Karayılan: Einsatz von Chemiewaffen in Kurdistan muss Ächtung erfahren

Murat Karayılan hat dem Westen vorgeworfen, im Kampf gegen den Einsatz von Chemiewaffen zweierlei Maß anzuwenden. Die Politik international verantwortlicher Kräfte und Organisationen sei von „Doppelmoral“ geprägt, kritisiert der HPG-Oberkommandierende.

Der Oberkommandierende des zentralen Hauptquartiers der Volksverteidigungskräfte (HPG), Murat Karayılan, hat dem Westen vorgeworfen, im Kampf gegen den Einsatz von Chemiewaffen zweierlei Maß anzuwenden. Die Politik international verantwortlicher Kräfte und Organisationen sei von „Doppelmoral“ geprägt, äußerte Karayılan im ersten Teil eines Interviews mit der englischen Ausgabe des Nachrichtenportals Medya News. Die unter anderem von den HPG vorgebrachten Beweise belegten eindeutig, dass der türkische Staat in Südkurdistan hinter Chemiewaffeneinsätzen gegen die Guerilla steckt. Dennoch blieb eine politische Antwort bisher aus. Das Thema würde trotz zahlreichen Appellen, Aufrufen und Anträgen, die sich hauptsächlich an die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) richteten, ignoriert, es bestehe offenbar keinerlei Interesse, den Fakten nachzugehen. Deshalb setzten sich Kriegsverbrechen und Giftgasangriffe fort, kritisierte Karayılan.

Grund für Ignoranz: NATO-Mitgliedschaft der Türkei

Die Ignoranz angesichts der vorgebrachten Vorwürfe hinsichtlich C-Waffen-Angriffen durch die Türkei verortet Karayılan in der Mitgliedschaft des Landes bei der NATO. „Hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Denken wir nur an Syrien. Kaum wurden die Gerüchte über den Einsatz von Chemiewaffen durch den syrischen Staat laut, erhob sich die gesamte Welt. Die Anschuldigungen wurden unmittelbar als Vorwand für eine militärische Intervention genommen. In diesem internationalen System, so scheint es, ist der Einsatz von Chemiewaffen für Mitglieder der NATO offenbar legitim. Werden andere Staaten hingegen dieses Verbrechens beschuldigt, werden sie geächtet und sanktioniert. Dabei muss ausnahmslos jeder Staat, der solche Waffen einsetzt, Ächtung erfahren”, fordert Karayılan.

Leichen von sechs Gefallenen noch immer im Tunnel am Girê Sor

Die Vorwürfe über den Einsatz chemischer Kampfstoffe in Südkurdistan zirkulieren praktisch seit Beginn der im April eingeleiteten Besatzungsoperation der türkischen Armee in den Regionen Avaşîn, Zap und Metîna. Karayılan, der auch zum Exekutivrat der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gehört, sprach von Videos und Fotos, anhand derer eindeutig bestätigt werden könne, dass Ankara gegen völkerrechtliche Übereinkommen über Chemiewaffen verstößt. Seit einigen Wochen setze das türkische Militär neue chemische Kampfmittel ein, die deutlich stärker als bisher verwendete seien. Nach HPG-Angaben führten sie bei Kontakt zu Hautrötungen und langsamer Zersetzung des menschlichen Körpers. „Die Leichen von sechs Kämpferinnen und Kämpfern beispielsweise, die durch den Einsatz dieser Waffen gefallen sind, befinden sich noch immer in der unterirdischen Tunnelanlage in dem Teil vom Girê Sor, das in Nordkurdistan liegt. Zwar haben wir alle unsere Kräfte von dort abgezogen, eingenommen wurde der Tunnel von den türkischen Truppen bisher aber nicht”, so Karayılan. Das liege daran, dass in dem Gang noch frische Spuren von geächteten Waffen zu finden seien. Der Gipfel Girê Sor liegt im Grenzgebiet, bis zur türkischen Militärbasis Sivritepe in Çelê (tr. Çukurca) ist es knapp einen Kilometer. Die Grenze verläuft praktisch über die Mitte des Gipfels, sodass ein Teil im Norden und ein Teil im Süden Kurdistans liegt.

Keine Hindernisse für Untersuchungen vor Ort

„Wir fordern internationale Organisationen auf, ihre Inspektionsteams für Untersuchungen vor Ort in die Region zu entsenden. Zugang zu den Orten, wo Chemiewaffen eingesetzt worden sind, gibt es auch über die Guerillagebiete sowie solche unter Kontrolle der PDK“, so Karayılan. Das Argument, die PKK sei Kriegspartei in dem Konflikt und daher möglicherweise „unglaubwürdig“, dürfe als Verweigerung einer Aufklärung von Chemiewaffenangriffen nicht gelten, ebenso die örtlichen Gegebenheiten. „Auf der einen Seite der Gebiete, in denen chemische Waffen eingesetzt wurden, befinden sich die Truppen der PDK. Alle Mächte der Welt unterhalten Beziehungen zu ihr. Die Region Kurdistan hat offiziell einen föderalen Status und eine eigene Regierung. Daher gibt es für diese Institutionen kein Hindernis, vor Ort Untersuchungen durchzuführen”, erklärte Karayılan.

Einsatz von Massenvernichtungswaffen muss Konsequenzen haben

Um die Wahrheit über die Chemiewaffenangriffe der Türkei in Südkurdistan und das ganze Ausmaß herauszufinden, seien unabhängige Untersuchungen unabdingbar. „Der türkische Staat verstößt auf dem Gebiet Kurdistans gegen alle internationalen Konventionen und begeht weiterhin Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wegducken ist keine Option, schweigen erst recht nicht”, so Karayılan. Es dürfe nicht sein, dass der Einsatz von Massenvernichtungswaffen keine Konsequenz hat.