Karayılan: Die türkische Armee ist festgefahren

Trotz NATO-Unterstützung steckt die türkische Armee bei ihrer Invasion in Südkurdistan in einer Sackgasse. Murat Karayılan sagt, dem Staat werde nichts anderes übrigbleiben, als seine Niederlage zuzugeben: „Die Guerilla ist in allen Gebieten erfolgreich.“

Nach Angaben von Murat Karayılan aus dem Exekutivrat der PKK ist die türkische Armee in Südkurdistan völlig festgefahren. „Seit dreieinhalb Monaten gelingt es dem Feind nicht, unter größtem Einsatz von Technik und schmutzigen Kriegsmethoden gegen uns vorzurücken. Das ist keine gewöhnliche Situation. Trotz eines ganzen Spektrums an Mitteln, die dem türkischen Staat von der NATO zur Verfügung gestellt werden, steckt die türkische Armee in den Regionen, in die sie mit dem Ziel einer Besatzung eingedrungen ist, in einer Sackgasse. Sie ist faktisch besiegt. Die derzeitige Lage des türkischen Staates in Avaşîn, Metîna und Zap ist verheerender als bei der Schlappe in Gare. Die dortige Niederlage wurde offen und schnell eingeräumt. Zum Desaster in den anderen Gebieten wollte man sich bisher nicht bekennen. Ihnen [dem Staat] wird aber nichts anderes übrigbleiben, als die Niederlage zuzugeben. Denn die Guerilla ist in allen Gebieten erfolgreich. Der Feind kann keine Ergebnisse erzielen“, sagte Murat Karayılan gegenüber ANF.

„Der Wille des Menschen kann erfolgreicher sein als Technologie“

Ankara habe die Invasion mit der Intention begonnen, dass die Guerilla „keine zehn Tage einer Kriegstechnik in dieser Dimension“ standhalten könne, führte Karayılan weiter aus. Wenige kleinere Erfolge in manchen Gebieten hätten bei der türkischen Armee zu übereiligen oder verfrühten Siegesfeiern geführt, die sich offensichtlich kontraproduktiv auswirkten. „So stößt man sich eben die Hörner ab. Es ist keine leichte Sache, gegen uns Krieg zu führen. Es ist ein Wille, dem die türkische Armee gegenübersteht. Es ist der Wille der selbstlosen Kraft des kurdischen Volkes. Deshalb kann die Armee nicht einfach irgendwo eindringen und Gebiete besetzen, wo sie es gerade möchte. Es ist bedeutungslos, sich auf seine Kriegstechnologie zu verlassen, wenn einem die Freiheitsguerilla Kurdistans und der starke Wille des kurdischen Volkes gegenüberstehen. Wir betrachten diesen Erfolg als Errungenschaft aller Völker Kurdistans. Dieser Kampf wird nicht nur von Kurdinnen und Kurden ausgefochten, ihm gehören viele Nationen an. Daher ist unser Widerstand gleichzeitig auch ein internationalistischer Kampf. Der Erfolg gilt daher nicht nur dem kurdischen Volk, sondern allen Unterdrückten, Ausgebeuteten und Verfolgten, die Frieden und Freiheit wollen. Unser Sieg ist das eindrucksvollste Beispiel dafür, dass der Wille und die Kraft des Menschen wirksamer sein können als hochentwickelte Technologie.“

Eine Lagekarte zeigt die militärische Situation in Südkurdistan (ab 14:55, gelb: Guerilla, rot: Besatzer) 

Keine Mitschuld für die Waldbrände in der Türkei

Das allgemein gültige Konzept der Türkei seit der Staatsgründung sei es, die kurdische Gesellschaft „dezimierend zu vernichten“, erklärte Karayılan. „Die Offensive vom 15. August 1984, dem Zeitpunkt der Aufnahme des bewaffneten Kampfes der PKK, hat diese Strategie ins Leere laufen lassen.“ Nachdem der türkische Staat 2015 den Krieg gegen die Kurdinnen und Kurden erneut eskaliert hat, sei in Ankara – auch durch die NATO-Unterstützung – die Hoffnung aufgekeimt, mittels hochentwickelter Kriegstechnologie Erfolge gegen die Guerilla zu erzielen. „Bis an die Zähne bewaffnet greifen sie seit sechs Jahren erfolglos an. Ihr Versagen trotz aller ihnen zur Verfügung stehenden Mittel hat nun dazu geführt, dass die schmutzigen Methoden der 90er Jahre wieder aufgegriffen werden. Damals ‚verschwanden‘ Menschen, heute werden sie in aller Öffentlichkeit getötet. Der Mord an Deniz Poyraz oder das Massaker von Konya sind Beispiele aus der jüngeren Zeit. Die Täter sind keine gewöhnlichen Leute, sondern explizit vom Faschismus herangebildet worden. Der türkische Staat steht mittlerweile an einem Punkt, seine Probleme durch solche Massaker zu bewältigen. Es soll ein Klima der ständigen Angst und Bedrohung in der Bevölkerung geschaffen werden. In der letzten Zeit haben sich nicht nur in Izmir und Konya, sondern auch in vielen anderen Orten antikurdische Lynchmorde und Übergriffe zugetragen. Diese Attacken sind Bestandteil einer chauvinistischen Angriffswelle, deren Schöpfer Erdoğan und Bahçeli persönlich sind. Dass wir als Verantwortliche für die Waldbrände im Westen der Türkei gebrandmarkt werden, reiht sich ein in diese Kette fortlaufender Angriffe. Weder als Bewegung noch als Volk tragen wir in irgendeiner Weise eine Mitschuld an den verheerenden Feuerstürmen. Was die Brände in Kurdistan betrifft, so wissen wir, dass der türkische Staat der Brandstifter ist. Er weiß um seine Schuld bezüglich unserer vernichteten Wälder, deshalb stellt er uns an den Pranger.“

Die türkische Armee verheimlicht Verluste

Die türkische Armee verheimlicht seit Jahren ihre wahren Verluste im Kampf gegen die PKK. Auch jetzt wieder wird die Öffentlichkeit im Unklaren über das ganze Ausmaß des Misserfolgs der sogenannten „Aufstandsbekämpfung“ gelassen, ob in Südkurdistan oder im Norden. „Dagegen werden unsere Verluste massiv hoch retuschiert und erfolgreiche Aktionen unserer Kräfte medial totgeschwiegen“, hob Karayılan hervor und verwies auf eine Reihe von Guerillaangriffen, die für die türkische Armee höchst verlustreich endeten. „Da wäre beispielsweise die Sabotage vor einer Militärwache am 27. Juli in Gever zu benennen, bei der sechs Soldaten getötet wurden. Oder die Aktion vom 30. Juli bei der Militärkaserne Amutka in Xozat/Dersim. Ebenfalls in Xozat sind am 5. August Soldaten einer verdeckten Einheit im Gelände der Wache Çakmaklı getroffen worden. All diese Aktionen führten zu einer erheblichen Zahl an Toten und Verletzten in den Reihen der türkischen Armee, die mittels Hubschrauber aus den Kampfgebieten evakuiert werden mussten. Aber die Aufmerksamkeit der Medien erreichten diese Todesfälle nicht. Auch die Aktion am 7. August in Şax mit zehn toten Soldaten wurde von den türkischen Medien nicht aufgegriffen.“

Die Lügen des Innenministers

Als Ursache dieser medialen Ignoranz gegenüber den militärischen Verlusten bei Guerillaaktionen sieht Karayılan eine „beharrliche und schamlose Lüge” des türkischen Innenministers Süleyman Soylu: „Seit vier Jahren behauptet dieser Minister, die PKK im Norden von der Bildfläche ausradiert zu haben. Da ist es nur natürlich, dass die schweren Schläge der Guerilla in Nordkurdistan vollkommen ausgeblendet werden. Wenn die Regierung ihre Verluste eingestehen würde, würden zwangsläufig Stimmen aus der Bevölkerung laut werden. Die Menschen würden Rechenschaft einfordern und wissen wollen, wie es zu Verlusten kommen kann, wenn die PKK doch wie behauptet vernichtet wäre. Seit Jahren heißt es schon, es seien nur noch 200 von unseren Leuten übrig. Wenn junge Menschen, die sich der Guerilla anschließen wollen, sich etwas dilettantisch anstellen und durch Unvorsichtigkeit vom Geheimdienst noch vor Erreichen unserer Reihen aufgespürt werden, wird behauptet, der Staat habe Anschlüsse an die PKK erfolgreich gestoppt. Dazu werden dann Zahlen genannt. Zusammengefasst will ich damit sagen, dass sie [der Staat] alles nach ihren eigenen Vorstellungen und Wünschen gestalten. Da sie die Zügel bei den Medien ziehen, wird nur das propagiert, was sie absegnen. Im Ergebnis ist diese Situation der Beweis dafür, dass das AKP/MHP-Regime am Ende seiner Existenz steht. Gleichzeitig steht auch der Zusammenbruch der Kolonialpolitik gegenüber Kurdistan unmittelbar bevor.”

Kein einziges Argument für eine Invasion

„Gibt es eine konkrete Grundlage oder ein Argument für die Behauptung, die PKK sei die Ursache für die Besatzungsangriffe der Türkei in Südkurdistan? Gibt es dazu Belege? Außer den Verlautbarungen des türkischen Staates gibt es kein einziges Argument für eine Invasion. Demgegenüber gibt es eine Vielzahl von Argumenten, die das Gegenteil der Behauptungen des türkischen Staates beweisen. Was für ein Konzept steckt beispielsweise dahinter, das Bündnis aus AKP, MHP und Ergenekon mit der Vatan Partisi [VP, dt.: Vaterlandspartei] an einem Tisch zu vereinen? Wenn wir uns das Wesen dieser Partnerschaft ansehen, wird deutlich, dass es nicht nur um die PKK geht, sondern um die Errungenschaften des gesamten kurdischen Volkes. Das Gefährlichste für sie ist das kurdische Volk, das Freiheit und einen Status verlangt. Erdoğan etwa hatte es eigentlich klar und deutlich formuliert mit dem Satz: ‚Im Fall des Nordiraks haben wir seinerzeit geschwiegen, nun haben sie [die Kurden] dort einen Status. In Nordsyrien werden wir nicht denselben Fehler machen.‘ Neu ist das nicht. Erdoğan sagt das ja öfter.“

Wie türkische Nationalisten den Lausanner Vertrag interpretieren

Karayılan erinnerte im weiteren Verlauf des Interviews an eine kürzlich in Şirnex (tr. Şırnak) getätigte Äußerung von Soylu, der erklärte, „guter Hoffnung“ zu sein, schon bald von türkischem Staatsgebiet aus „zu Fuß nach Syrien oder in den Irak“ zu gelangen. Hierbei handele es sich nicht um eine Randbemerkung oder versehentlich gemachte Aussage, meint Karayılan: „Es scheint, dass er dieses Thema aktuell halten möchte. Denn unmittelbar nach dieser Äußerung wiederholte Soylu seine Worte im besetzten Efrîn.“ Hinzu käme die andauernde Infragestellung des Vertrags von Lausanne durch die Regierung und die Propagierung von völkerrechtlichen Offenbarungen oder Souveränitätserlebnissen für 2023 – hundert Jahre nach dem Abkommen, der die Staatsgrenzen der Türkei festlegte und zur Vierteilung Kurdistans führte. Dass insbesondere „nationalistische, chauvinistische Kräfte“ beharrlich ihre Interpretation, der Lausanner Vertrag laufe nach hundert Jahren aus, auf der Tagesordnung hielten, sei ebenfalls ein Anzeichen dafür, dass die türkische Besatzung auf ganz Kurdistan ausgeweitet werden soll. Im selben Kontext müsste auch die Tatsache bewertet werden, dass die Türkei weiterhin die Militärbasis Baschiqa (ku. Başîqa) nordöstlich von Mossul unterhält, die 2015 ohne Genehmigung von Bagdad hochgezogen wurde. Ankara macht keinen Hehl aus ihrem besonderen Interesse an der Millionenstadt, die bis zur Gründung des Irak 1920 Teil des Osmanischen Reiches war.

PKK größtes Hindernis bei neo-osmanischen Expansionszielen

„Man muss politisch blind sein, um diese Berechnungen zu übersehen”, so Karayılan. Die türkische Führung setze Schritte, ihre neo-osmanischen Expansionsziele zu verwirklichen und die Staatsgrenzen um die alten osmanischen Gouvernements zu erweitern. „Als größtes Hindernis vor diesen Plänen ist die PKK identifiziert worden. Mit der Argumentation uns zu bekämpfen, besetzt der türkische Staat sukzessive fremdes Territorium. Doch würde es uns nicht geben, wäre es für den türkischen Staat ein Einfaches, eine andere Rechtfertigung für ihr Neo-Osmanentum zu konstruieren. Im Fall von Zypern waren es schließlich erstunken und erlogene Vorwände für die völkerrechtlich nicht legitimierbare Invasion der Insel. Es hieß, den türkischen Zypriot:innen würde Unrecht getan. Dieselbe Argumentation könnte bereits bald für die Turkmen:innen in Kerkûk gelten. Kurz vor dem Überfall würde es dann heißen, die turkmenische Bevölkerung von Kerkûk werde unterdrückt. Doch momentan stellt für den türkischen Staat die PKK weiterhin die beste Legitimation für die expansionistische Kriegspolitik dar.“

Laut Karayılan sei nicht die Existenz der PKK der Grund, dass der türkische Staat das kurdische Volk angreift, sondern der Umstand, dass der türkische Staat Kurdinnen und Kurden angreift, sei der Grund der Existenz der PKK. „Wir bestanden zu keinem Zeitpunkt auf einer militärischen Lösung.  Es ist der türkische Staat, der uns den bewaffneten Kampf aufzwingt. Er ließ uns keinen anderen Weg.“

Das vollständige Interview kann in zwei Videos eingesehen werden.

*Die am 23. April begonnene Invasion dauert mit heutigem Datum den 118. Tag in Folge an. Das Interview mit Murat Karayılan wurde am 13. August aufgezeichnet.