, Zittern, Zucken der Muskulatur, unkontrollierter Harn- und Stuhlabgang, Atemnot, Appetitlosigkeit, Angstzustände, Spannungen, Verwirrtheit, Bewusstlosigkeit. Der Tod tritt durch Atemlähmung ein. Selbst kleinste Mengen sind tödlich. Nur Ganzkörper-Schutzanzüge und Masken mit Atemfilter bieten Schutz, da jeder Teil des Körpers das Tabun aufnehmen kann.
Tabun wurde 1936 vom deutschen Chemiekonzern I.G. Farben entdeckt und ab 1942 bei der Wehrmacht eingesetzt. Tausende KZ-Häftlinge starben bei der Produktion. Nach dem Ende des Nazi-Faschismus übernahmen die USA und Großbritannien die Fertigung dieses Kampfstoffes. Tabun wurde von 1988 von der irakischen Armee beim Giftgasangriff auf die südkurdische Stadt Helebce eingesetzt. Die Grundstoffe für Tabun waren unter anderem mit Wissen des BND an das Saddam-Regime geliefert worden.
Lungenkampfstoff Grünkreuz: Deutsche Lieferungen an Osmanisches Reich
Laut Karayılan hat die türkische Armee auch den Lungenkampfstoff Grünkreuz in ihren Beständen, der bei den Besatzungsoperationen gegen die Guerilla zum Einsatz komme. Grünkreuz beinhaltet Chlorpikrin als Wirkstoff. Chlorpikrin wurde zwar bereits 1848 in Großbritannien entdeckt, von Deutschland aber zuerst in einer Wirkstoffkombination im Kampfstoff Grünkreuz-1 eingesetzt. Das Osmanische Reich war im Ersten Weltkrieg mit Deutschland eng verbündet und wurde mit Grünkreuz-1 beliefert. Karayılan sagt: „Seitdem befindet sich das Gas in den Händen der Türkei. Vielleicht produziert die Türkei es jetzt eigenständig, aber natürlich besteht die Möglichkeit, dass sie es gemeinsam mit den Deutschen tut.“ Chlorpikrin verbrennt die Haut und führt zu Augenreizungen und der Ausbildung eines Lungenödems. Es führt zu Atemnot, schaumig rotem Auswurf und Angstzuständen. Bereits 0,12 Gramm pro Quadratmeter Luft sind lebensgefährlich. Eine Filtermaske kann für begrenzte Zeit Schutz bieten.
Hautkampfstoff Gelbkreuz: Vom deutschen Kriegseinsatz über Dersim-Genozid bis zum IS
Bei einem weiteren in Südkurdistan eingesetzten Kampfstoff soll es sich laut Karayılan um einen gelblichen Hautkampfstoff handeln. Das Gas verbrennt die Haut. Es wird vermutet, dass es sogenanntes Senfgas sein könnte, auch als Gelbkreuz bekannt und ebenfalls ein Produkt aus dem deutschen Giftgaskrieg im Ersten Weltkrieg. Senfgas gehört zur Gruppe der Loste. Der Name kommt von den beiden deutschen Chemikern Wilhelm Lommel und Wilhelm Steinkopf, die 1916 vorschlugen Senfgas als Kampfstoff einzusetzen. Er setzt sich aus den Buchstaben der Namen der beiden Chemiker zusammen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Senfgas 1925 unter Mitwirkung des deutschen Chemikers Hugo Stoltzenberg großflächig gegen Kabyl:innen eingesetzt, die sich in Marokko gegen die spanische Vorherrschaft wehrten.
Am 3. Oktober 1935 setzte Mussolini im Kolonialkrieg gegen Äthiopien ebenfalls Senfgas ein. Der Kampfstoff wurde gegen äthiopische Soldaten und gegen die Zivilbevölkerung benutzt und führte zu einem Massenmord. Auch landwirtschaftliche Anbauflächen wurden mit Senfgas kontaminiert und ganze Dörfer eingeäschert. Senfgas wurde an vielen weiteren Orten eingesetzt.
So spricht vieles für einen Senfgaseinsatz im Dersim-Genozid 1937/38, als Mustafa Kemal Atatürk tausende alevitische Kurd:innen in Höhlen vergasen ließ.
Ende Juli 2015 feuerte der vom türkischen Staat hochgerüstete sogenannte Islamische Staat mehrere Mörsergranaten auf Stellungen der YPG in der Nähe von Hesekê ab. In einer von der YPG nach dem Angriff veröffentlichten Erklärung wurde beschrieben, dass die Explosionen „ein gelbes Gas mit starkem Zwiebelgeruch“ freigesetzt hätten und dass „der Boden in unmittelbarer Nähe der Einschlagstellen mit einer olivgrünen Flüssigkeit bedeckt war, die sich bei Sonneneinstrahlung goldgelb verfärbte“. US-Vertreter bestätigten später, dass Proben, die am Ort des Angriffs entnommen wurden, positiv auf eine geringe Menge Senfgas in niedriger Konzentration getestet wurden. Senfgasangriffe des IS wurden in der Folgezeit auch aus dem Irak und Südkurdistan gemeldet.
Im Mai 2019 waren bisher unbekannte Dokumente aus dem türkischen Staatsarchiv veröffentlicht worden, die zeigten, dass der „Vater der Türken“ am 7. August 1937 ein geheimes Dekret zur Bestellung von 20 Tonnen chemischer Kampfstoffe und einer automatischen Abfüllanlage in Deutschland unterzeichnet hatte. Bei den über die türkische Botschaft in Berlin eingekauften Kampfstoffen handelte es sich um Gelbkreuz/Senfgas und Chloracetophenon, einem dem CS-Gas ähnlichen Stoff.
Unbekanntes Schlafgas
„Ein anderes Gas, das die Besatzer verwenden, macht die davon Betroffenen träge, verursacht Gedächtnisverlust und lässt sie kollabieren. Der Mensch ist bewegungsunfähig und zeitweise gelähmt“, beschreibt Karayılan die unbekannte Chemikalie. Dieses Gas sei am Kartal-Gipfel und anderen Orten eingesetzt worden, konnte bisher aber nicht identifiziert werden. Die beschriebenen Wirkungen deuten jedoch auf ein Narkotikum hin.
So setzten russische Spezialkräfte im Oktober 2002 ein Gas auf der Basis von Fentamyl- Derivaten zur Beendigung einer Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater ein. Dabei kamen 128 Menschen ums Leben. Präsident Wladimir Putin sprach damals von einer „neuen Waffe“, sein Gesundheitsminister Yuri Schewchenko erklärte, es seien „unter anderem“ Derivate des Narkosemittels Fentanyl verwendet worden. Dies wäre der erste bekannte Fall des Einsatzes von Narkosemitteln als Waffen gewesen. Mittel wie diese sind ebenfalls nach Chemiewaffenkonvention verboten.
Tränengas: Verboten im Kriegseinsatz
Darüber hinaus wird offensichtlich CS-Gas gegen die Kriegstunnel der Guerilla eingesetzt. In geschlossenen Räumen ist Tränengas häufig tödlich. Außerdem ist die Benutzung im Kriegseinsatz ebenfalls untersagt. Die Türkei hat sich in der Vergangenheit mehrfach mit großkalibrigen CS-Gas-Granaten auf Waffenmessen präsentiert. Dennoch schweigt die internationale Gemeinschaft zum Einsatz der Chemiewaffen durch die Türkei. Dazu erklärt Karayılan: „Die Hegemonialmächte schweigen, aber demokratische Kreise und Menschenrechtsverteidiger:innen versuchen das Thema auf die Tagesordnung zu setzen. In diesem Sinne kam der Einsatz von Chemiewaffen auf einer bestimmten Ebene zur Sprache, aber die Verantwortlichen wurden ihren Verpflichtungen nicht gerecht. Es gibt direkt verantwortliche Kräfte. Der türkische Staat ist Mitglied der NATO und begeht gestützt auf das Bündnis etliche Verbrechen, die ignoriert werden. Da diese Taten in Südkurdistan stattfinden, haben wir eine Intervention der Regierung und des Regionalparlaments erwartet. Hätte sich zumindest eine Person hingestellt und gesagt: ‚Das hier ist unser Land, ihr setzt Chemiewaffen ein.‘ Aber wir wurden enttäuscht. Bis zuletzt war bei uns die Erwartung da, da es Protest aus dem Regierungslager geben wird. Leider muss ich feststellen, dass die Institutionen Südkurdistans in Bezug auf den Einsatz chemischer Waffen durch den türkischen Staat versagt haben. Sie haben nicht einen Ton von sich gegeben.“
„Sie wollen die Menschen einschüchtern und vertreiben“
Weiter erklärte Karayılan: „Wir wissen es nicht genau, aber es wurde festgestellt, dass einige Zivilispersonen ebenfalls [von den Chemiewaffeneinsätzen] betroffen sind und in Krankenhäusern behandelt werden. Davon haben wir allerdings nur aus der Presse erfahren. Aber vor allem in der Region Metîna ist die Umgebung der Dörfer sehr heftig angegriffen worden, insbesondere die Gegend um Hiror. An uns waren Informationen aus Europa herangetragen worden, wonach sich die Dorfbevölkerung über schwerste Angriffe gegen das Umland von Hiror beklagte. Es wurde vermutet, dass sich unsere Freundinnen und Freunde in der Nähe aufhalten. Dem war tatsächlich so. Wir wiesen unsere Kräfte an, sich aus dem Gebiet zu entfernen. Nachdem jedoch die notwendigen Maßnahmen ergriffen worden waren, setzte der Feind seine Angriffe um das Dorf Hiror herum fort. Wir haben begriffen, dass dort nicht unsere Kräfte ins Visier genommen werden. Primäres Ziel in Hiror ist die Dorfbevölkerung, die eingeschüchtert und vertrieben werden soll. Unsererseits nicht bestätigten Informationen zufolge sind einige Bewohnerinnen und Bewohner von Hiror Opfer von Giftgasangriffen geworden. Wir wissen es nicht genau, aber gegen uns setzt der Feind Giftgas ein. Er wirft es in Tunnel, er wirft es in die Schluchten, er wirft es in geschlossene Bereiche. Er setzt überall Giftgas ein, aber wie gesagt, niemand hat bisher sichtbar protestiert.“