Die türkischen Angriffe auf die Medya-Verteidigungsgebiete in der Nacht vom 23. auf 24. April sind zu einer Schicksalsfrage für das AKP/MHP-Regime geworden. Die türkische Armee steckt fest und versucht, um jeden Preis noch einen Sieg zu erringen. Dabei stellen chemische Waffen die Grundlage der türkischen Kriegsführung im Jahr 2021 dar. Obwohl die türkische Armee alles einsetzte, gelang es ihr nicht, den Guerillawiderstand zu brechen. Die Versuche der türkischen Armee, die Invasion in eine Besatzung zu verwandeln, werden von einer massiven Zerstörung der Natur begleitet.
Naturzerstörung und Vertreibungen
Nach ANF-Quellen in der Region hat die türkische Armee bis zum Ende des Sommers mindestens 84 Brände ausgelöst. Darüber hinaus wurde die Bevölkerung aus 47 Dörfern vertrieben, die Bäume in der Umgebung von 60 Dörfern gefällt und Hunderte Hektar landwirtschaftliche Fläche verbrannt oder anderweitig geschädigt.
Die Wälder mit ihren Millionen von verschiedenen Lebensformen wurden mit Phosphorbomben und Brandbeschleunigern in Asche verwandelt. Das Schweigen der Weltöffentlichkeit stellt bei diesen Verbrechen eine Form der Komplizenschaft dar, wie sie sich am deutlichsten beim Einsatz von Chemiewaffen zeigte.
323 Chemiewaffeneinsätze durch die türkische Armee
Am 24. Oktober veröffentlichten die Volksverteidigungskräfte (HPG) eine Sechsmonatsbilanz des Kriegs um Metîna, Avaşîn und Zap, in der von 323 Chemiewaffenangriffen durch das türkische Militär die Rede war. Die türkischen Truppen variierten nach jedem erfolglosen Versuch die Menge und Art der verwendeten Gase. Überlebende Kämpfer:innen der HPG und der Frauenguerilla YJA Star teilten in einer am 16. Oktober bei ANF veröffentlichten Erklärung wichtige Informationen über die eingesetzten chemische Waffen mit.
Giftgas, das nach Zucker schmeckt
Der Girê Sor liegt direkt an der türkischen Grenze. Als es der türkischen Armee nicht gelang, das Gebiet einzunehmen, griff diese zu neuen chemischen Waffen. Am 3. September 2021 wurde eine neue Art von Gasbombe eingesetzt, durch die sechs Kämpfer:innen ums Leben kamen. Eine der drei Guerillakämpfer:innen, die sich in den Kriegstunneln vor dem Angriff retten konnte, war Mizgîn Dalaho von der YJA Star. Sie berichtete über die neu eingesetzte Waffe: „Der türkische Staat hat alles, was im Krieg verboten ist, gegen uns eingesetzt. Ein wichtiges Mittel waren Sprengstoffe, mit deren Hilfe Gift- oder Pfeffergas verbreitet wurden. Der Feind hat keinen einzigen unserer Freund:innen erschossen. Wir haben nie von Angesicht zu Angesicht mit ihm gekämpft. Die Gase, die der türkische Staat gegen uns einsetzte, unterschieden sich vor allem im Geruch. Manchmal wurde Pfeffergas genutzt, manchmal andere Gase. Das erste Gas, das sie verwendeten, war grün und hinterließ einen Geschmack von Zucker im Mund. Es roch wie verbrannter Zucker. Es roch sehr gut. Die Gase rochen und schmeckten gut, so sollten wir uns nicht vom Geruch gestört fühlen, sondern sie tief inhalieren.
Das Gas, durch das Heval Baz fiel (Baz Gever - Fırat Şahin), roch wie Waschwasser. Es hatte eine Langzeitwirkung. Deshalb fiel Heval Baz nicht sofort, sondern einen Tag später. Einen Tag lang lief Heval Baz gelber Schaum aus dem Mund, dann starb er. Sie benutzten zwischenzeitlich verschiedene Gase. Die meisten der Gase waren grau bis weiß.“
Das Giftgas greift Hirn und Nerven an
Armanc Simko, ein weiterer Guerillakämpfer berichtete, dass das neueste Giftgas, das eingesetzt werde, sehr schnell auf Menschen wirke. Er führte aus: „Dieses Gas wirkt in sehr kurzer Zeit auf den Körper, die Betroffenen werden sofort ohnmächtig und fallen um, wenn sie es einatmen. Diejenigen, die viel davon einatmen, sterben. Sechs Freund:innen in den Tunneln sind durch dieses Gas gefallen. Ich hatte nur sehr wenig von dem Gas eingeatmet, aber ich konnte mich vier Stunden lang nicht bewegen. Meiner Meinung nach greift dieses Gas direkte das Nervensystem und das Hirn an. Es tötet das Gehirn. Deshalb kommt es zu Gedächtnisverlusten. Es ist zwei Monate her, aber ich spüre immer noch den Effekt. Ich vergesse viele Dinge und ich kann meine Körperreflexe immer noch nicht kontrollieren.“
Eine weitere Kämpferin, die als Überlebende von einem Chemiewaffeneinsatz berichtet, ist Tekoşîn Devrim. Sie erzählte: „Wir waren auf Wache, als sie das Gas, durch das die Freund:innen am 3. September fielen, einsetzten. Obwohl unsere Tunnel sehr lang waren, spürten wir plötzlich einen sehr heftigen Druck. Wenige Minuten später war der Tunnel mit Gas gefüllt. Obwohl unsere Tunnel sehr lang sind, waren sie voller Gas. Dieses Gas hatte keinen guten Geruch wie die anderen, es roch schrecklich, kaum zu ertragen. Ich war in dem Tunnel hingefallen und hatte so viel eingeatmet, dass ich mich fühlte, als ob ich meinen letzten Atemzug getan hätte. Ich war am Ersticken. Die Freund:innen kamen und beatmeten mich, so kam ich zu mir. Die Freund:innen sind in den Tunneln gefallen. Ihre Leichen waren rot und lila angelaufen. Es war offensichtlich, dass sie erstickt waren.“
Die türkische Armee setzte fünf verschiedene chemische Waffentypen ein
In einem am 28. November auf ANF veröffentlichten Interview beschreibt das PKK Exekutivratsmitglied Murat Karayılan die unterschiedlichen Arten von Giftgas, die eingesetzt wurden. Es wurden fünf verschiedene Arten von Giftgas festgestellt.
Tabun: Von den Nazis bis nach Helebce
Bei einem der Kampfstoffe handelt es sich offensichtlich um ein Nervengift – Kampfstoffe, die darauf wirken, wie Nerven Signale an Muskeln und andere Nerven übermitteln. Die Betroffenen werden gelähmt, erleiden einen Atemstillstand und sterben. Karayılan berichtete in diesem Zusammenhang von einem geruchlosen, manchmal aber auch nach Früchten riechenden Kampfstoff. Er führte auf, dass es sich um einen Nervenkampfstoff auf der Grundlage von Tabun handele. Der Geruch nach Obst und die Symptome deuten ebenfalls darauf hin. Tabun wird über die Haut und die Atmung aufgenommen und blockiert Neurotransmitter. Symptome für den Einsatz sind Kopfschmerzen, Übelkeit mit Erbrechen und Durchfällen, Augenschmerzen, Müdigkeit, Krampfanfälle, Zittern, Zucken der Muskulatur, unkontrollierter Harn- und Stuhlabgang, Atemnot, Appetitlosigkeit, Angstzustände, Spannungen, Verwirrtheit, Bewusstlosigkeit. Der Tod tritt durch Atemlähmung ein. Selbst kleinste Mengen sind tödlich. Nur Ganzkörperschutzanzüge und Masken mit Atemfilter bieten Schutz, da jeder Teil des Körpers das Tabun aufnehmen kann.
Tabun wurde 1936 vom deutschen Chemiekonzern I.G. Farben entdeckt und ab 1942 bei der Wehrmacht eingesetzt. Tausende KZ-Häftlinge starben bei der Produktion. Nach dem Ende des Nazi-Faschismus übernahmen die USA und Großbritannien die Fertigung dieses Kampfstoffes. Tabun wurde 1988 von der irakischen Armee beim Giftgasangriff auf die südkurdische Stadt Helebce eingesetzt. Die Grundstoffe für Tabun waren unter anderem mit Wissen des BND an das Saddam-Regime geliefert worden.
Lungenkampfstoff Grünkreuz: Deutsche Lieferungen an Osmanisches Reich
Laut Karayılan hat die türkische Armee auch den Lungenkampfstoff Grünkreuz in ihren Beständen, der bei den Besatzungsoperationen gegen die Guerilla zum Einsatz komme. Grünkreuz beinhaltet Chlorpikrin als Wirkstoff. Chlorpikrin wurde zwar bereits 1848 in Großbritannien entdeckt, von Deutschland aber zuerst in einer Wirkstoffkombination im Kampfstoff Grünkreuz-1 eingesetzt. Das Osmanische Reich war im Ersten Weltkrieg mit Deutschland eng verbündet und wurde mit Grünkreuz-1 beliefert. Karayılan sagte: „Seitdem befindet sich das Gas in den Händen der Türkei. Vielleicht produziert die Türkei es jetzt eigenständig, aber natürlich besteht die Möglichkeit, dass sie es gemeinsam mit den Deutschen tut.“ Chlorpikrin verbrennt die Haut und führt zu Augenreizungen und der Ausbildung eines Lungenödems. Es verursacht Atemnot, schaumig-roten Auswurf und Angstzustände. Bereits 0,12 Gramm pro Quadratmeter Luft sind lebensgefährlich. Eine Filtermaske kann für begrenzte Zeit Schutz bieten.
Hautkampfstoff Gelbkreuz: Vom deutschen Kriegseinsatz über Dersim-Genozid bis zum IS
Bei einem weiteren in Südkurdistan eingesetzten Kampfstoff soll es sich laut Karayılan um einen gelblichen Hautkampfstoff handeln. Das Gas verbrennt die Haut. Es wird vermutet, dass es sogenanntes Senfgas sein könnte, auch als Gelbkreuz bekannt, und ebenfalls ein Produkt aus dem deutschen Giftgaskrieg im Ersten Weltkrieg. Senfgas gehört zur Gruppe der Loste. Der Name kommt von den beiden deutschen Chemikern Wilhelm Lommel und Wilhelm Steinkopf, die 1916 vorschlugen, Senfgas als Kampfstoff einzusetzen. Er setzt sich aus den Buchstaben der Namen der beiden Chemiker zusammen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Senfgas 1925 unter Mitwirkung des deutschen Chemikers Hugo Stoltzenberg großflächig gegen Kabylen eingesetzt, die sich in Marokko gegen die spanische Vorherrschaft wehrten.
Am 3. Oktober 1935 setzte Mussolini im Kolonialkrieg gegen Äthiopien ebenfalls Senfgas ein. Der Kampfstoff wurde gegen äthiopische Soldaten und gegen die Zivilbevölkerung benutzt und führte zu einem Massenmord. Auch landwirtschaftliche Anbauflächen wurden mit Senfgas kontaminiert und ganze Dörfer eingeäschert. Senfgas wurde an vielen weiteren Orten eingesetzt.
So spricht vieles für einen Senfgaseinsatz im Dersim-Genozid 1937/38, als Mustafa Kemal Atatürk tausende alevitische Kurd:innen in Höhlen vergasen ließ.
Ende Juli 2015 feuerte der vom türkischen Staat hochgerüstete sogenannte Islamische Staat (IS) mehrere Mörsergranaten auf Stellungen der Volksverteidigungseinheiten (YPG) in der Nähe von Hesekê ab. In einer von den YPG nach dem Angriff veröffentlichten Erklärung wurde beschrieben, dass die Explosionen „ein gelbes Gas mit starkem Zwiebelgeruch“ freigesetzt hätten und dass „der Boden in unmittelbarer Nähe der Einschlagstellen mit einer olivgrünen Flüssigkeit bedeckt war, die sich bei Sonneneinstrahlung goldgelb verfärbte“. US-Vertreter bestätigten später, dass Proben, die am Ort des Angriffs entnommen wurden, positiv auf eine geringe Menge Senfgas in niedriger Konzentration getestet wurden. Senfgasangriffe des IS wurden in der Folgezeit auch aus dem Irak und Südkurdistan gemeldet.
Im Mai 2019 waren bisher unbekannte Dokumente aus dem türkischen Staatsarchiv veröffentlicht worden, die zeigten, dass der „Vater der Türken“ am 7. August 1937 ein geheimes Dekret zur Bestellung von 20 Tonnen chemischer Kampfstoffe und einer automatischen Abfüllanlage in Deutschland unterzeichnet hatte. Bei den über die türkische Botschaft in Berlin eingekauften Kampfstoffen handelte es sich um Gelbkreuz/Senfgas und Chloracetophenon, einem dem CS-Gas ähnlichen Stoff.
Unbekanntes Schlafgas
„Ein anderes Gas, das die Besatzer verwenden, macht die davon Betroffenen träge, verursacht Gedächtnisverlust und lässt sie kollabieren. Der Mensch ist bewegungsunfähig und zeitweise gelähmt“, beschreibt Karayılan die unbekannte Chemikalie. Dieses Gas sei am Kartal-Gipfel und anderen Orten eingesetzt worden, konnte bisher aber nicht identifiziert werden. Die beschriebenen Wirkungen deuten jedoch auf ein Narkotikum hin.
So setzten russische Spezialkräfte im Oktober 2002 ein Gas auf der Basis von Fentamyl-Derivaten zur Beendigung einer Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater ein. Dabei kamen 128 Menschen ums Leben. Präsident Wladimir Putin sprach damals von einer „neuen Waffe“, sein Gesundheitsminister Yuri Schewchenko erklärte, es seien „unter anderem“ Derivate des Narkosemittels Fentanyl verwendet worden. Dies wäre der erste bekannte Fall des Einsatzes von Narkosemitteln als Waffe gewesen. Mittel wie diese sind ebenfalls nach der Chemiewaffenkonvention verboten.
Tränengas: Verboten im Kriegseinsatz
Darüber hinaus wird offensichtlich CS-Gas gegen die Kriegstunnel der Guerilla eingesetzt. In geschlossenen Räumen ist Tränengas häufig tödlich. Außerdem ist die Benutzung im Kriegseinsatz ebenfalls untersagt. Die Türkei hat sich in der Vergangenheit mehrfach mit großkalibrigen CS-Gas-Granaten auf Waffenmessen präsentiert. Dennoch schweigt die internationale Gemeinschaft zum Einsatz der Chemiewaffen durch die Türkei.